Portrait - Der Ginster und ich

Siegfried Kracauer – als Kultursoziologe zu Recht gefeiert, als Literat zu Unrecht vergessen. Nun erscheinen seine Romane in neuer Edition. Ein Portrait

Es ist das Lieblingsbuch einer kleinen Clique. Walter Benjamin ist «sehr enthusiasmiert», Joseph Roth fasziniert vom «literarischen Chaplin», Her­mann Kesten schwärmt vom «Fabrikanten blühender und desillusionierender und indirekter Gleichnisse». Carl von Ossietzky «salutiert» und wünscht «viele Fortsetzungen». Das größte Kompliment aber kommt von Ernst Bloch: «Seltsam wirkt die angehaltene Langeweile des Aspekts; sie vergrößert sowohl verblüffend, als sie macht das Trostlose irgendwie heiter, als vor allem: sie ist das Erkenntnisinstrument des Wahren, Konkreten, wirklich damals Geschehenden.»

Der Roman «Ginster» erscheint 1928, sein Autor bleibt ungenannt; «von ihm», dem Titelhelden Ginster, «selbst geschrieben», steht auf dem Deckblatt. Das Buch handelt vom Krieg, dem Ersten Weltkrieg – falls «handelt» das richtige Wort ist. Tatsächlich erzählt der Roman nur von Ginster und wie er die Welt sieht. Und Benjamin, Roth, Kesten und Bloch wissen sehr genau, wer dieser Ginster ist: ihr Freund, Kollege und scharfsichtiger Kritiker Siegfried Kracauer.

Als Kracauer sich bei Ernst Bloch für die «fabel­hafte Analyse» seines noch nicht ganz abgeschlossenen Manuskripts bedankt, schildert er den starken autobiografischen Bezug des Buches. Er habe «sich selbst genau wiedergegeben. Jedes Faktum stimmt.» Besonders erfreut zeigt er sich von Blochs Analyse der «Pflanzenhaftigkeit» des Helden: «Ich habe die Absicht, den Helden im vorletzten Osnabrücker Kapitel auf blühenden Ginster stoßen zu lassen und ihm etwa den Ausspruch in den Mund zu legen, daß er selber gern an Bahndämmen geblüht hätte. Sie haben sich meine Lieblingssätze herausgefischt.»


Mensch mit Widersprüchen und Skrupeln

Noch im Alter, «Ginster» erscheint 1963 nach längeren Bemühungen in einer Neuausgabe bei Suhrkamp, wird Kracauer, inzwischen 74 Jahre alt, das autobiografische Buch zu seinen bedeutendsten Leistungen zählen – ganz im Gegensatz zu einer Öffentlichkeit, die ihn fast ausschließlich als deutsch-jüdischen Filmtheoretiker aus dem amerikanischen Exil kennt und rühmt. Inständig bittet Kracauer den Schriftsteller Wolfgang Weyrauch, der ihn dem jüngeren deutschen Publikum näher bringen will, ihn nicht als «Film-Mann» vorzustellen, «sondern eher als Kulturphilosophen oder auch Soziologen, und als einen Poet dazu».

Siegfried Kracauer – ein Poet? Sucht man den Platz, den Kracauer in der deutschen Literaturgeschichte einnimmt, so müsste die Antwort wohl lauten: genau daneben! Nur zwei Romane hat er geschrieben, beide stark autobiografisch und wenig erfolgreich. Seine essayistischen Schriften dagegen haben ein Vielfaches an Umfang. Gleichwohl: Soziologe, Philosoph, Kulturtheo­retiker, Filmkri­tiker – auch keiner dieser Begriffe scheint tatsächlich zu passen. Seine Bücher und Aufsätze sind Aufmarschplätze von Widersprüchen: ein Philosoph, der nicht klarstellt, sondern vervielfältigt; ein Erkenntnistheoretiker, der Erkenntnis für theoretisch nicht beschreibbar hält; ein Moralist, der seine Ethik abhängig von der Topografie verschiedener Milieus entwickelt; ein Empiriker ohne Parameter, der nicht misst und zählt, weil er weiß, dass er hier keinen Abschluss, keine Befriedigung findet; ein linker Materialist, der Marx des Idealismus überführt; ein träumender Idealist, der jeden schönen und wilden Gedankenpfad zugleich daraufhin prüft, ob er auch tatsächlich mit einem Kraftwagen befahrbar wäre.

