- Das Imperium der Insulaner
Auf- und Abregungen in der alten Debatte, das Phänomen USA schlüssig zu deuten. Ein Wegweiser durch die neueste Amerika-Literatur
Wenn Amerika nicht die Welt beherrscht, dann zumindest den Buchmarkt des Herbstes 2003. Während die schnellen Schreiber schon auf den Irak-Krieg des Frühjahrs reagieren, bringen die Gründlicheren ihre Reflexionen zum 11. September 2001 zu Ende. Diese beiden Ereignisse sind die zentralen Koordinaten der Auseinandersetzung mit den USA geworden – aus welcher Perspektive auch immer. Und an einer Verschiedenheit der Perspektiven, an einer Vielfalt der Stimmen mangelt es der Amerika-Debatte wahrlich nicht. Die Alten und Erfahrenen mischen sich noch einmal ein, wägen das Land des George W. Bush gegen seine eigene Geschichte zwischen Pearl Harbor und Vietnam ab, und die Jüngeren, «nach Vietnam» Geborenen, entwerfen ihr Bild von der Zukunft Amerikas.
Vor allem aber: Innen- und Außensichten verschränken sich auf doppelte Weise. Die Amerikaner streiten über den Kurs ihres Landes, während Europäer – zuvorderst Franzosen, Briten und Deutsche – aus der Distanz kritische Blicke über den Atlantik werfen. Dabei geht es, das ist das zweite «Innen und Außen», um die äußere Machtentfaltung der USA, ihre weltpolitische und militärische Macht – aber auch um das Innenleben dieser widersprüchlichen Nation, um Konstanz und Wandel ihrer kulturellen Fundamente, ihrer Ökonomie, ihrer Gesellschaft. Hat sich Amerika im Innern, vielleicht von Europa aus unbemerkt, so gewandelt, dass das neue American Empire wenn nicht die logische Folge ist, so doch besser erklärbar wird?
Gigant auf tönernen Füßen?
Von einer plausiblen Zusammenschau der Argumente sind die Bücher des Herbstes 2003 noch ein ganzes Stück weit entfernt. Jetzt ist die Zeit der Kontroversen, der intellektuellen Probebohrung. Es ist die Zeit, in der man viele Bücher mit Gewinn liest, auch wenn man ihren Thesen nicht zustimmt.
Beherrscht Amerika die Welt, oder steht der Gigant auf tönernen Füßen? Die Überlegung, dass es mit der Macht der USA nicht gar so weit her sei und sie in absehbarer Zeit kollabieren müsse, hat angesichts der weltumspannenden Herrschaft der Flugzeugträger & Co. den Reiz des Widerspenstigen für sich. Seit Robert Kagan auf ebenso selbstbewusste wie einflussreiche Weise die amerikanische «Macht» der europäischen «Ohnmacht» gegenübergestellt hat, ist die Umkehrung dieser These natürlich erst recht attraktiv geworden. Wer wäre besser geeignet, die USA als «ohnmächtige Supermacht» zu beschreiben, als Michael Mann, Inhaber eines britischen und amerikanischen Passes, in beiden Ländern lehrend und berühmter Autor einer mehrbändigen «Geschichte der Macht»?
Sein Buch, geschrieben mit dem Zorn über die «beispiellos tolldreiste militaristische Politik» von Bush und Blair, legt schonungslos die Schwächen und Widersprüche der Vereinigten Staaten offen: ihre vereinseitigte militärische Macht, ihr zweifelhaftes ökonomisches Potenzial und ihre politisch-ideologischen Verirrungen. Wer sich über die verschiedenen «regionalen» Konflikte informieren will, vom Balkan über Afghanistan und den Irak bis Nordkorea, in denen sich die Amerikaner engagieren, kommt bei Mann auf seine Kosten. Aber ganz befriedigt ist man nicht; die Demontage Amerikas reicht nicht aus, der Entwurf einer neuen «Weltkarte» müsste hinzukommen.
