- Individuelles oder gesellschaftliches Versagen?
Ist die Depression vor allem ein Problem mit gesellschaftlichen Ursachen? Bei einem Besuch einer Selbsthilfegruppe für Depression und Burnout verstärkt sich dieser Eindruck
Donnerstags ist Seelenstriptease-Tag. Kekse stehen auf dem Tisch, der Tee dampft. Die Sessel laden zum Verweilen ein. Jede Woche kommt der 48-jährige Günter (Name geändert) in das Nachbarschaftshaus am Lietzensee in Berlin-Charlottenburg, spricht dort über seine Depression und über sein Burnout. Er redet, hört zu, sucht gemeinsam mit den anderen Betroffenen Wege aus der Krankheit. Donnerstag ist Selbsthilfetag.
Günter wirkt hager, seine Haare sind kurz. Zur Jeans trägt er ein schwarzes Hemd. Viele Jahre arbeitete Günter in der Entwicklungsabteilung eines Unternehmens, bevor er dort ins Management wechselte. Heute ist er Mini-Jobber in einem Fahrradladen.
Der Burnout kam schleichend. Erst waren es psychosomatische Störungen wie starke Kopfschmerzen und Schlafprobleme. Dann wurde die nervliche Anspannung immer größer. Eines Tages ging dann nichts mehr. „Ich konnte einfach nicht mehr so weitermachen“, erzählt Günter, „ich war einfach völlig fertig. Mein Körper machte zu.“ Sein Leiden trieb ihn sogar in einen Selbstmordversuch. Nicht einmal Therapeuten konnten ihm helfen. So stieß er schließlich auf eine Selbsthilfegruppe und gründete dann auch selbst eine.
Im Nachbarschaftshaus am Lietzensee wird über alles geredet. Bis zu zehn Betroffene erzählen dort Woche für Woche von ihren Erfahrungen. Sie geben einander Tipps und tauschen Strategien aus, um besser mit der Krankheit leben zu können. Die vielen Perspektiven, die hier eingebracht würden, seien gewinnbringend, sagt Günter. Erst hier habe er gelernt, dass es nicht den Depressiven gebe, sondern ganz unterschiedliche Typen. Und jeder müsse einen anderen Weg gehen, um wieder auf die Beine zu kommen.
Was ist Schuld an der Depression?
In der Gruppe wird immer wieder auch über die Ursachen der Depression gesprochen, zum Beispiel über Kindheitserlebnisse und über individuelle Erfahrung. Doch auch äußere Einflüsse sind ein Thema. Ist die Depression die Folge eines individuellen Versagens? Oder fördern etwa auch die Strukturen in der Arbeitswelt dessen Herausbildung? Ist der Einzelne schuld oder die Gesellschaft?
Für Günter ist dies offenkundig. Er erzählt von den vielen Emails, dem großen Druck in der Firma, dem Wettbewerbsklima und der großen Verantwortung, die er als Manager zu tragen hatte. „Irgendwann wurde einfach alles zu viel. Es gab keine Pause, kein Anhalten mehr, nur noch ein stummes Erledigen.“
Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat vor ein paar Jahren in einer viel beachteten Studie mit dem Titel „Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart“ nachzuweisen versucht, dass die Gründe für die hohen Depressionsraten in modernen Gesellschaften vor allem in gesellschaftlichen Fehlentwicklungen zu suchen seien. Das erschöpfte Selbst sei die psychologische Kehrseite der Hegemonie des Neoliberalismus.
Depression entsteht nach Ehrenberg vor allem nicht nur aufgrund der Arbeitsstrukturen, sondern auch aus dem Selbstverwirklichungsdruck des arbeitenden Individuums. Die Depression ist für ihn „eine Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht.“ Dem Individuum werde nicht nur ein Zwang zur persönlichen Entfaltung auferlegt, sondern auch die Bereitschaft aufgezwungen, sich selbst um sein Lebensglück zu kümmern.
