
Seit sich die Nachricht verbreitete, der Schriftsteller Antoine de Saint-Exupéry sei 1943 nicht in den Freitod geflogen, sondern von einem deutschen Flieger abgeschossen worden, erlebt der Autor eine Renaissance. Schriftsteller Martin Mosebach schreibt eine kritische Hommage
Der kleine Prinz“ säuselte sich zuerst durch Will Quadfliegs Luxusstimme in mein Leben; mir war, als sähe ich die Nüstern des berühmten Schauspielers beben, während er der preziösen Einfachheit des Textes den Trauersamt seiner Sprachkultur umlegte. Mit kokett schwerer Zunge gab er den „Trinker“, mit dünnem Hochmut den „König“, und er brachte es fertig, den „Kleinen Prinzen“ in engelhafter Unschuld zu sprechen und im selben Augenblick seine Engelhaftigkeit gleichsam atemlos zu bestaunen. Das war es vor allem, was sich mir atmosphärisch sehr eindringlich mitteilte, wenn ich an den „Kleinen Prinzen“ dachte, ein inneres Bild: ein starker, ja hünenhafter Mann, der sich andächtig über ein frisch geschlüpftes Küken im Nest seiner breiten Hände beugte.
Ich traf mit dieser Assoziation etwas Wahres. Der Autor des „Kleinen Prinzen“, der Comte de Saint-Exupéry, muss tatsächlich seine Zeitgenossen, vor allem die weiblichen, durch seine massive Virilität beeindruckt haben. Er war ein Naturbursche in ausgebeulten weiten Tweedanzügen, die man in den zwanziger Jahren „Oxford bags“ nannte, ein neusachlicher Technik-Romantiker, mit seinem Sportflugzeug in einem ähnlichen Liebesverhältnis verbunden wie Kara ben Nemsi mit seinem Araberhengst Rih; ganz sicher offenbarte auch dieses Flugzeug letzte Kraftreserven, wenn er ihm zärtlich ein Zauberwort in den Tacho flüsterte. Der koloniale Zugriff Frankreichs auf Nordafrika erhielt durch einen Saint-Exupéry die Stimmung donquichotesker Ritterlichkeit, wenn er die Saharaweiten einsam durchstreifte – Wüste, war das nicht Niemandsland? Vollkommen einsam war der wagemutige Sportsmann dabei nicht; die Kopiloten an seiner Seite haben ihm mehr als einmal das Hohelied vom guten Kameraden anstimmen lassen. Die Treue und Opferbereitschaft dieser Männer hat ihm gewiss sogar gelegentlich das Leben gerettet, denn der Graf wird als dilettantischer Pilot beschrieben, der häufig zu Boden ging, wenn er es eigentlich noch gar nicht wollte.
Der Dilettantismus war auch der mächtige Schutzherr seiner Zeichenkunst, mit der er eine der Primitiv-Ikonen des zwanzigsten Jahrhunderts schuf. Der kleine Prinz in seinem grünen Hosenanzug mit den Schlaghosen, dem pelzmützenartigen Blondschopf und der Nasenlosigkeit niedlicher Pokémon-Monster ist möglicherweise so berühmt wie die Micky-Maus; Frankreichs Abschied von einem der wichtigsten Abzeichen der Souveränität, dem Münzrecht, die letzte 50-Franc-Note vor dem Euro trug allen Ernstes das Bild des kleinen Selbstmörders.