Hoffen auf Paris und Moskau
Um eine solche bemüht sich Charles Kupchan, für den die USA eine «ziellose Großmacht» geworden sind. Die Phase des amerikanischen Internationalismus, der noch die neunziger Jahre kennzeichnete, ist vorüber, doch dem gegenwärtigen Unilateralismus kann nicht die Zukunft gehören. In seiner scharfsinnigen Analyse sieht Kupchan den Wiederaufstieg Europas und Ostasiens voraus, aber auch neue Konflikte zwischen diesen drei globalen Machtzentren. Das widerspricht der europäischen Neigung, die Eindämmung der amerikanischen Macht allzu schnell mit der Entstehung einer harmonischen Ordnung des Ewigen Friedens gleichzusetzen.
Zu einem Klassiker des Genres «USA ade» ist das Buch des französischen Sozialwissenschaftlers Emmanuel Todd geworden, der jetzt auch in deutscher Übersetzung der «Weltmacht USA» einen vorweggenommenen «Nachruf» widmet. Ohne falsche Häme, mit analytischer Präzision und literarischem Schwung prognostiziert er eine Umkehrung der Verhältnisse bis zur Mitte dieses Jahrhunderts; dann werde es eine Weltmacht Amerika nicht mehr geben. Denn die übrigen Regionen, nicht zuletzt in der «Dritten Welt», würden in dem Maße aufholen, wie ihre Gesellschaften durch zunehmende Alphabetisierung und Geburtenkontrolle die Schwelle der Moderne überschreiten. Todd ist ein unerschütterlicher Optimist, mit geradezu hegelianischem Glauben an die Fortschritte des Weltgeistes. Die tiefen Krisen Afrikas oder der arabisch-islamischen Welt sind ihm nur Zwischenstadien auf dem Weg zu Prosperität und Demokratie; denn Demokratie, so Todds geschichtsphilosophisches Grundgesetz, ist eine mehr oder minder zwingende Konsequenz aus Alphabetisierung plus demografischem Gleichgewicht.
Im Gegenzug geraten die USA in eine tiefe Krise. Etablierte Demokratien verwandeln sich, die Bush-Kamarilla lässt grüßen, zunehmend in oligarchische Systeme, und zumal den amerikanischen Typus des Universalismus sieht Todd in der ethnisch fragmentierten Gesellschaft der USA scheitern. Aber nicht die islamische Kultur oder etwa China sieht er zu neuer weltpolitischer Führerschaft berufen – nein, auf «Old Europe» setzt er seine Erwartungen, insbesondere auf eine Koalition aus Frankreich und Russland. Denn beide Länder seien, aus dem Erbe ihrer Revolutionen von 1789 und 1917, natürliche Verbündete im Geiste des sozialen Universalismus: einer inklusiven, egalitären Gesellschaft.
Selbst wenn man von den offenbar unausrottbaren Resten der Lenin-Nostalgie in der französischen Linken absieht, bleibt rätselhaft, woher Todd seinen Optimismus bezüglich der zukünftigen Stärke Russlands nimmt. Aber sein Buch reflektiert eine Tendenz, die man allenthalben registrieren kann: die zunehmende gedankliche Abkoppelung Europas von den USA. Bei Todd ist es geradezu, an Samuel Huntingtons «Clash of Civilizations» gemahnend, ein «Zivilisationskonflikt», weil die europäischen Werte des Agnostizismus, des Friedens und des Ausgleichs der amerikanischen Gesellschaft fremd geworden seien. Bei amerikanischen Autoren wie Jedediah Purdy ist es eher der fortwirkende, in der Krise verstärkte Glaube an die amerikanische Sonderrolle in der Welt, in dem diese Abkoppelung vollzogen wird.