Ist die Gesellschaft schuld am Massen-Burnout?
„Zu den Evangelien der persönlichen Entfaltung kommen die Forderungen nach persönlicher Initiative“, sagt Ehrenberg. Die Unzulänglichkeit sei daher das zentrale Merkmal der Depression, da der Depressive jemand sei, der sich für diese Welt nicht als gut genug erachtet.
Ist also die Gesellschaft Schuld, wenn die Zahl der Menschen, die an Depressionen erkranken, seit vier Jahrzehnten auch in Deutschland kontinuierlich ansteigt? Oder ist es nur ein Versuch, von individuellen Ursachen und vom individuellen Scheitern abzulenken?
Günter schenkt Tee nach und erzählt, wie Veränderungen in der Arbeitskultur in seiner Firma dazu beigetragen haben, dass es den Leuten schlechter ging. „Nachdem in unserer Firma der Pfad des stabilen und nachhaltigen Wachsens zugunsten schneller Gewinnmaximierung aufgegeben wurde, sind durch dieses ‚Immer mehr und höher‘ viele Mitarbeiter kaputt gegangen.“
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„Fleißige, dünnhäutige, empathische Menschen sind anfällig für Depression“, denn gute Manager müssten heute gierig und egoistisch sein. „Gierige und egoistische Menschen können die Ethik ausblenden, ich kann das nicht, weil ich mir Gedanken darum mache, wie es den Leuten um mich rum geht“, sagt Günter in der Runde. Inzwischen sei er klüger geworden: „Ich fühle mich heute mit dieser empathischen Haltung wohl, damals aber als Manager habe ich mich nur gezwungen gefühlt zu funktionieren und den Vorgaben gerecht zu werden. Ich bin einfach ein anderer als der, zu dem ich gezwungen wurde.“ Seine Mitstreiter in der Selbsthilfegruppe stimmen ihm zu.
Hat Ehrenberg also Recht, hat die Depression gesellschaftliche Ursachen?
Die Münchener Psychotherapeutin Elisabeth Summer hat sich kritisch mit Ehrenbergs Thesen auseinandergesetzt. Sie plädiert für eine differenzierte Sichtweise. „Es besteht kein Automatismus zur Depression, etwa weil man sich gegen die Ideologie ‚Jeder trage sein eigenes Glück im Tornister‘ nicht wehren kann. Schließlich gibt es Menschen, die auch bei Rückschlägen nicht depressiv werden, sondern den Gründen nachgehen und ihr Lebenskonzept der Wirklichkeit anpassen.“
Auch die Idee, dass die Depression hauptsächlich aus dem Gefühl der Unzulänglichkeit entstehe, sei zu hinterfragen. Denn: „Der Milliardär und Konzernchef Adolf Merckle und der Nationaltorwart Robert Enke, die beide Selbstmord begingen, sind ja nun wirklich nicht an ihrer ‚Unzulänglichkeit‘ gescheitert. Beide Prominente haben mit ihrem Suizid eine Selbstverurteilung praktiziert, zu der sie nicht von außen gezwungen waren.“ Den Einfluss einer „neoliberalen“ Gesellschaft auf die Stimmungslage der Individuen, lasse sich aber durchaus begründen, so Summer: „Depression ist das Leiden an sich selbst in der Wettbewerbskultur der Marktgesellschaft, die den Menschen die Erfüllung ihrer Erwartungen eher vorenthält.“
Auch Isabella Heuser, Direktorin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Berlin, widerspricht der These der Automatik der Depression aufgrund gesellschaftlicher Ursachen zum Teil: „Die Erkrankung der Depression werde bei Ehrenberg allein auf rein soziologische Gegebenheiten zurückgeführt. Man müsse zwar konstatieren, dass die Depression wie andere Krankheiten auch von ihrer Umwelt beeinflusst ist. Depression ist aber nicht, wie es Ehrenberg suggeriere, ein rein gesellschaftliches Problem.“
Individuelles Versagen oder gesellschaftliches Problem? Die Wissenschaft kann diese Frage also letztendlich nicht eindeutig beantworten. Aber vielleicht kann ja Mario Herrmann weiterhelfen. Der Burnout-Coach kennt beide Seiten. Er war Diplom-Ingenieur, Abteilungsleiter mit Personalverantwortung in einem großen Elektronikunternehmen und hatte selbst einen Burnout. Inzwischen berät er in seinem Seminarzimmer im Berliner Stadtteil Mariendorf Betroffene und gibt Seminare bei Unternehmen.
