Kaputt. 1945 - Das Gespenst des Patriotismus

Weltkriegs-Journalismus made in Germany: Die umstrittene Publizistin Margret Boveri wird mit ihren Berliner Aufzeichungen zum Kriegsende 1945 wiederentdeckt. Ein Portrait

«Ich glaube, was sich in Berlin ereignen wird, wird symbolisch sein fürs Ganze, und dies mitzuerleben bin ich doch zurückgekommen.» Die Journalistin Margret Boveri, die diesen Satz im März 1945 schreibt, fühlt sich beruflich verpflichtet, das chaotische Kriegsende festzuhalten – den Krieg kennt sie bisher eher aus der schützenden Distanz des Auslands als aus unmittelbarer Anschauung. Die Auslandskorrespon-dentin der «Frankfurter Zeitung» hatte bis 1943 in Schweden und den USA gearbeitet und war durch unzählige Länder gereist. Dass sie 1944 nach Berlin zurückkehrt, nehmen ihre deutschen Kollegen mit Entsetzen zur Kenntnis.

Man rät ihr, das Kriegsende im sicheren Ausland abzuwarten, aber Margret Boveri, «die Boveri», ist eine Ausnahme-Journalistin: nicht nur als Frau in einer komplett männlich bestimmten Presse-Landschaft, sondern auch als Charakter. «Eine kleine, kantige Person», schreibt eine Kollegin, «die keine Konzessionen an weibliche Eitelkeit machte. Sie trug derbes Lodenzeug, Schuhe wie für eine Bergwanderung und einen alten Brotbeutel aus Segeltuch, in dem sie ihre wichtigen Habseligkeiten, darunter eine der kostbar gewordenen Glühbirnen, verwahrte.» Diese kantige Person zieht es in die Stadt, die die meisten verlassen wollen, und dort hält sie genau das fest, was die Mehrheit der Bewohner erst einmal für Jahrzehnte aus dem Gedächt­nis radiert: die Bomben, den Hunger, die Plünderungen, die Gewalt und den Kampf ums nackte Überleben.

Zwischen Februar und September 1945 verfasst sie eine Chronik in Briefform, in der die Monstrositäten des Berliner Alltags ebenso dokumentiert sind wie ihre Speku­lationen über die weltpolitische Lage. Nur ein Bruchteil dieser Briefe erreicht die Adressaten, doch Margret Boveri rettet ihre Abschriften durch die Wirren des Kriegsendes und publiziert sie 1968 unter dem Titel «Tage des Überlebens». Ihre Chronik vom Kriegsende sowie ein Reisebericht über den Orient von 1938 wurden jetzt wieder aufgelegt; auch die ebenso detailfreudige wie spannende Boveri-Biografie der Historikerin Heike B. Görtemaker erscheint in diesem Frühjahr der Kriegs-Publikationen. Margret Boveri wird im richtigen Moment wiederentdeckt, denn kaum eine Journalistin hat sich so hartnäckig mit der Vaterlandstreue zu Kriegszeiten beschäftigt wie sie, und selten lässt sich das Phantasma des Patriotismus so deutlich beobachten wie in ihren Lebenszeugnissen.


Lungenblutwurst vom Pferd

Im Frühjahr 1945 sammelt Boveri zunächst einmal alle Informationen, die in der umkämpften Hauptstadt noch zu haben sind, und versucht, sich vom Näherrücken der Front ein Bild zu machen: Anfangs verfolgt sie den Wehrmachtsbericht, hört Feindsender, wenn es gerade Strom gibt, und fragt die vorbeiziehenden, äußerlich wie innerlich zerrütteten Soldaten der Wehrmacht aus. Später, nach dem Einmarsch der Roten Armee und der Ankunft der Amerikaner, beobachtet sie das Verhalten der Sieger und versucht, die weltpolitische Lage dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Sie registriert die Spannungen zwischen den Besatzungsmächten und erahnt früh die Konsequen­zen, die das Aufeinanderprallen von Ost und West in der deutschen Hauptstadt nach sich ziehen wird.

