- David Graeber und die verlorene Wette auf die Zukunft
Ist, wer Schulden hat, auch schuldig? Was hat Wirtschaft mit Moral (oder gar Religion) zu tun? Der Ethnologe David Graeber erschüttert unser Denken über Geld. Und schon jetzt steht fest: "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" ist das Sachbuch des Jahres
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„Das winzige Territorium, über das El Rey als ungekrönter König herrscht, findet sich auf keiner Landkarte und besitzt, aus sehr praktischen Gründen, keine offizielle Existenz.“ So beginnt Jim Thompson das Schlusskapitel seines 1958 erschienenen Romans „The Getaway“. Dieses Kapitel ist von der vorangegangenen Handlung weitgehend abgekoppelt, es ist eine beinahe eigenständige Erzählung und als Fabel über die Abgründe unserer Zivilisation mit Franz Kafkas „In der Strafkolonie“. Man könnte El Rey, den allmächtigen Herrscher über das von Thompson ersonnene Fabelreich, für einen ungerechten Mann halten, aber das ist er nicht. El Rey ist bloß unerbittlich. Mit der größten Strenge wacht er über die Einhaltung der Regeln, die er seinen Untertanen auferlegt hat. Da sein Reich auf keiner Karte verzeichnet ist, gibt es auch keine äußere Macht, die ihn daran hindern könnte.
Das Territorium ist ein letztes Refugium für Menschen auf der Flucht, hier stranden die, die sonst nirgends mehr ein Versteck finden. Es ist ein Gefängnis, in das sich die Verbrecher – denn es sind ausschließlich Verbrecher, die hier ihr Leben beschließen – freiwillig selbst einliefern. Einmal angekommen, zahlen sie ihre Barschaften auf der Bank ein und genießen vorerst alle Annehmlichkeiten der sogenannten Zivilisation. Da aber kaum einer reiten will, verfetten die Pferde in ihren Ställen, und weil niemand badet, wird das Wasser der Swimmingpools brackig. Das Leben hier scheint bequem zu sein, aber es ist nicht teuer. Eine Villa, die an der Riviera tausend Dollar im Monat kosten würde, wird für wenige hundert Dollar vermietet. Aber auch, wenn die Ausgaben überschaubar sind, haben die Bewohner des Territoriums ein Problem: Es gibt Konsum, aber keine Arbeit; Geld muss ausgegeben, darf aber nicht verdient werden. Und alles fließt direkt und ausschließlich in El Reys Tasche.
So geht auch das größte Vermögen, das die Ankömmlinge im Zuge ihrer kriminellen Vorgeschichten erworben haben, unweigerlich einmal zur Neige. Für diesen Fall sind die Vorkehrungen schon getroffen: In einem Dorf abseits der Hauptstadt des Territoriums wandeln die Ausgemergelten vor weißgetünchten Häusern. In der Luft liegt der Geruch von verbranntem Fleisch, er kommt aus den Schornsteinen der Krematorien. Im Territorium endet das Leben unweigerlich mit dem Hungertod. Die böseste Pointe dieser sowieso schon bösen Geschichte ist aber, dass auch ihr Autor, Jim Thompson, im Jahr 1977 tatsächlich verhungert ist. Einsam und verwahrlost hatte er zuletzt aufgehört zu essen. Zu diesem Zeitpunkt war in Amerika kein einziger seiner vielen Romane mehr lieferbar, offensichtlich schienen antikapitalistische Geschichten wie diese gerade hier unzumutbar.
Die Ankunft auf dem Territorium ist nur eine Metapher für die Geburt des Menschen. Dieser Mensch, so unterstellt dieser Text, kommt schuldig zur Welt, und als Schuldiger macht er weiterhin Schulden, die er niemals wird zurückzahlen können. Zur Pointierung versetzt Thompson seiner literarischen Laborsituation nur einen einzigen, realitätsfremden Dreh: Von einem Land, in dem es unter allen Umständen untersagt ist, Geld zu verdienen, um Schulden zu begleichen, ist bislang noch nichts bekannt geworden. Dennoch zeigt zum Beispiel die Dritte Welt, dass Schulden auch in der Realität so groß werden können, dass sie faktisch nicht mehr zu begleichen sind. Sie sind dann eine bereits verlorene Wette auf die Zukunft.
