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Digitales Wörterbuch - Der Worte-Sammler

Wolfgang Klein sammelt mit seinem Team neue Wörter und präsentiert sie der Welt in einem digitalen Wörterbuch. Dort kann sich jeder anhören, wie sich die deutsche Sprache entwickelt

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Heine, Matthias

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Die Grammatik wird überschätzt. Zwar will Wolfgang Klein ganz gewiss nicht die Wichtigkeit eines Bauplans leugnen, nach dem Sätze und Texte der Sprache zusammengesetzt werden. Aber der eigentliche Schauplatz der Sprachgeschichte, da ist sich der Linguist sicher, sind die Wörter. Denn diese sind es, die den Alltag der Menschen abbilden und die sich schnell wandeln müssen, wenn die Welt sich ändert: „Wenn jemand 100 000 Wörter einer Sprache, sagen wir des Japanischen oder des Hindu, kennt, aber keine einzige grammatische Regel, dann wird ihm wahrscheinlich vieles entgehen, etwa die Feinheiten eines literarischen Textes, und so manches wird er überhaupt nicht verstehen, aber in der täglichen Praxis wird er gut durchkommen. Wenn einer aber alle morphologischen und syntaktischen Regeln einer Sprache kennt, jedoch kein einziges Wort, wird er nicht weit kommen.“

Bezeichnenderweise, sagt Klein, sei die Grammatik des Deutschen schon vor 1000 Jahren ziemlich komplett ausgeprägt gewesen, seitdem seien aber Hunderttausende neue Wörter dazugekommen. Wolfgang Kleins Amt ist es, diese Wörter zu katalogisieren und ihre Geschichte und Funktion zu erläutern. Der Professor ist Chef einer Gruppe von Forschern, die in der Berliner Akademie der Wissenschaften am Gendarmenmarkt das „Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache“ (DWDS) erstellt. Dieses faszinierende Nachschlagewerk soll den gesamten Wortschatz des Gegenwartsdeutschen durchleuchten. Es geht um die konkreten Fragen nach Aussprache und Bedeutung der Wörter und nach ihrem ersten Auftauchen am Horizont der Sprachhistorie. Und um viel mehr.

Das DWDS verbindet die Vorteile eines klassischen gedruckten Wörterbuchs mit den Möglichkeiten der digitalen Welt. So kann man sich die Wörter beispielsweise vorsprechen lassen oder in einer Wortwolke sehen, in welchen Zusammenhängen und Wortgruppen sie besonders häufig auftauchen. Sprachliebhaber können sich lustvoll Klick für Klick im Labyrinth der Informationen verlieren. Genau darum ging es Klein und seinen Mitarbeitern bei der Konzeption des DWDS: „Es soll die spielerische Neugier auf die eigene Sprache befriedigen.“

Seit Anfang November ist die Vollversion des DWDS online. Fast gleichzeitig ist zum Jahresende 2012 nach mehr als 160 Jahren in der Berliner Akademie die Arbeit am „Deutschen Wörterbuch“ von Jacob und Wilhelm Grimm eingestellt worden. Das DWDS soll den „Grimm“, jenes Denkmal der Germanistik, ersetzen, aber auch in sich aufnehmen.

Seite 2: „Ich habe gar keine Qualifikation”

Wolfgang Klein war nicht gerade der natürliche Kandidat für solch ein nationales Wortforschungsprojekt. Auf die Frage nach seiner Eignung für diesen Job antwortet er mit einer unbefangenen Freundlichkeit, die für den Wissenschaftsbetrieb nicht typisch ist: „Ich habe gar keine Qualifikation.“ Das ist natürlich Koketterie, denn immerhin hat der 67-Jährige in Saarbrücken sein Studium der Germanistik und Romanistik mit einer Promotion bei Hans Eggers abgeschlossen, einem legendären Lexikografen und Sprachhistoriker. Damals war er 24, und seine erste Stelle bekam er bei einem Projekt namens „Grunddeutsch“, das den Grundwortschatz des Deutschen klassifizierte.

In den Jahrzehnten danach beschäftigte er sich aber mit anderen Themen. Er ist Direktor am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik. Klein baute auch das Max-Planck-Instititut für empirische Ästhetik mit auf, das im Sommer 2012 in Frankfurt am Main gegründet wurde. Es soll mit wissenschaftlichen Methoden klären, warum Menschen beispielsweise Musik und Literatur je nach Kultur, Gesellschaft, historischer Zeit und Individuum als unterschiedlich schön empfinden.

Die dort bewiesenen Fähigkeiten qualifizierten Klein offenbar in den Augen der Berliner Akademie für die Leitung des DWDS. Als der damalige Akademiechef Dieter Simon ihn vor knapp zehn Jahren ansprach, dachte Klein erst, es ginge um eine bloße Mitarbeit. Doch dann wurde er gebeten, den Chefposten zu übernehmen. Er zögerte nicht lange. Denn sein Interesse an den Wörtern und ihrer Geschichte ist im Laufe seines akademischen Lebens immer weiter gewachsen. Und Wortgeschichte ist untrennbar verbunden mit Kulturgeschichte und Literaturgeschichte.

Derzeit ist Klein fasziniert von einem Phänomen, das sich mit den zahlreichen elektronisch erfassten Belegtexten, die die empirische Grundlage des DWDS bilden, gut darstellen lässt: In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wird das Wort „und“, das ebenso wie die Artikel „der, die, das“ eigentlich konstant häufig in deutschen Texten auftaucht, offenbar weniger gebraucht als heute und in der Zeit davor. Möglicherweise hat der expressionistische Nominalstil, der kurze unverbundene Sätze und Ausrufe liebte, Nachwirkungen in der Sprachmode und in Gebrauchstexten der Epoche gehabt.

Mithilfe des DWDS lassen sich solche Fragen künftig auf breiter Datenbasis klären. Und jedem Besitzer eines Computers werden die gleichen Informationen zur Verfügung stehen – er muss nicht mehr in der Nähe einer großen Bibliothek wohnen oder sich gar die notwendigen teuren Nachschlagewerke selbst anschaffen. Der viel beschworene demokratische Impuls des Internets wird hier einmal ganz greifbar. 

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