- Der Wind hat mir ein Lied erzählt
Gisela von Wysocki zeichnet bewegte Bilder einer ländlichen Kriegs-Kindheit im Zeichen der Unterhaltungsmusik. Memoir
Kindheiten sind voller Geheimnisse, deren Reiz bestehen bleibt, auch wenn man sie längst enträtselt hat. Die Gespenster der Kindheit prägen auch den Lebensentwurf des Erwachsenen. Gisela von Wysocki hat nun nach ihren Theaterstücken, Hörspielen, Porträts und Essays ein überraschendes, musikalisches und witziges Buch geschrieben. «Wir machen Musik» erzählt Szenen einer Kindheit. Das Kind darf wunderbar in seinem Phantasie-Radius verharren, aber die Erzählung wird immer wieder aufgebrochen als Komposition mehrerer Stimmen, auch die Zeitgenossin und die Schriftstellerin kommen zur Sprache. Der Mehrklang ist harmonisch so gefügt, dass die Leser über die Phantasien des Kindes herzlich lachen können, ohne von der Zeitgenossin belehrt oder von der Schriftstellerin irritiert zu werden.
Die éducation musicale wird leicht und spielerisch nachvollziehbar: Ein Kind wächst auf inmitten einer Welt der Unterhaltungsmusik, studiert Musikwissenschaft und lernt zu begreifen, wo die Grenzen verlaufen zwischen Konsum und Kunst, zwischen Liedern, die sich trällern lassen, und Arnold Schönbergs Zwölftonmusik. Der Weg dahin ist eine heitere Entführung in die Welt der Schallplattenproduktion von den zwanziger Jahren bis in die deutsche Nachkriegszeit. Das Kind, aufgewachsen in Kriegs- und Nachkriegszeiten, erlebt den Vater als Zauberer: Er zaubert beim Frühstück Eier aus dem Ärmel seines Jacketts und am Abend kommt er aus der Stadt Berlin nach Hause ins Osthavelland und zaubert aus seiner Aktentasche schwarze Scheiben hervor, in denen Musik steckt. Möglicherweise hat er die Musiker zauberisch in dieser Scheibe verschwinden lassen, denkt das Kind und bleibt misstrauisch, denn es selbst möchte auf keinen Fall zum Verschwinden gebracht werden.
Vom Vater-Zauberer zu Adorno
In diesem Zuhause, von dem wir erfahren, ist die ländliche Armut präsent, aber auch die Geschichten des Glamours: der Schauspieler, der Sänger, der Varietékünstler. Naziverbrechen und Kriegsgeschehen sind aufgesogen in die kindliche Vorstellung, dass hier Menschen zum Verschwinden verzaubert wurden. Die Ahnung von Flucht und Tod ist spürbar, aber die Musik weist den Weg in Unterhaltung und Leichtigkeit, die politisch gebraucht wurden, um von Brutalität und Grausamkeit abzulenken. Der Vater bediente die Unterhaltungsbranche und durfte dem Kriegsgeschehen fernbleiben. Die Droge hieß in diesen Jahren in den ODEON-Studios zum Beispiel «Ich tanze mit dir in den Himmel hinein», gesungen von Lilian Harvey und Willy Fritsch, sie hieß «Kann denn Liebe Sünde sein» mit Zarah Leander oder «Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami» mit Willi Forst.
«Wir machen Musik» ist aber auch ein politisches Buch, denn die Instrumente der Vertuschung und Ablenkungsmanöver intonieren ihr Lied: Das Naziregime brauchte die Ablenkung von Mord und Krieg. Das Kind beargwöhnt das Verschwinden von Menschen und ahnt etwas vom Zeitgeschehen. Und als es an den Sehnsuchtsort Berlin ziehen durfte, waren auch dort die Straßen nur noch Namen, Sprachbrücken in die Vergangenheit. Die Wirklichkeit dagegen lag in Trümmern. Gisela von Wysocki erzählt die Momente eines Kinderlebens meisterhaft witzig: durch die kalauernde, klingende Sprache der Liedertexte bis hinein in die besessene Lektüre der Bücher im elterlichen Bücherschrank, eines Lebens vom Geträller der Ohrwürmer bis zur Kunst, die zugleich fordert und herausfordert. Dieses Leben führt vom Vater-Zauberer zum nächsten Zauberer, Theodor W. Adorno, zu seiner Lehre von Musik und politischer Geschichte. Die Tochter wollte dem Vater auf seinem Feld begegnen, ihm gegenübertreten: konfrontativ – Musik unter anderen Vorzeichen. Sie bildete die Primärformation dieses erzählten Lebens, den Ort, in dem sich Bedeutungen stauten. Gisela von Wysocki packt die Musik jetzt in ihren Text – er singt und schreit und spielt und reißt die Leser mit. Lautes Lachen wird zur Begleitmusik bei der Lektüre.
Gisela von Wysocki Wir machen Musik
Suhrkamp, Berlin 2010. 258 S., 22,90 €
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