Aber es sind vor allem die Details im Existenzkampf, die Margret Boveri so lakonisch wie effektvoll vermerkt. Ein Fahrrad wird zum fast schon lebenswichtigen Gut, das ständig vor plündernden Russen verteidigt werden muss. Wasser schafft man mühevoll in Eimern heran, und Holz stiehlt sich Frau Boveri in der weiteren Umgebung zusammen. In einer seltsamen Mischung aus Sachlichkeit und Sarkasmus hält sie fest, wie mit dem Hunger Schritt für Schritt die Schranken der Erziehung fallen. Ein «halbes, noch warmes Pferd auf dem Trottoir» wird von den Hausbewohnern sofort in Einzelteile zerlegt. «Von der Lunge trieb ich doch schon die Hälfte durch und machte mit Zwiebel, Thymian und einer Einbrenn eine sehr köstliche Lungenblutwurst, womit ich nun wieder einen Brotaufstrich habe. Während diese Metzelei noch im Gang war, rief Herr Mietusch, der erste russische Wagen fahre durch unsere Straße. Dies historische Ereignis mußte ich mir entgehen lassen, denn sonst hätte ich das Blut auch ins Vorderzimmer gebracht.» Das Pferdefleisch isst Boveri im Mai; im Juli ernährt sie sich zeitweise von den Abfällen der Amerikaner: «Bevor ich diesen Sonntag beende, sollte ich doch noch ein Gedicht auf den amerikanischen Müll schreiben. Ich bin satt», notiert sie und lobt «die Reste eines Müll-Reispulver-Puddings». Berlin ist kaputt, und die Wucht dieser Erkenntnis scheint sich gerade darin zu spiegeln, dass Absurdes und Brutales so nahtlos ineinander übergehen.

Was treibt diese Frau, fragt man sich, was erhält sie am Leben mitten im Chaos? Die dichtesten Abschnitte in diesem Bericht handeln von den Büchern, die die Journalistin im Frühjahr 1945 liest. Am 3. Mai bereitet sie den Not-Rucksack für eine mögliche Flucht vor: «1 Band Rilke, 1 Band Jünger, 1 Band Goethe» sind da aufgelistet – fast schon ein Konzentrat des Bildungsprozesses, den die um 1900 in Deutschland Geborenen durchlaufen haben. In Curzio Malaparte hat Margret Boveri auch eine italienische Komplementärfigur: Der scharfe journalistische Blick auf die Gewalt des Krieges, das Gespaltensein zwischen den verschiedenen Nationalitäten der Eltern, und vor allem die als Patriotismus verstan­dene Haltung ähneln sich – Letztere wirkt bei beiden wie ein Accessoire des 19. Jahrhunderts und wird ihnen später als mangelnde Distanz zum totalitären Regime vorgeworfen.


Leben zwischen zwei Welten

Journalismus gilt in den großbürger­lichen Kreisen, denen Margret Boveri entstammt, nicht gerade als reputierlich. Und doch – oder gerade deswegen – entwickelt sich die Würzburger Professorentochter zu einer bekannten Redakteurin und Auslandskorrespondentin, deren Kar­riere im «Dritten Reich» beginnt und in der jungen Bundesrepublik einen zweiten Höhepunkt verzeichnet. Nicht nur ihre außenpolitischen Artikel, auch die «Amerikafibel» von 1946 und die in den fünfziger Jahren verfasste große Studie über den «Verrat im 20. Jahrhundert» machen sie zu einer in der publizistischen Öffentlichkeit ebenso gefragten wie umstrittenen Figur.

Geboren im Jahr 1900 als Tochter des deutschen Zoologen Theodor Boveri und der amerikanischen Biologin Marcella O’Grady, wächst Margret in zwei Welten auf – einer altfränkischen, vom Wissenschafts-Ideal des 19. Jahrhunderts geprägten, und einer modernen, amerikanischen, in der die Frauen der höheren Gesellschaftsschichten schon längst studieren können. Weite Reisen, internationale Freundschaften und eine intensive Briefkultur gehören ganz selbstverständlich zum Leben der Familie. Der Vater ist mit Wilhelm Conrad Röntgen befreundet, mit dem auch Margret in engem Kontakt steht, und die Mutter nimmt ihre Tochter schon früh in die USA mit. Schreiben gehört von Anfang an zu ihrem Leben: Als Kind muss Margret ihren Tagesablauf schriftlich festhalten, und selbst von der Erwachsenen verlangt die Mutter genaue Berichterstattung in allen Lebenslagen. Den frühen Tod ihres Vaters – Theodor Boveri stirbt 1915 – bezeichnet Boveri als «Amputation», als ersten einschneidenden Verlust in ihrem Leben.


