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(picture alliance) Ausdruck von Grauen und Dummheit im Fernsehen: Florian Silbereisen

TV-Serien - Deutsches Fernsehen macht dumm

Wer deutsches Fernsehen schaut, wird dumm, meint Kolumnist Robin Detje. Dabei beweisen kluge Fernsehserien wie „The Wire“, dass Intelligenz nicht absatzschädigend sein muss

Heute geht es um die Frage: Gibt es intelligentes Leben im Fernsehen? Man muss sie differenziert beantworten: In Deutschland eher nicht, in den USA eher doch. Komisch, wir Deutschen machen uns so gerne über die Dummheit der Amerikaner lustig. Dabei ist dort, anders als bei uns, in der Unterhaltungsindustrie Intellektualität erlaubt. Intelligenz gilt nicht als absatzschädigend. Nur beim deutschen Fernsehen lautet das Gesetz: Was noch nicht doof ist, wird doof gemacht.

Die US-amerikanische Kabelfernsehserie „The Wire“ aus den Jahren 2002 bis 2008 gehört zu den ersten großen Kunstwerken des 21. Jahrhunderts. (Staffel 1-3 auf DVD bei Warner Home Video; zwischen 10 und 35 Euro; Box mit allen fünf Staffeln von HBO Video, nur auf Englisch, circa 100 Euro.) Getaggt unter: Später Höhepunkt des Naturalismus, Gesellschaftspanorama, Honoré de Balzac. Ein Racheakt gestandener Reporter und Polizisten an einem System, das sie ausgestoßen hat: Sie wollten mit der Wirklichkeit umgehen. Aber die Gesellschaft wollte nichts mehr von der Wirklichkeit wissen. Also schlugen sie dieser Gesellschaft eine Fernsehserie um die Ohren und führten uns vor, was mit uns passiert, wenn wir uns der Wirklichkeit verweigern und uns stattdessen in potemkinschen Dörfern einbunkern: Wir verrotten.
Die Heroinsüchtigen in den Abbruchhäusern der Stadt Baltimore, an deren Leid sich diese Serie entzündet, verrotten buchstäblich.

Rundherum sind es dann eher die Strukturen, die zu verrottet sind, ihnen zu helfen: Die Polizei soll lieber Statistiken frisieren, damit die Politiker besser dastehen, anstatt die Verbrechen an der Wurzel zu bekämpfen. Die Lehrer sollen den Schülern Testfragen einbläuen, damit die Schule besser dasteht, anstatt die Schutzbefohlenen fürs Leben stark zu machen. Die Journalisten sollen lieber kitschige Geschichten für die Pulitzer-Preis-Jury erfinden, mit denen die Zeitungen sich selbst inszenieren, anstatt ihren Kontrollauftrag zu erfüllen. Staffel für Staffel zeigt „The Wire“, dass bei uns – denn Baltimore ist überall – das Funktionieren der Institutionen nur noch eine hohle Behauptung ist. Und wenn es Probleme gibt, engagieren wir einen neuen PR-Berater, der sie wegredet, anstatt sie zu lösen. Es geht um die Dummheit selbst, eine zerstörerische Dummheit, erzeugt von den von uns selbst geschaffenen Strukturen. Es geht sozusagen um die strukturelle Gewalt der Dummheit. Und um die Menschen, die sich an unserer Dummheit bereichern.

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Auch mit der Hilflosigkeit von bürokratisch erstarrten Fürsorgeeinrichtungen beschäftigt sich die Fernsehserie „The Wire“. Zu den Vorarbeiten der Autoren der Serie, David Simon und Ed Burns, gehörte die Großreportage „The Corner“ aus dem Jahr 1997. (David Simon, Ed Burns: „The Corner. Bericht aus dem dunklen Herzen der amerikanischen Stadt“; Kunstmann-Verlag, München 2012; 800 Seiten, 24,95 Euro.) Das jetzt von einer unüberschaubaren Anzahl von Übersetzern sehr souverän ins Deutsche gebrachte Buch ist das Werk einer anderen Art von Fürsorge. Ein Jahr haben Simon und Burns, wie sie schreiben, an einer Straßenecke in einem Drogenviertel von Baltimore zugebracht, bis sie dort jede Menschenseele kannten. Man fürchtet sich beim Lesen ein wenig vor dem Kitsch, den die journalistische Pseudofiktionalisierung des Lebens wirklicher Menschen so leicht erzeugt. Aber die Autoren begegnen dieser Angst mit einer Gründlichkeit und Beharrlichkeit, der man nicht leicht entkommt. Sie lassen nicht nach, bis ihre Botschaft eisklar ist: Es ist das kleine Leben kleiner Menschen, dem die Fürsorge der Institutionen gelten sollte und an dem sie schändlich scheitern. Und der „Krieg gegen die Drogen“, den die USA führen, löst keine Probleme; er dient als Deckmantel für schmutzige Geschäfte. Das Buch ist eine Ehrenrettung des Journalismus, so wie „The Wire“ zur Ehrenrettung des Fernsehens werden sollte.