Wer über Schulden spricht und mit der Literatur beginnt, gerät in den Verdacht, ein Schwätzer zu sein. Schließlich scheint die Ökonomie, zu der die Schulden gehören, eine Expertenwissenschaft und das Sprechen darüber professionell qualifizierten Kennern vorbehalten zu sein. „Sie haben noch nie etwas von der Laffer-Kurve gehört?“ – „Sie brauchen aber unbedingt eine Einführung in das wirtschaftliche Einmaleins“ – so klingen, nach David Graeber, ganz übliche Reaktionen auf die Überlegungen Fachfremder. Auch Graeber ist nicht vom Fach. Als Ethnologe sollte er sich, in den Augen eines Ökonomen, vielleicht auf melanesische Cargo-Kulte konzentrieren, seine Finger aber unbedingt von so etwas Heiklem und Heiligem wie unserer westlichen Wirtschaft lassen. Das aber hat er nicht getan und nun stattdessen ein Standardwerk darüber geschrieben, wie sich die Menschen seit jeher miteinander verbunden, aneinander gekettet und gegenseitig geknechtet haben.
Seite 2: Die Geschichte unserer Kultur, ein Horrorroman
„Schulden. Die ersten 5000 Jahre“, so der freche Titel, erzählt die Geschichte unserer Kultur als einen Horrorroman. Das Buch handelt von der dunklen Seite der Macht und ihrer perfidesten Erfindung: Schuld und Schulden erscheinen als Hauptübel unserer Kultur und zugleich als Grund für Kriege, Sklaverei und Katastrophen. Als Wissenschaftler genießt David Graeber das größte Ansehen seiner Kollegen: Der berühmte Ethnologe Maurice Bloch hält den 51-jährigen Amerikaner, innerhalb seiner Generation, gar für den herausragenden Vertreter der Disziplin. Zur heroischen Figur ist Graeber aber besonders außerhalb der akademischen Welt geworden: Sein Engagement in globalisierungskritischen Bewegungen, zuletzt Occupy Wall Street, haben ihn wohl seine Professur an der Yale-Universität gekostet. Die Institutsleitung musste sich vorwerfen lassen, die Stelle aus politischen Gründen nicht verlängert zu haben.
Heute lehrt er an der Universität von London. Und nun: sein großes Buch, sein Hauptwerk, das auch im deutschen Feuilleton schon gefeiert wurde, bevor die Übersetzung überhaupt vorlag. David Graeber schreibt mit Herzblut und Geduld. Auf über fünfhundert Seiten breitet er die akribisch geführten Nachweise seiner großen These aus. Sein Rüstzeug ist die Ethnologie, was aber etymologisch, philosophisch oder archäologisch grundierte Argumente nicht ausschließt.
Die Essenz des Buches fand sich schon auf den wenigen Seiten, die Jim Thompson zur Schilderung des Territoriums von El Rey genügten. Und diese Essenz ist schlicht, sie ist der Kern unserer kulturellen und religiösen Großerzählungen: Schulden stehen am Anfang von allem. Wir werden schuldig geboren und häufen weitere Schulden an, die wir nie wieder werden zurückzahlen können. Das führt zu Sklaverei und Unterdrückung. Aber was ist der Ausweg?
Auch Graebers Überlegungen handeln von einer Fiktion, die sich aber nicht als Fiktion zu erkennen gibt. Der Autor nennt sie den „Mythos vom Tauschhandel“, der in zahllosen Varianten immer und immer wieder erzählt wird. Etwa von Adam Smith, der im 18. Jahrhundert den folgenreichen Begriff der unsichtbaren Hand geprägt und unsere moderne Nationalökonomie begründet hat. „Unter Jägern und Hirten“, schrieb Smith, „stellt beispielsweise ein Mitglied des Stammes besonders leicht und geschickt Pfeil und Bogen her. Häufig tauscht er sie bei seinen Gefährten gegen Vieh oder Wildbret ein, und er findet schließlich, dass er auf diese Weise mehr davon bekommen kann, als wenn er selbst hinausgeht, um es zu jagen. Es liegt daher in seinem Interesse, dass er das Anfertigen von Pfeil und Bogen zur Hauptbeschäftigung macht und somit zum Büchsenmacher wird.“ Ein Klassiker: Die Bedürfnisse in einem arbeitsteiligen Gemeinwesen können von Verschiedenen in unterschiedlicher Weise befriedigt werden. Der eine hat das Fleisch, der andere die Waffen, um es zu erbeuten. Ein weiterer ist Schmied, Zimmermann oder Gerber. Und alle profitieren voneinander, indem sie ihre Erzeugnisse untereinander tauschen.