Ein Mensch mit solchen Widersprüchen und Skrupeln sucht und findet keine Lebensrolle, kein Selbstbild und keinen festen Platz in der Geschichte. Dass Kracauer dennoch einen Lebenslauf hat, dass sein Leben trotzdem abenteuerlich und schicksalhaft sein sollte, ist kaum ihm selbst, vielmehr den Umständen geschuldet. 1889 als einziges Kind des schlesisch-jüdischen Handlungsreisenden Adolf Kracauer und seiner Frau Rosette, geborene Oppenheim(er), aus Frankfurt, wächst Siegfried, genannt Friedel, vorwiegend im Haus seines Onkels Isidor Kracau­er auf. Der Onkel ist ein bekannter Mann, weniger in seinem Beruf als Leiter einer Stiftung für jüdische Waisenknaben denn als Regionalhistoriker. Seine zweibändige «Geschichte der Juden in Frankfurt am Main 1150–1824» wurde zum Standardwerk.

Friedel ist ein zartes Kind, der kleinste Junge seiner Klasse; eine Sprachbehinderung lässt ihn stottern, ein Stigma, das ihm ein Leben lang bleiben wird. Schon in den frühen Tagebüchern klagt Kracauer über Einsamkeit und ein Gefühl der Unterlegenheit gegenüber seinen Mitschülern: «Es tut mir ja so schrecklich leid, daß ich nicht schön bin.» Sein Abschlusszeugnis zeigt ihn als unbegabt in Fremdsprachen, dafür als «sehr gut» in Mathematik, Naturbeschreibung und Zeichnen. Als Student der Architektur in Darmstadt, München und Berlin schreibt er, kitschig und unbeholfen, erste Novellen und Erzählungen über sein Einsamkeits-Trauma. Beim Praktikum liest er «zwischen dem Verputzen» Kant und entscheidet sich für die Philosophie und gegen die praktische Arbeit.
 

Ein preisgekrönter Soldatenfriedhof

Die ersten längeren philosophischen Überlegungen des 23-Jährigen weisen bereits in eine für ihn typische Richtung: Ihn beschäftigt die «Frage, wie die wesentlich von Kant bestimmte Erkenntnistheorie auf eine breitere Basis zu stellen sei, welche Erkenntnismöglichkeiten es insbesondere für seelische Vorgänge gäbe». Im Architekturstudium gilt Kracauers größtes Interesse einer Beiläufigkeit, dem Ornament; seine Dissertation widmet sich der «Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin, Potsdam und einigen Städten der Mark vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts».

Kracauers Lust, Architekt zu werden, ist gering. «Es will mir nicht in den Kopf hinein, daß ich ein abgeschlos­senes, begrenztes Leben führen soll, daß es einmal heißen wird: So und so war und lebte Friedel Kracauer!» notiert er in der Zeit seines Examens. Notgedrungen arbeitet er in einem Architekturbüro, ohne große Ambitionen und ohne Ziel. Der Kriegsausbruch 1914 befreit den Entschei­dungslosen aus seiner Lethargie; er meldet sich freiwillig, reiht sich ein in die allgemeine Entschlossenheit zur Tat. «Die Einsamkeit wird weggeschwemmt» – er gewinnt dem Krieg etwas Gutes ab, der «Fortsetzung des Friedens» mit anderen Mitteln. Doch die Zeit beim Militär währt nur kurz. Kracauer wird ausgemustert, den Strapazen des Soldatenlebens ist der filigrane Architekt selbst im Hinterland nicht gewachsen. Stattdessen kehrt er zurück ans Reißbrett und entwirft ohne jeden inneren Bezug zum Thema einen Soldatenfriedhof für einen Wettbewerb – der Entwurf gewinnt!