Der Stromausfall als Zeichen der Schwäche
Wenn es um die inneren Ursachen für die vermeintliche oder zukünftige außenpolitische Schwäche der Vereinigten Staaten geht, steht ein Thema immer wieder ganz oben an, zumal bei europäischen Kritikern: nämlich die amerikanische Wirtschaft, der in dieser Perspektive Züge eines Potemkinschen Dorfes anhaften. Die Ökonomie der USA sei «Trittbrettfahrer» der Weltwirtschaft (Michael Mann), da von ausländischen Investoren und den Ölförderstaaten abhängig; sie sei überhaupt keine produktive Ökonomie, weil sie Güterproduktion durch bloßen Konsum ersetzt habe.
Urteile dieser Art verraten mehr über ihre Urheber als über die US-Wirtschaft. Sie reduzieren die Wertschöpfungskette auf die Produktion und vernachlässigen den Handel ebenso wie den Wert von Dienstleistungen. Wenn schon amerikanische Schwäche, dann ist sie eher in der anfälligen Infrastruktur des Landes zu finden, im Netzwerk seiner Verkehrswege, seiner Daten- und Versorgungsleitungen. Dafür gab es schon viele Indizien, bevor im August die Lichter in New York ausgingen.
Es spricht also viel dafür, die Dauerhaftigkeit der globalen Machtentfaltung Amerikas nicht zu unterschätzen. Das ist der Tenor der neuesten Literatur, die sich mit dem neuen amerikanischen «Imperialismus» auseinander setzt. Jenseits des Erschreckens über die politische Wendung der USA unter dem jüngeren Bush steht der Hinweis auf historische Kontinuitäten häufig an erster Stelle. Die Vereinigten Staaten sind von frühester Zeit an – schon als englische Kolonie im 17. Jahrhundert – durch ein spezifisches Verhältnis von Demokratie und Gewalt einerseits, von innerer und äußerer Gewalt andererseits geprägt worden. So mag es nahe liegen, alle Kriege der USA zur «Chronik einer aggressiven Nation» zusammenzutragen, wie Nicole Schley und Sabine Busse das getan haben, doch ein solches Kompendium erklärt überhaupt nichts.
Da sollte man
lieber zu der knappen und sachkundigen Analyse des Heidelberger
Historikers Detlef
Junker greifen, der die Verbindung von «Power and Mission», von
Machtanspruch und nationalem Sendungsbewusstsein verfolgt. Dann ist
man auch gegen die Vermutung gefeit, ein imperiales, von
Oligarchien oder Clans beherrschtes Amerika habe soeben ein
friedliches, demokratisches Amerika abgelöst. Demokratie und
Gewalt, das friedliche Wirtschafts- und Familienleben und die
imperiale Expansion gehörten vielmehr von Anfang an
zusammen.
Deshalb wurde der römische Feldherr Cincinnatus schon in der Gründungszeit der USA zum Ideal: Er stand für die Verbindung von agrarischer Demokratie und soldatischer Verteidigung des Vaterlandes. Der Klassizismus Amerikas war nicht griechisch (wie in Deutschland), sondern römisch, und wenn auf der Suche nach Maßstäben für die globale amerikanische Macht kein anderes Reich so häufig genannt wird wie das römische, steht das in bester Kontinuität des amerikanischen Selbstverständnisses.
Amerika und Rom – Weltmächte im Vergleich
Peter Bender, ein Großmeister der politischen Publizistik, hat diesen Vergleich in seinen einzelnen Aspekten durchbuchstabiert. Herausgekommen ist ein kühles und doch kraftvolles, ein gebildetes Buch im besten Sinne. Bender widersteht der Versuchung, offensichtliche Unterschiede zu übersehen oder den Vergleich in oberflächliche Pointen umzumünzen. Faszinierend ist, wie er – in der Manier Fernand Braudels – die politische Macht Roms und Amerikas und ihre historische Entfaltung auf der Grundlage ihrer räumlichen Situation analysiert, aus der Verschränkung von Land und Meer. Aus «Insulanern» wurden «Welteroberer». Eine platte Analogie zum Niedergang des Römischen Reiches erkennt Bender nicht – hier enden für ihn die Parallelen. Amerika bleibt schwächer als Rom und stärker zugleich. Die globale Zwangsmacht der Pax Romana bleibt ihm versagt. Man könnte mit Joseph Nye auch sagen: Ohne Soft Power ist die amerikanische Macht wirkungslos. Im Gegenzug übertrifft die kulturelle Stärke Amerikas, auf der die Soft Power ja wesentlich basiert, diejenige Roms.