Leider stößt diese Praxis aber an Grenzen. Jeder muss Dinge horten, von denen er denkt, dass andere sie würden gebrauchen können. Hat der eine, so formuliert Adam Smith das Dilemma, „gerade nichts zur Hand, was der erste braucht, käme kein Tausch unter ihnen zustande“. Missliche Lage. Und ein ganz logischer Ausweg: Zumindest will es die Legende, dass sich aus dem Tauschhandel heraus nach und nach universell verwendbare Zahlungsmittel entwickelten, die, weil jedem zugänglich und mit einem klaren Wert bemessen, den Handel flexibel und das Einlagern spezieller Tauschwaren überflüssig machten: Je nach Epoche und Weltregion waren solche Zahlungsmittel Salz, Stockfisch, Tabak, Edelmetalle – am Ende lief es aber stets auf Geld hinaus. Geld flexibilisierte den Handel. Wer flüssig war, konnte sich alles Mögliche leisten.
Seite 3: Tauschhandels-Gesellschaften, ein märchenhaftes Ungefähr?
Eine schöne Geschichte. Und bis heute halten alle einflussreichen ökonomischen Theorien an ihr fest wie an einem biblischen Glaubenssatz. Geld, so ihre Konsequenz, ist etwas wert, Geld hat eine unmittelbare Entsprechung. Und ist all dieses nicht: ein Zeichen, eine Information, eine an sich leere Behauptung. Großer Unsinn, ruft hier Graeber, der Feldforscher. „Niemand tauschte je Pfeilspitzen gegen Fleischstücke.“ Das hat die empirische Wissenschaft längst widerlegt. So der Befund der in Cambridge lehrenden Anthropologin Caroline Humphrey: „Schlicht und ergreifend“, sagt sie, „wurde nicht ein einziges Beispiel einer Tauschwirtschaft jemals beschrieben, ganz zu schweigen davon, dass daraus Geld entstand; nach allen ethnografischen Daten hat es das nicht gegeben.“
Nicht umsonst sind daher Erzählungen von Tauschhandels-Gesellschaften im märchenhaften Ungefähr verortet. Nicht, dass es keinen Tausch gegeben hätte: Unter anderem schildert Graeber den „dzamalag“, ein komplexes Ritual des zeremoniellen Tauschhandels, das der australische Aborigine-Stamm der Gunwinggu mit seinen Nachbarvölkern betreibt. Stets handelt es sich aber um Begegnungen zwischen Fremden, die sich wahrscheinlich niemals wieder begegnen werden – und eben nicht um einen Handel zwischen gleichberechtigten Partnern, wie es die Vertragswerke der westlichen Ökonomie voraussetzen. Dieser Streit um Urszenen ist von allergrößter Bedeutung, schließlich hängt die Legitimation der Ökonomie von seinem Ausgang ab.
Und Graeber sagt: Am Anfang stand nicht der Tausch, am Anfang standen die Schulden, das Kreditwesen. Das heißt, wir leben seit Menschengedenken in einer Schuldenkultur. Kredite, also die Verpflichtung zwischen Gläubigern und Schuldnern, sind nach Graeber älter als alle schriftlichen Aufzeichnungen, daher verlieren sich ihre Anfänge im historischen Halbdunkel. Wahrscheinlich aber seien die Schulden von den Tempelverwaltern der mesopotamischen Antike erfunden worden, um ein kompliziertes Kalkül um Erntezyklen und die Transportlogistik entlang von Euphrat und Tigris profitabel zu machen. Und Graeber geht weiter, seine ökonomisch fundierte Kulturtheorie schließt die großen Fragen der Religion und der Moral mit ein: Warum, so fragt er, sprechen wir von Jesus Christus als dem „Erlöser“? Die Bedeutung des lateinischen „redemptio“ sei schließlich das Rückkaufen oder Wiedererlangen von etwas, das als Sicherheit für einen Kredit hinterlegt wurde. Es sei verblüffend, so Graebers lakonischer Befund, dass der Kern der christlichen Botschaft in die Sprache eines Geschäftsakts gekleidet ist.