Der Diaphanes-Verlag hat eine neue Buchreihe aufgelegt, sogenannte „Booklets“, um die hundert Seiten dünn, die Qualitätsfernsehserien behandeln. In den ersten drei Bänden geht es um „The Wire“, die „Sopranos“ und „The West Wing“. Fernsehabende mit Fußnoten sozusagen. Ein Brückenschlag zwischen Entertainment und Intelligenz. Ein schöner, in Deutschland ganz unüblicher Gedanke. Ist friedliche Koexistenz zwischen Fernsehen und Klugheit möglich? Der Verlag sagt Ja und schlägt zur Bekräftigung drei Mal zart mit dem Schuh aufs Rednerpult.

Simon Rothöhler gelingt der schönste Band. (Simon Rothöhler: „The West Wing“; ­Diaphanes, Berlin 2012; 96 Seiten, 10 Euro.) Er schreibt allerdings auch über die schwächste, angreifbarste Serie, was ihm eine kritische Distanz erlaubt, aus der sich Funken schlagen lassen. Diedrich Diederichsens Zugang ist von fast schon altmeisterlicher Eleganz. (Diedrich ­Diederichsen: „The Sopranos“; Diaphanes, Berlin 2012; 112 Seiten, 10 Euro.) Und Daniel Eschkötter sieht man bei der Interpretationsarbeit am meisten schwitzen. (­Daniel Eschkötter: „The Wire“; Diaphanes, Berlin 2012; 96 Seiten, 10 Euro.) Aber „The Wire“ ist auch eine Serie, über die man eher 960 Seiten schreiben möchte als 96.

Manchmal kommen die Herren ins gemütliche Intellektualisieren, machen in Jargon und erinnern uns daran, dass man Intelligenz leider auch in Form eines höheren Fußballfanclubs für ältere Jungs organisieren kann. Und manchmal sitzen sie auch einfach nur auf dem Sofa und kratzen sich den Barthes. Aber wirklich nur manchmal und vergleichsweise selten. (Apropos Roland Barthes: Die „Mythen des Alltags“ aus den fünfziger Jahren, bahnbrechend für den geisteswissenschaftlichen Allinterpretationsanspruch und auf Deutsch lange nicht vollständig zu haben, gibt es jetzt auch als Taschenbuch im Suhrkamp-Verlag. Mit 34 Bonusmythen! Muss man lesen.)

Meistens funkeln diese drei Bände und bringen einen auf verbotene Gedanken: Wie wäre es, wenn diese Art von Intellektualität in Deutschland ganz selbstverständlich wäre? Wenn sich niemand mehr dafür schämen müsste, dass er oder sie Michel Foucault zitiert? Wenn man in Deutschland klug sein dürfte, ohne sich ständig dafür entschuldigen zu müssen? Und wenn irgendwann auch Frauen Diaphanes-Booklets schreiben dürften? Ach, eher wird Angela Merkel das Spardiktat für Europa aufheben, und das wird niemals geschehen. Seltsam, dass in Deutschland so viele Menschen Geisteswissenschaften studieren und dann brav die eigene Marginalisierung hinnehmen. Der Intellektualität fehlt bei uns das Selbstbewusstsein. Gibt es intelligentes Leben in Deutschland? Lassen die Strukturen es zu? Mit dieser Frage schalten wir wieder um zu Florian Silber­eisen und ­Slavoj Žižek. 

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