In den USA selbst macht sich, von rechts bis links, kaum jemand Illusionen über die Existenz eines amerikanischen Empire. Die Frage ist nur, was es bedeutet und wie man als amerikanischer Bürger und Intellektueller damit umgeht. Ein von Ulrich Speck und Natan Sznaider herausgegebener Essayband ermöglicht Orientierung in dieser Debatte, mit exzellenten Autoren auf hohem gedanklichen Niveau. Auf neokonservativer Seite konstatiert Max Boot zufrieden, dass der Empire-Begriff inzwischen respektabel geworden sei, und so will er Amerika auch verstanden wissen: als «benevolenten Hegemon», der in einer chaotischen Welt wenigstens ein Minimum an Ordnung sichert.
Aus realistisch-liberaler Perspektive findet auch Michael Ignatieff, dass die Frage nicht lauten dürfe, ob Amerika zu mächtig ist, sondern: Ist es mächtig genug, jene Aufgaben im Nahen und Mittleren Osten wahrzunehmen, an denen andere Imperien gescheitert sind? Die verfrühten Prognosen über den Verfall der amerikanischen Macht kehrt er gewissermaßen um; das Empire Amerika braucht Zeit, doch Demokratien haben wenig Zeit, «und am ungeduldigsten ist Amerika».
Die moralisch-liberale Position ist mit Richard Rorty vertreten, der die Pax Americana zähneknirschend anerkennt, aber ihre Rückwirkungen auf das Innenleben der USA anprangert: Ist das Land «auf dem Weg zum Garnisonsstaat»? So doppelbödig die Innenpolitik der Vereinigten Staaten seit dem 11. September auch geworden ist, lässt sich dagegen doch die These vertreten, dass die aggressive Wendung nach außen geradezu die Funktion hat, Bedrohungen – echte oder unterstellte – nicht im Innern, als Polizeistaat, sondern bereits vor den Grenzen abzuwehren. Ist man einmal in Amerika, kann man sich dort noch immer freier bewegen als in den meisten europäischen Ländern, Deutschland eingeschlossen.
Verfolgt von VerschwörungstheorienAber wird Amerika nicht längst von einer kleinen Clique regiert, einem Mafia-ähnlichen Netzwerk skrupelloser Männer, das durch Verschwörung an die Macht gekommen ist oder nun selber Verschwörungen ins Werk setzt? Das ist für eine seit jeher existierende Gattung journalistischer Enthüllungsliteratur, die jetzt wieder Hochkonjunktur hat, natürlich nur eine rhetorische Frage (vgl. den Essay von Bernd Greiner, S. 16). Das Netzwerk der amerikanischen Konservativen um Bush und Cheney, Rumsfeld und Wolfowitz ist mittlerweile zur Genüge durchleuchtet worden, und Neues kommt dabei nur selten ans Tageslicht. Eric Laurent hat mit den «Kriegen der Familie Bush» bereits einen Klassiker des Genres geschrieben, jetzt legt er nach mit einer Beschreibung der «Neuen Welt des George W. Bush».