„Ich habe zwar auch kein Kochrezept gegen die Depression“, sagt Herrmann, aber es gehe vor allem darum, seinen Blickwinkel zu ändern. „Wenn beispielsweise jemand alles daran setzt, Abteilungsleiter zu werden und das sich als körperliche und psychische Belastung herausstellt, ist es sinnvoll zu sehen, ob er nicht auch in einer anderen Position wieder mehr Zufriedenheit finden kann.“ Es komme darauf an, die Signale des Körpers richtig zu deuten und eine Veränderung zu bewirken, sagt er. Die Suche nach mehr Zufriedenheit sei immer individuell, und hier könne durchaus auch ein neues Hobby Privates und Berufliches nachhaltig wirksam in Balance halten.
Der äußere Einfluss kann nicht in Abrede gestellt werden
Doch auch Herrmann sieht den Einfluss der Strukturen. Themen wie Stress, Depression oder Burnout fänden in Unternehmen zu wenig Beachtung und dies wohl eher aus Hilflosigkeit und Unwissen. Oft machten sich die Verantwortlichen dort keine systematischen Gedanken über die Arbeitsstrukturen und wie die Mitarbeiter damit klar kommen.
Für Günter steht fest, um die Zahl der Depressionserkrankungen wieder zu senken, müsste sich auch die Gesellschaft ändern, insbesondere die Arbeitsstrukturen. Es bräuchte mehr Gemeinschaft unter Freunden, unter Nachbarn und unter Kollegen, und in der Arbeitswelt müsse der Ideologie der Gewinnmaximierung etwas entgegengesetzt werden. Die Teilnehmer der Selbsthilfegruppe sehen die Ursache der Depression zwar vor allem bei der Gesellschaft, aber nicht zentral bei dem Selbstverwirklichungsdruck des Individuums, sondern mehr bei den Arbeitsbedingungen, die aber gemäß einer neoliberalen Idee von Arbeitsleben eingerichtet sind. Ehrenbergs These mag auf viele Arbeitnehmer zutreffen, deren Anspruch größer ist, als was sie realisieren können. Depression ist aber nicht automatisch ein Problem von Narzissten, sondern die Belastung in der Arbeitswelt kann auch stabile Charaktere irgendwann einfach überfordern - wie Günter.
Ehrenbergs These vom Selbstverwirklichungsdruck als Ursache von Depression ist also kritisch zu hinterfragen, aber Recht behält er mit der Intention, dass die Gesellschaft mehr Schuld als das Individuum selbst hat. Das erscheint nach diesem Abend als plausibel, da sich die Berichte der Betroffenen stark ähneln. Günter und die anderen bestätigen auch selbst energisch, dass vor allem die Gesellschaft versagt, auch wenn sie individuelle Ursachen der Depression sehen.
Und so geht die Seelenexegese am Lietzensee nach drei Stunden mit einem Appell zu Ende. Bevor er geht, wünscht sich Günter noch eines: „Das Ende der Ellbogengesellschaft“. Alle stimmen zu.
Wer eine Selbsthilfegruppe sucht, kann sich unter den folgenden Links dazu informieren: http://www.depressionsliga.de/selbsthilfegruppe-suchen.html und http://www.sekis.de/
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