Der Erfolg als Architekt nutzt wenig. Das Architekturbüro Seckbach kann ihn nicht langfris-
tig beschäftigen, Kracauer ist arbeitslos, liest Max Scheler und Georg Simmel, lernt beide kennen und schreibt über Simmel eine Monografie. Mit Ernst Bloch («ein interessantes Naturphänomen»), Leo Löwenthal, Martin Buber und Franz Rosenzweig verbindet ihn die Suche nach einer «einheitlichen, an einem höheren Sinn orientierten Lebensgestaltung». Ihre Antworten, Blochs utopischen Marxismus sowie Bubers und Rosenzweigs jüdische Eschatologie («religiöses Rosa»), wird er scharf kritisieren.


Das leicht beschädigte Denken Adornos

Die wichtigste Begegnung des 30-Jährigen aber ist die mit dem vierzehn Jahre jüngeren Schüler Theodor W. Adorno, der Anfang einer überaus leidenschaftlichen und zugleich schwierigen Freundschaft. Adorno ist vom ungewöhnlichen Denken seines älteren Freundes fasziniert und übernimmt von ihm das nachgestellte «sich», das er zur Marotte ausbaut. Doch Kracauers wachsende Skepsis gegenüber jeder philosophischen Dogmatik wird die beiden ungleichen Freunde ein Leben lang trennen. Kracauer wendet sich dagegen, das Leben philosophisch in Ideen einzusperren, Adorno schafft sich mit den Jahren selbst einen Käfig.

Im Alter, auf der ersten Tagung der Forschungsgruppe «Poetik und Hermeneutik», die auf Adornos Mithilfe verzichtet, wird Kracauer den Satz sagen, der seine Skepsis auch gegenüber Adorno zusammenfasst wie kein Zweiter: «Wann immer in Mikro-Analyse gewonnene Details in die Makro-Dimension transportiert werden, kommen sie dort oben leicht beschädigt an.» Kein Wunder, dass Kracauer dem späten Adorno philosophisch kaum noch etwas abgewinnt; er kritisiert eine «intellektuelle commotion, die sich radikal gebärdet und ohne jede Konsequenz ist. Manches, was ich davon sah, ist auf einer hohen Ebene flach, ausgeleierter Tiefsinn.» Adorno revan­chiert sich zum 75. Geburtstag seines bewunderten Lebens-Freundes mit einem Portrait, in dem er in liebevoller Arroganz das Bild Kracauers als das eines «wunderlichen Realisten» formt.

Kracauer mag ein Autodidakt gewesen sein und ein Außenseiter – «wunderlich» war er wohl nicht. Die renommierte «Frankfurter Zeitung» schätzt seine präzisen, unbestechlichen Analysen wie seine geistreichen Essays und stellt ihn 1921 als Feuilletonredakteur ein. Scharfsichtig sind auch seine größeren Arbeiten wie die «Metaphysik des Detektivromans», kluge Beobachtungen von überzeitlicher Relevanz abseits der viel beschrittenen Hauptrouten. Eine eigene Bresche ins Dickicht des Geistes schlägt eine leider unvollendet gebliebene Studie des ungläubigen Marxisten über das «Menschenbild bei Marx» – eine Arbeit, die heute mehr fehlt denn je.