Meist geht es um zwei Antriebskräfte, die immer wieder als Schlüssel zum Verständnis Amerikas dienen: Religion und Ökonomie. In die Sprache der Eliten-Enthüller übersetzt heißt das: die Überzeugungen und Netzwerke des fundamentalistischen Protestantismus einerseits, die wirtschaftlichen Interessen und Verbindungen der Bush-Administration andererseits. Hundert Hinweise auf Cheney, Halliburton und das Öl haben aber nicht vermocht, die Motivation für den Irak-Krieg schlüssig zu erklären. Es ist wie meistens mit solchen Komplott-Theorien: Die Details sind gut recherchiert, aber das Gesamtbild nimmt bisweilen esoterische Züge an.
Steht hinter George W. Bush vielleicht das geheime Netzwerk einer Studentenverbindung an der konservativen Kaderschmiede Yale University namens «Skull & Bones»? Das will die Journalistin Alexandra Robbins herausgefunden haben. Bei näherem Hinsehen entweicht viel heiße Luft, man erfährt niedlich-schaurige Episoden aus der amerikanischen Studentenkultur, aber nichts über die Antriebskräfte amerikanischer Eliten und ihrer Politik.
Vielleicht lernt man mehr über Amerika, wenn man sich zu denen begibt, die unter seiner Vorherrschaft leiden, in Asien, Afrika, sogar in Europa. Auf diese Weise versuchen Ziauddin Sardar und Merryl Wyn Davies zu verstehen, woher eigentlich der Hass auf Amerika kommt. Ihr Blick auf die amerikanische Populärkultur nimmt die Perspektive der kulturell Kolonisierten und Marginalisierten ein, steht aber zugleich in bester amerikanischer Tradition der radikalen Gesellschaftskritik. Intelligente Einsichten wechseln sich dabei mit Klischees ab. Die Hyper-Moralisierung der Autoren – wie entmenschlichend wirkt doch der Hass! – schadet ihrem Buch, und die Ursachen des Hasses auf Amerika werden nur beim Gehassten, nicht bei den Hassern gesucht. Warum ist die amerikanische Massenkultur für Milliarden so attraktiv, wie profitieren Eliten in Ländern Afrikas oder Asiens, möglicherweise gegen die Interessen ihrer Bevölkerung, von einer forcierten Amerikanisierung?
Reise zum amerikanischen Mythos
Solche Widersprüche einer amerikanisch globalisierten Welt beschreibt Jedediah Purdy in seinem neuen Buch «Das ist Amerika» auf subtile und lakonische, auf persönliche und darum sehr überzeugende Weise. Was macht ein intellektueller Shooting-Star, der Autor von «For Common Things» (Das Elend der Ironie, siehe Literaturen 11/2002), jener aufrüttelnden Schrift über eine Rückkehr zum gemeinschaftlichen Engagement, nach dem sensationellen Erfolg seines ersten Buches? Er bringt sein Studium zu Ende und reist um die Welt, in die Krisen- und Überlappungszonen globaler und lokaler Kulturen, um im Dialog mit Menschen in Ägypten und Indien, Mexiko und China sein eigenes Land besser zu verstehen.
Amerika-Kritik als Reisebericht: das folgt dem Muster, das kürzlich schon Mark Hertsgaard mit «Im Schatten des Sternenbanners» vorgegeben hat. Diesmal hat Purdy nicht den konzentrierten Traktat mit der eindeutigen Botschaft geschrieben, aber gleichwohl wieder ein Buch des gelassenen und präzisen Erzählens über Begegnungen und Lebensläufe, in denen Formeln wie die von der «kulturellen Hybridität» ein Gesicht erhalten: etwa das der jungen ägyptischen Juristin Ingy.
Diese Begegnungen projiziert Purdy zurück auf sein eigentliches Ziel, Amerika zu verstehen und zu definieren. Dabei stellt er sich in die Tradition des romantischen Individualismus aus der Mitte des 19. Jahrhunderts: Walt Whitman, Thoreau, Emerson, was seine Neigung zu einer idealisierten Sichtweise Amerikas verstärkt. Hat sich für «die Amerikaner» der Mythos des Reichtums erfüllt? Kritische Reportagen wie die Barbara Ehrenreichs über die Armut der untersten Dienstleistungsklasse in den USA sprechen eine andere Sprache. Die Ratschläge, die Purdy seinem Land gibt, sind diesmal eher diffus – man gewinnt fast den Eindruck, als scheue er, der nach seinem ersten Buch jedermanns geliebtes Kind sein konnte, nun vor einer eindeutigen Festlegung zurück, um ja nicht einem politischen «Lager» zugerechnet zu werden.