Das Geheimnis des „kleinen Prinzen“ lautet: Wie macht man aus einem Millionenerfolg einen Milliardenerfolg? Vom Himmel gefallen, wie sein Autor behauptet, ist der „Kleine Prinz“ nämlich nicht. 1937 schon hatte der Jugendbuchautor Serge Dalens – nom de plume eines bretonischen Aristokraten – den ersten, sofort überwältigend erfolgreichen Band seiner Pfadfinder-Romane veröffentlicht, in deren Mittelpunkt der blonde und blauäugige, der skandinavische und katholische, der gegen den Bolschewismus und alles Böse kämpfende Prinz Erik steht. Prinz Erik ist Herrscher und zugleich Boyscout, sein makelloser Charakter entspricht seinem Teint aus Milch und Blut. Die Jugendbewegung lebte aus der Vision des herkunftslosen, elternlosen, niemals alternden Jünglings – ihre Gnosis hieß Jugend, ihre Ewigkeit war ein früher Tod, bevor Lust und Gold von der Seele Besitz ergreifen konnten. Prinz Erik war eine Identifikationsfigur im Frankreich der scheiternden Volksfront, nur trotz aller fantastischen Züge zu konkret politisch, um zum Helden beider Bürgerkriegsparteien werden zu können. Aber der Retter der Welt als blonder Prinz, das war gut, der Scoutismus traf den Lebensnerv von rechts und links. Und Religion war auch gut, aber bitte nicht orthodoxer Katholizismus mit Prinz Eriks Rosenkranz; und Opfertod war noch besser, aber bitte interessant asiatisch-atheistisch getönt. Nach den liturgischen Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils gelangte selbst diese aparte Mischung zur Ehre der Altäre, als in vielen Kirchen in der Messe anstelle des Evangeliums eine Perikope aus dem „Kleinen Prinzen“ verlesen wurde.
Als Saint-Exupéry 1944 von einem Aufklärungsflug nicht zurückkehrte, glaubten viele, er sei nun endgültig mit seiner Figur verschmolzen und wie der „Kleine Prinz“ zu den Sternen gereist. Der Standesgenosse des Lord Byron war nun auch zu dessen Schicksalsgenossen geworden. Was den Franzosen von dem Engländer unterschied, war allerdings das Verhältnis zum Humor. Byron wusste genau, dass der romantische Zopf aus pathetischen und komischen Strähnen geflochten werden muss. Oder ist es vielleicht doch erlaubt, Oscar Wildes eigentlich auf Dickens gemünztes Wort abzuwandeln: „Jeder, der beim Tod des ‚Kleinen Prinzen‘ in schallendes Gelächter ausbricht, kann kein ganz schlechter Mensch sein“?
Martin Mosebach ist Büchner-Preisträger des Jahres 2007. Der Schriftsteller veröffentlichte zuletzt: „Stadt der wilden Hunde“ (Hanser Verlag)
(Kurzinfo zum Buchinhalt)
Es gilt als Kultbuch, dessen zauberischer Märchenton und dessen humanistische Botschaft ganze Generationen beeinflussten: 1943 erschien „Der kleine Prinz“, von Saint-Exupéry selbst illustriert. Nach zahlreichen Flugzeugabstürzen hatte der Autor 1941 längere Zeit im Krankenhaus zubringen müssen und mit der Niederschrift begonnen.
Der Ich-Erzähler, ein Pilot, der mit einem Motorschaden in der Wüste notlanden muss, begegnet einem kecken kleinen Jungen, der sich als Prinz vorstellt. Sein Reich ist ein winziger Planet, den er verließ, weil die unglückliche Liebe zu einer Rose ihn aufstörte. Auf seiner Reise zu anderen Planeten lernt er zunächst Archetypen einer entfremdeten, versteinerten Erwachsenenwelt kennen, einen despotischen König und einen geldgierigen Geschäftsmann beispielsweise, bis er schließlich auf der Erde von einem Fuchs Schlüsselsätze über Liebe, Empathie und Verantwortung erfährt: „Man kennt nur die Dinge, die man zähmt.“ „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Und: „Du bist zeitlebens für das verantwortlich, was du dir vertraut gemacht hast.“ Die Botschaft des Buches, vorgetragen im unbestechlichen kindlichen Duktus, fand Millionen Leser: „Der kleine Prinz“ wurde seither in mehr als 50 Sprachen übersetzt, nur die Bibel wurde öfter verkauft.
(Foto: Picture Alliance)
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