Phänomenologie, Soziologie, Marxismus – an allem ist etwas dran, doch der Kracauer, der 1925 mit seinem Roman «Ginster» beginnt, einer Erinnerung an die Kriegsjahre, glaubt so richtig an nichts mehr. Hatte er die Phäno­menologie Husserls und Schelers in längeren Essays vom Kopf auf die Füße gestellt, so stellt er sie nun zurück auf den Kopf: Das Nebensächliche ist die Hauptsache! Weil Kausalitäten sich im Alltag als solche nicht immer klar ersichtlich zeigen, kehrt er sie in seinem Roman um, dreht und wendet sie nach allen Seiten: «Da der Kaiser keine Parteien mehr kannte, verurteilte er nun die fremden Nationen. Eine Einigkeit, die der Kriege bedurfte, verfehlte nach Ginsters Dafürhalten ihren Zweck.»


Ginster, Chaplin und die Roulettekugel

Der Karneval der Kausalitäten im Roman ermöglicht, was die Philosophie zu versagen scheint: Rede über die Welt in Form einer gleichzeitigen Gegenrede. Immer wieder vergleichen die Kritiker der Zeit Ginster mit Charlie Chap­lin; nicht falsch, aber doch zu wenig. Wie Chaplin, so fehlt auch Ginster der Wille, Einfluss auf das Leben zu nehmen, das ihn so unverständlich umgibt, in Kracauers eigenen Worten über Chaplins «Goldrausch»: «An der Stelle des Selbsterhaltungstriebes, der Machtgier ist bei ihm eine einzige Leere, die so blank ist wie die Schneefelder Alaskas. Er bebt vor der Türe zurück, wenn sie hinter ihm aufschlägt, denn auch sie ist ein Ich, alles, was sich selbst behauptet, die toten und die lebenden Dinge, alles hat eine Macht in sich über ihn.» Alle Entscheidungen, falls Gins­ter überhaupt welche fällt, alle Ansichten, so er denn welche hat, haben etwas von der Zufälligkeit und Beliebigkeit einer Roulettekugel, die irgendwo liegen bleibt.

Von den Kritikern übersehen werden dagegen die Unterschiede. Ginster ist weder rührend noch eine stilisierte Kunstfigur; an der Stelle von Slapstick stehen kunstvolle Metaphernwelten mit einem blühenden Eigenleben, die in der deutschen Literatur ohne Beispiel sind. «Gins­ter» mag ein handlungsarmes Buch sein ohne Dramaturgie, als Geschichte wohl nicht einmal ein Roman – stilistisch ist es von einer ganz eigenen Brillanz. Alles, was Kracauers spätere Theorie bestimmt, ist in diesem Buch enthalten; der artistische Spagat zwischen «Idee und Existenz», den der von «Ginster» begeisterte Adorno später als Lebensthema seines Freundes beschrieben hat.


Das Regiment der Umstände

Ein gradliniger Theoretiker, ein nüchterner Wissenschaft­ler lässt sich nach diesem Roman nicht mehr vorstellen. Längst führen die Einzelheiten in Kracauers Denken das Regiment, nicht aber ein Generalwille zur alleinigen Deutungshoheit. Unfreiwillig dagegen ist das Regiment der Umstände in Kracauers eigenem Leben. Die «Frankfurter Zeitung» gerät in den Sog der Wirtschaftskrise, wechselt 1929/30 den Besitzer und erlebt einen Rechtsruck. Linke Redakteure sind nun unerwünscht, auch Kracauers exzellente, Aufsehen erregende Milieustudie «Die Angestellten» ändert nichts daran, dass sein Stern bei der Zeitung sinkt.
Mit gekürztem Gehalt sitzt der frisch Vermählte – Kracauer hatte 1925/26 die Bibliothekarin des neu gegrün­deten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Lili Ehren­reich, kennen gelernt und 1930 geheiratet – nun in der Ber­liner Redaktion. Nach dem Reichstagsbrand im Februar 1933 flieht er in vager Aussicht auf einen Korrespon­denten-Posten nach Paris, im August trifft ihn die Kündi­gung. Von den Zeitläuften entsetzt und völlig mittellos, beendet er seinen zweiten autobiografischen Roman «Georg» über seine Zeit als Feuilletonredakteur in Frankfurt – «ein ausgesprochener Desillusionierungsroman» über «die komischen und schrecklichen Zusammenstöße Georgs mit der Welt».