Haben also die Weltreligionen ihre Entstehung ökonomischen Krisen zu verdanken? „Sie alle“, behauptet der Autor, „vom Zoroastrismus bis zum Islam – sind inmitten heftiger Auseinandersetzungen über die Rolle des Geldes und des Marktes im Leben des Menschen entstanden, speziell in Auseinandersetzungen darüber, was diese Einrichtungen hinsichtlich der Fragen, was Menschen einander schulden, zu bedeuten hatten.“ Da haben wir es also: Schuld und Schulden gehören zusammen, weshalb auch die Begriffe der Moral und der Ökonomie nicht voneinander zu trennen sind. Was daraus folgt? Schulden stehen nicht, wie Adam Smith und andere es wollten, einfach auf der Soll-Seite der unbestechlichen doppelten Buchführung. Sie sind auch nicht bloß der gerechte Fluch über jene, denen das Wasser bis zum Hals steht. Schulden sind immer schon ein Produkt der Kultur – eine Setzung, eine Behauptung, ein Instrument der Macht.
Seite 4: Vom antiken Schuldenerlass bis zur Occupy-Bewegung
Eine Geschichte der Schulden, wie Graeber sie hier von ihren frühesten Ursprüngen an erzählt, stand noch aus. Sie erscheint umso dringlicher, als die Finanzkrisen der Gegenwart, individuelle und nationalstaatliche Überschuldung sowie der drohende wirtschaftliche Kollaps der Drittweltstaaten derzeit mehr Aufmerksamkeit beanspruchen denn je. Die Occupy-Bewegung hat Graeber nicht umsonst zu ihrem intellektuellen Frontmann erkoren. Seine Einsicht, dass Schulden kein ehernes Naturgesetz sind, sondern lediglich eine im Gewand der Moral verkaufte Setzung, treibt die Forderung nach Schuldenerlassen voran. Denn das zeigt Graeber eben auch: Die Geschichte ist reich an Präzedenzfällen für die Lösung von Schuldenkrisen.
In diesem Sinne führt der Autor die antiken Schuldenerlasse vor Augen, die sich bereits in Mesopotamien sowie in der griechischen und römischen Polis nachweisen lassen. Zumindest die freien Bürger der Polis mussten keine Steuern zahlen. Die hebräische und im Mittelalter die christliche Kultur schlossen an solche Traditionen der Großzügigkeit an: Im rituell zelebrierten Jubeljahr wurden Sklaven entlassen und verpfändete Grundstücke zurückgegeben. Graeber geht es darum, dass es stets Erlösungs- und Entschuldungsakte waren, die etwas Neues in Gang gesetzt haben: Was tat Gott als Erstes? Er befreite die Juden aus der ägyptischen Knechtschaft.
„Drop the Debt!“ Graeber beteiligt sich an politaktivistischen Kampagnen, gegen den IWF und für einen Schuldenerlass gegenüber Drittweltländern. Schulden sind, nach Graeber, eben eher ein politisches Phänomen als ein wirtschaftliches. Und stellen wir uns vor, die Star-Autoren Aristoteles und Platon würden per Zeitmaschine in die Vereinigten Staaten von Amerika befördert, um eine Reportage über die working poor von heute zu verfassen. Sie würden sich wohl die Augen reiben angesichts dieser altbekannten Form der Schuldsklaverei. Das Territorium, das El Rey, dieser unerbittliche, wenn auch ungekrönte König und Herrscher über Schuld und Schulden, regiert, dieses Reich ist gar nicht so klein. Es beginnt gleich hier, vor der Haustür, und reicht weit hinaus in die Welt.
David
Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Aus dem Englischen von
Ursel Schäfer, Hans Freundl und Stephan Gebauer
Klett-Cotta, Stuttgart 2012
536 S., 26,95 €
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