Also kehren wir zurück nach Amerika und suchen das Fundament seiner Gesellschaft und Kultur zwischen New York und Los Angeles: Religion und Kommerz – bilden sie den Grund für den «amerikanischen Sonderweg»? Inzwischen ist es ein Gemeinplatz, zwischen dem religiösen Amerika und dem säkularen Europa zu unterscheiden. Aber die Kenntnisse über amerikanische Religiosität, besonders den Protestantismus und seine politische Wirkung, sind sehr begrenzt. Abhilfe schafft da ein ausgezeichneter Überblick von Rainer Prätorius – informiert, differenziert und geschichtsbewusst. Wer bereit ist, Vorurteile über Bord zu werfen, sollte dieses Buch lesen.
Prätorius schlägt eine Unterscheidung zwischen «Religion 1» und «Religion 2» vor: Religion als spezifische Konfessionalität und organisierte Glaubenspraxis einerseits, Religion als allgemeine Grundhaltung andererseits, wie sie die Public Religion der USA bestimmt. Er erinnert auch an die – in Europa unterschätzte – Bedeutung der Säkularität des amerikanischen Staates, der strikten Trennung von Religion und Politik. Paradoxerweise wird gerade dadurch Religion öffentlich sichtbar und zum Gegenstand politischer oder juristischer Konflikte, denn um diese Grenzziehung wird in den USA viel erbitterter gestritten als in Deutschland (mit seiner Verflechtung von Kirche und Staat, aber säkularen Kultur) oder in Frankreich (mit säkularer Kultur und legaler Trennung).
Arrogante Europäer besichtigen Las Vegas
Und dann die amerikanische Ökonomie, der Kommerz, der ungezügelte Konsum. Es gibt die ortlosen Symbole dieses Konsums wie das McDonald’s-Zeichen, aber wenn es einen konkreten Ort gibt, der den amerikanischen Traum vom Konsumvergnügen in sich konzentriert hat, dann ist es Las Vegas, die von der schmuddeligen Spielhölle zum glitzernden Familien-Resort mutierte Stadt in der Wüste. Vielleicht ist auch das ein Klischee – aber wenn die Amerika-Beschreibung so richtig heiß flirren soll, dann ist französische Essaykunst gefragt, wie sie Jean Baudrillards Amerika-Buch vorexerziert hat. Jetzt entwirft Bruce Bégout ein flackerndes Bild der «Zeropolis» Las Vegas, der Stadt im Nichts und aus dem Nichts.
Das liest sich gut und süffig, aber man sollte wissen, dass es mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun hat. Las Vegas eine «oberflächliche» Stadt zu nennen reproduziert nur eines der einfältigsten Vorurteile über Amerika. Um sachliche Präzision geht es auch nicht – keineswegs sind die Casino-Hotels die ersten Beispiele jener Privatisierung des öffentlichen Raumes gewesen, die Amerika und Europa in der Tat unterscheidet; bereits seit den fünfziger Jahren sind ihnen hier die großen Shopping Malls vorangegangen, wie man jetzt in der brillanten Studie von Lizabeth Cohen über die amerikanische Konsumkultur der Nachkriegszeit erfahren kann. Trotzdem werden manche bei Bégout finden, was sie erwarten und vielleicht schätzen: den Topos der Morbidität, der gottlosen Stadt Sodom. Und jene beruhigende europäische Arroganz, die sich bei Bégout sogar auf diejenigen Menschen erstreckt, die in der Unterhaltungsindustrie von Las Vegas arbeiten. Jedes einzelne Foto eines Las-Vegas-«Showgirl» von Annie Leibovitz (im Bildband «Women») sagt mehr über die ganz normalen Menschen von Las Vegas aus. Aber nicht jeder kann so gut fotografieren. Deshalb müssen auch weiterhin viele schreiben.