Wie Ginster, so ist auch Georg «ins Spiel der Welt gemischt», ein Medium im Dienst einer Ideenschrift seiner Zeit. Doch die von Ginster übernommene Naivität erscheint oft seltsam in der Weltsicht eines Feuilleton­redakteurs. So kunstvoll der Stil auch dieses Buches ist – so wenig will er zu seinem Helden passen. Zwei schöne Romane hat Kracauer geschrieben, aber wohl nur einen wirklich großen.
 

Thomas Mann schickt 50 Dollar

Die Schriftstellerei bringt Kracauer kein Geld ein. Die vielen Komplimente für «Ginster», der durch den Einsatz von André Malraux und die Übersetzung von dessen Frau Clara unter dem Titel «Gênet» bei Gallimard erscheint, ändern daran nichts. Für «Georg» findet sich kein Verlag; ein Vermittlungsangebot von Thomas Mann, den Roman in den Niederlanden erscheinen zu lassen, lehnt der verarmte Exilant ab. Thomas Mann schätzt Kracauer, obgleich oder gerade weil dieser ihn einst wegen mutmaßlich «instinktloser» Geleitworte zur Serie «Romane der Welt» abgekanzelt hatte; immer wieder bietet Mann seine Hilfe an, ein einziges Mal wird Kracauer sie annehmen: einen Scheck über 50 Dollar.

Kracauer sieht ein, dass er keinen neuen Roman mehr schreiben kann. «Da wir leben müssen», beginnt er ein Buch über «Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit», von dem er sich «vielleicht einige internationa­le Chancen» verspricht. Notgedrungen kehrt er der Literatur den Rücken, ohne je wieder zu ihr zurückzufinden. Das Buch, das Kracauers nun folgende schicksalhafte Jahre zu einem spannenden Roman verarbeitet, fehlt: über die finanzielle Not in Frankreich, die Internierung in einem französischen Lager nach Kriegsausbruch und die Flucht nach Marseille.

Wie ihrem Freund Walter Benjamin, so bleibt auch Lili und Siegfried Kracauer nur ein einziger Weg: über die Pyrenäen durchs feindlich-faschistische Spanien nach Lissabon. In Perpignan erfährt Kracauer von Benjamins Freitod und denkt ebenfalls daran, sich das Leben zu nehmen. Über die Route Pau–Saragossa–Madrid–Valencia de Alcantara gelingt die Flucht nach Portugal. Zermürbende Auseinandersetzungen über Einreisepapiere für die USA bestimmen die kommenden Wochen.  Im April 1941 landen die Kracauers in New York.

In die Zeit des französischen Exils fällt auch Kracauers intensiver Austausch mit dem Institut für Sozialforschung. Doch die Zusammenarbeit vor allem mit Adorno sorgt für Spannungen. Geistreicher als Hork­heimer, klarer als Benjamin, undogmatischer und weniger eitel als Adorno, ist Kracauer im Umkreis des Instituts der aufrichtigste Denker und beste Stilist. Doch seine Arbeit über «Masse und Propaganda» dient Adorno nur als bessere Materialsammlung für eigene Thesen.


Die Geburt eines Filmtheoretikers

Im New Yorker Exil ist Kracauer nun erneut auf das Insti­tut angewiesen. Der 52-Jährige, dessen bisheriges Lebens­werk ein Sammelsurium von Schriften ist, denkbar un­ge­eignet für eine Bewerbung oder gar eine Professur, braucht dringend Hilfe. Von Stipendien finanziert, bekommt er eine Stelle bei der Film Library des Museum of Modern Art; als Filmkenner lässt sich der ehemalige Leiter des Ressorts «Film» bei der «Frankfurter Zeitung» noch am besten vermitteln. Während Kracauer mit kargem Lohn hier an einer «History of the German Film» arbeitet, werden seine Mutter und seine Tante in Deutschland aus dem Altersheim nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet.