Amerika, du hast es schlechter

Zum Kummer der Mutter, die ein naturwissenschaftliches Fach vorgezogen hätte, studiert Margret Germanistik, Anglistik und Geschichte und promoviert bei dem Historiker Hermann Oncken mit einer Arbeit über englische Außenpolitik. Nach einigen Krisen – von der Universität ist sie enttäuscht, weil sie ihr kein sinnerfülltes Weltbild bieten konnte – steht ihr Berufswunsch Ende der zwanziger Jahre fest: Sie will Journalistin werden und über außenpolitische Themen schreiben. Als Tochter einer wohlhabenden Familie – ihr Onkel ist der Mitbegründer der Schweizer Motorenfabrik «Brown, Boveri & Cie.» – muss sie vorerst nicht aufs Geld achten, fährt mit einem eigenen Auto durch die Gegend und kann sich sogar Flugstunden leisten. Die Liebesaffäre mit einem Fluglehrer macht ihr dabei deutlich: Die Rolle der Gattin und Mutter liegt ihr nicht, und auch ihre spätere Beziehung mit einem amerikanischen Biologen hält nicht lange.

«Als kleines Kind habe ich geschrien, wenn meine Mutter mir die Haare gewaschen hat. Wenn unser Mädchen es tat, war ich still und zufrieden. Die Hände meiner Mutter konnte ich nicht ertragen», schreibt Margret Boveri am Beginn ihrer Autobiografie «Verzweigungen» und liefert eine entscheidende Deutung ihrer deutsch-amerikanischen Wurzeln gleich mit, denn zwei Prinzipien scheinen in ihr aufeinander zu stoßen: «Das war für mich zuviel, glaube ich jetzt zu wissen. Ich lehnte das eine ab, haßte es: das amerikanische, die Mutter; das kam noch zum Körperlichen und zu dem, was durch Freud inzwischen Allgemeinwissen geworden ist.»

Tatsächlich wird ihr alles Amerikanische zum roten Tuch. Immer stärker setzt sie sich, ihr Deutsch-Sein hervor­hebend, von der Mutter ab, bleibt aber gleichzeitig lebenslang mit Marcella Boveri verbunden, die wieder in die USA zieht und dort eine Professur annimmt. «Wir mögen ja in Deutschland sehr zurück sein, aber wir haben doch auch einige hygienische Kenntnisse und viele Bücher über Körperkultur», schreibt sie 1926 der Mutter, die sich Sorgen um die ewig kranke Tochter macht, «als Deutsche ziehe ich vor, mich derselben zu bedienen.»

Anti-Amerikanismus ist auch eine Konstante im publizistischen Leben Boveris. Die Propaganda-Vorgaben aus Goebbels’ Ministerium befolgt sie 1940, auf einer Amerika-Rundreise als Korrespondentin der «Frankfurter Zeitung», indem sie alles Demokratie-Unverträgliche in den USA hervorhebt – etwa die Diskriminierung der Schwarzen. Immer wieder weist sie auf die Geschichts­losigkeit des Landes, auf seine Standardisierung hin – Amerika erscheint ihr als seelenlose Fortschritts-Maschi­nerie, in der individuelle Unterschiede wegformalisiert werden. Doch wäre es falsch, ihre Abneigung gegen die USA allein auf eine psychologische Frontstellung gegen die energische Mutter zurückzuführen.