Was bleibt, ist höchstens eine Zwischenbilanz. Es bleibt das Problem, Amerika von innen wie von außen zu verstehen. Amerikanische Selbstwahrnehmung und europäische Fremdwahrnehmung liegen ebenso auseinander, wie es kaum jemandem – gleich welcher Herkunft – gelingt, das äußere und das innere Amerika, das Empire und die multikulturelle Gesellschaft, die kriegführende Nation und den Alltag zwischen Familie, Religion und Kommerz schlüssig zu deuten. Es bleibt aber auch die Einsicht, die derzeitigen Aufgeregtheiten im Amerika-Europa-Diskurs nicht zu überschätzen. Dieser Streit ist so alt wie Amerika selbst, genauer: wie die europäische Expansion nach Amerika. Denn Amerika, das ist immer noch der in der Wildnis ausgesetzte Bastard Europas.
Paul Nolte ist Professor für Geschichte an der International University in Bremen. Zuletzt veröffentlichte er das Buch «Die Ordnung der deutschen Gesellschaft».
Erwähnte Bücher
Bruce Bégout
Zeropolis. Las Vegas als Sinnbild des amerikanischen
Traums
Aus dem Französischen von Stefan Linster.
Liebeskind, München 2003. 144 S., 17,50 €
Peter Bender
Weltmacht Amerika. Das neue Rom
Klett-Cotta, Stuttgart 2003. 295 S., 19,50 €
Detlef Junker
Power and Mission. Was Amerika antreibt
Herder, Freiburg i. Br. 2003. 191 S., 19,90 €
Charles Kupchan
Die europäische Herausforderung. Vom Ende der Vorherrschaft
Amerikas
Aus dem Amerikanischen von Friedrich Mielke.
Rowohlt, Berlin 2003. 319 S., 19,90 €
Eric Laurent
Die neue Welt des George W. Bush. Die Machtergreifung der
Ultrakonservativen im Weißen Haus
Aus dem Französischen von Karin Balzer, Karola Bartsch, Ulrike
Bischoff und Udo Rennert.
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2003. 224 S., 16,90 €
Michael Mann
Die ohnmächtige Supermacht. Warum die USA die Welt nicht
regieren können
Aus dem Englischen von Thomas Atzert.
Campus, Frankfurt a. M. 2003. 357 S., 24,90 €
Rainer Prätorius
In God We Trust. Religion und Politik in den
USA
C. H. Beck, München 2003. 210 S., 12,90 €
Jedediah Purdy
Das ist Amerika. Freiheit, Konsum und Gewalt in der
globalisierten Welt
Aus dem Englischen von Ilse Utz.
Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2003. 369 S., 24 €
Alexandra Robbins
Bruderschaft des Todes. Skull & Bones, der Geheimorden
hinter George W. Bush
Aus dem Englischen von Andrea Panster.
Diederichs, München 2003. 283 S., 22 €
Ziauddin Sardar, Merryl Wyn Davies
Woher kommt der Hass auf Amerika?
Aus dem Englischen von Susanne Klockmann.
Zu Klampen, Springe 2003. 224 S., 14,80 €
Nicole Schley, Sabine Busse
Die Kriege der USA. Chronik einer aggressiven
Nation
Diederichs, München 2003. 272 S., 19,95 €
Ulrich Speck, Natan Sznaider (Hg.)
Empire Amerika. Perspektiven einer neuen
Weltordnung
DVA, München 2003. 278 S., 16,90 €
Emmanuel Todd
Weltmacht USA. Ein Nachruf
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer und Enrico Heinemann.
Piper, München 2003. 265 S., 13 €
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