Kracauers Film-Bücher «From Caligari to Hitler. A Psychological History of the German Film» (1947) und «Theory of Film. The Redemption of Physical Reality» (1960) werden seinen Ruhm als Filmtheoretiker international begründen. Vor allem das zweite Buch sieht er weni­ger als Filmtheorie denn als Möglichkeit zu kulturphiloso­phischen Betrachtungen. In einem Brief an seinen Freund Leo Löwenthal, der ihn in den Jahren der Not immer unterstützt hatte, erklärt er es so: «Die Kunst besteht darin, die historischen und philosophischen Einsichten so konkret zu vermitteln, daß der Leser ihre Allgemeinheit gar nicht merkt. Oh, wie ich Allgemeinheiten hasse.»

Das Konkrete wichtiger zu nehmen als das Allgemeine – eine Einsicht, die Kracauer moderner macht, als es die Frankfurter Schule je war – ist der Grundgedanke seiner Geschichtsphilosophie. Spät erst hat er sich dazu entschlossen, die Summe seiner Gedanken vom Widerspruch zwischen den Interpretationen des Weltenlaufs und dem individuellen Verstehen der Welt in einem Buch zusam­men­zufassen. Als Kracauer im November 1966 in New York an den Folgen einer Lungenentzündung stirbt, ist das Buch, das ihm «das Leben bedeutet», unvollendet. Drei Jahre nach seinem Tod von Paul Oskar Kristeller in Zusammenarbeit mit Lili Kracauer herausgegeben, ist «History. The last Things Before the Last» gleichwohl Kracauers bedeutendste Leistung in der Theorie.

«Die Geschichte der Ideen ist eine Geschichte von Mißverständnissen», und «die Auswirkungen von gesellschaft­lichen Übereinkommen auf den Gang der Kultur sind ziemlich trübe». Keine Ideengeschichte, keine historische Kontinuität und kein Fortschritt – seine brillant formulier­ten «Meditationen» zur Historie nehmen Michel Foucault vorweg. Geschichte, wie Kracauer sie beschreibt, entzieht sich jedem System, jeder abschließenden Deutung. Zwanzig Jahre vor Hayden White betrachtet er sie als ästhetisches Phänomen und siedelt sie nahe der Dichtung an.

Kracauer selbst sieht sich in der Nähe von Lawrence Sternes «Tristram Shandy»: Es geht um die Artistik des Misslingens, eine Geschichte über Geschichte zu erzählen. Anstelle eines Epilogs steht eine Sentenz, die als Motto allen Schriften Kracauers, Romanen wie Theorien, vorangestellt sein könnte: «Das ‹Genuine›, das in den Zwischenräumen der dogmatisierten Glaubensrichtungen der Welt verborgen liegt, in den Brennpunkt stellen und so eine Tradition verlorener Prozesse begründen; dem bislang Namenlosen Namen geben» – das Lebensprojekt eines Menschen, der, unverortet in den Zwischenräumen lebend und denkend, doch unausgesetzt das Leben beschrieb.

Sechzehn Bände in neun Teilen umfasst die verdienstvolle neue Werkausgabe, die bisher umfassendste Edition seiner Schriften. Nicht wenig für einen Schemen, der nichts werden wollte aus Angst, etwas zu sein, und der sich im Roman wie im Leben nur eine einzige glückliche Existenzform vorstellen mochte – blühend, an einem Bahndamm.

 

Richard David Precht arbeitet als freier Publizist und Autor in Köln. Zuletzt erschien sein Roman «Die Kosmonauten».

 

Siegfried Kracauer
Werke in neun Bänden. Band 7: Romane und Erzählungen
Hg. von Inka Mülder-Bach und Ingrid Belke.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2004. 630 S., 72 € (als TB 48 €)

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