Durchhalten, ohne dazuzugehören

Die grundsätzliche Distanzierung von allem Amerikanischen wurzelt auch – und hier zeigt sich die historische Dimension der Figur Boveri – im spätromantischen, zu Beginn des 20. Jahrhunderts fortgeschriebenen Dualismus von Tiefe und Oberfläche, Geist und Geld, Leben und Mechanik. Gegensätze wie «Gemeinschaft und Gesellschaft», etwa aus Ferdinand Tönnies’ soziologischem Werk, in dem die warme, authentische Gemeinschaft gegen die kalte, seelenlose Gesellschaft abgegrenzt wird, ließen sich umstandslos zwischen Alter und Neuer Welt verteilen: Amerika steht in diesem antithetischen Weltbild für eine bloß mechanische Gesellschaft ohne inneren Zusammenhalt, die Alte Welt für eine Gemeinschaft, in der Sitten und Werte gelten. «Der Amerikaner» konnte im Zuge dieser Kollektivsymbolik zum Vertreter einer «anderen Rasse» werden, wie Boveri in den vierziger Jahren schreibt, gänzlich losgelöst von seiner europäischen Vorgeschichte. 1926 entdeckt Boveri Oswald Spenglers kulturpessimistisches Werk «Der Untergang des Abendlandes» und ist beeindruckt: Hier finden sich die Gegensatzpaare, mit der die Welt in eine zerfallende Hochkultur und eine technisierte Moderne eingeteilt wird. In den vierziger Jahren liest sie die Schriften Ernst Jüngers, korrespondiert mit dem konservativen Revolutionär Armin Mohler und mit Carl Schmitt, dem umstrittenen Theoretiker des «Ausnahmezustands».

Untrennbar verbunden mit ihrer Ablehnung des amerikanischen Prinzips ist die rückhaltlose Loyalität dem Vaterland gegenüber. Doch man darf sich Boveri nicht als deutschtümelnde Nationalsozialistin vorstellen. Ganz im Gegenteil begründet sie ihr Bleiben in der Diktatur gerade mit einem unkorrumpierbaren Patriotismus, der eben nicht flüchte, wenn es darauf ankomme. «Dazu stehen», «dableiben», «ausharren» sind die Vokabeln, die immer wieder hervor­stechen – Heike B. Görtemaker hat Hunderte von Briefen Boveris an Freunde und Kollegen in ihre hervorragende Biografie eingearbeitet und legt damit die ideologischen und emotionalen Koordinaten einer Mentalität frei, die durchhält, ohne dazugehören zu wollen. Die Frage, ob man «seinem Land im Krieg in den Rücken fallen» dürfe, habe sie, so schreibt Boveri im August 1945 an einen Freund, für sich immer verneint. Damit bewegt sie sich nicht nur im Argumentations-Schema der «Inneren Emigration»; vielmehr werden die Wurzeln einer rückwärtsgewandten Moderne-Kritik sichtbar, die an einem überzeitlichen, schicksalhaften Deutschtum festhält – und Demokratie letztlich als wenig attraktive Angelegenheit für Kleinbürger begreift.


«Wir lügen alle»: Journalistin im «Dritten Reich»

1934 beginnt Margret Boveri ihre journalistische Karriere mit der festen Überzeugung, in den Lücken der gleichgeschalteten Presse gegen das Hitler-Regime arbeiten zu können. Und noch nach dem Krieg besteht sie lange darauf, dass ihr Weitermachen dem aufmerksamen Leser ein «Zwischen-den-Zeilen-Lesen» ermöglicht habe. Von 1934 bis 1937 ist sie Redakteurin beim «Berliner Tageblatt», danach reist sie, bis zu deren Verbot 1943, für die «Frankfurter Zeitung» um die Welt. Beide Blätter waren Restbestände der liberalen Presse aus der Weimarer Republik. Ob sie nicht vielmehr als Feigenblätter einer an­geb­lich freien und oppositionellen Berichterstattung für das Ausland herhalten mussten, wollte oder konnte Boveri sich nicht fragen.

Der Einstieg in die «Frankfurter Zeitung» war allerdings nicht einfach, denn das Blatt erwies sich als hartnäckiger Herrenclub, an dessen Redaktionssitzungen bis dato keine Frau teilgenommen hatte. Jahrelang musste Boveri um die Anerkennung ihrer männlichen Kollegen kämpfen. Vor ihrer eigentlichen Aufnahme in die Redak­tion stand deshalb eine Reise in den Orient, mit der Boveri ihre Eignung als Korrespondentin unter Beweis stellen sollte. Im Frühjahr 1938 fährt sie mit dem Auto – mit von der Partie ist eine langjährige Freundin – quer durch die Türkei bis nach Syrien, Irak und Iran. «Ein Stück weit hinter Tarakli hört der Motor auf zu laufen, aus Mangel an Gaszufuhr. Ich schreibe es der Hitze zu und kühle die Benzinleitung. Es ist inzwischen Mittag, und ich beschließe, den Vergaser abzumontieren. An einige Schrauben kommt man schlecht heran. Doris und ich liegen abwechselnd unter dem Auto. Eine Bauernfrau, die nur meine Beine unter dem Wagen hervorstehen sieht, fragt Doris, ob ich ihr Mann sei.»

Boveris Blick für die Eigenheiten von Landschaft und Leuten ist bestechend; so lakonisch und humorvoll berichtet sie von dieser Reise, dass man die weltpolitischen Begleitumstände fast vergisst: Selbst im fernen Teheran gibt es einen NSDAP-Ortsgruppenleiter, den sie als Ange­hörige der deutschen Presse zu besuchen hat. Auch später, als Korrespondentin in Schweden, den USA und Portugal, stehen ihr zwar die Informationen der internationa­len Presse zur Verfügung, sie muss sich aber an die «Sprachregelungen» halten, die das Propaganda-Ministerium für die Berichterstattung aus dem Ausland vorgibt.

Aber auch Boveris politische Einstellung scheint mit den Jahren immer schwankender zu werden. Von
ihrer ursprünglichen, als liberal verstandenen Haltung hat sie sich schon weit entfernt, immer skeptischer äußert sie sich über die Demokratie der «faden» Schweden oder der «standardisierten» Amerikaner, und immer bissiger wird sie, wenn man im Ausland «deutsch» mit «Nazi» gleichsetzt. Sie reist im Dunstkreis der nationalsozialistischen Diktatur, ohne dazugerechnet werden zu wollen, und gerade die Kritik, die man ihr entgegenbringt, scheint die trotzige Loyalität gegenüber Deutschland noch zu verstärken. «I am a loyal German», antwortet sie, als sie im amerikanischen Internierungslager nach ihrer Haltung zu Deutschland gefragt wird.


Eine Wende nach dem Krieg

Dennoch wäre es unzutreffend, Boveri als konservative Revolutionärin abzustempeln und sie jener Altherren-Riege zuzurechnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in quasi aristokratischer Attitüde vor sich hin verbittert. Dafür ist sie zu wach und zu neugierig auf alles, was sich um sie herum verändert. Nach dem Krieg schreibt sie gegen die deutsche Teilung und gegen Adenauers Politik der Westbindung an. In ihr sieht sie die Zementierung der Verhältnisse, die eine Wiedervereinigung vereiteln. Damit macht sie sich keine Freunde bei der neu gegründeten «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», deren strikter Adenauer-Kurs nicht allzu viel Dissidenz verträgt. Boveri ist kein festes Redaktionsmitglied mehr und arbeitet frei für verschiedene Organe wie die «Badische Zeitung» oder den «Merkur». In den fünfziger Jahren verfasst sie ihre groß angelegte, vierbändige Studie über den «Verrat im 20. Jahrhundert»: Patriotismus könne nicht mehr im «Boden» oder der «Landschaft» wurzeln, die moderne Nation sei keine Angelegenheit des Herzens mehr. Der freischwebende Mensch der Moderne ist für Boveri, nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs, verdammt zur Treulosigkeit in Vaterlandsfragen.

Im Gegensatz zur großen Mehrheit ihrer Kollegen, die mehr oder weniger umstandslos in die neue Presselandschaft hinübergleiten, stellt sie sich selbst spät noch einmal existenziell infrage. Auch ihren politischen Kurs ändert sie grundlegend, indem sie Willy Brandts Ostpolitik unterstützt: Boveri, so erklärt Görtemaker, sah in dieser Wende vom Postulat der Wiedervereinigung hin zur Akzeptanz zweier deutscher Staaten «die Voraussetzung für eine Befriedung des Verhältnisses geschaffen». Und sie lernt Uwe Johnson kennen, dessen Bücher sie bewundert: Hier sieht sie das Thema der deutschen Teilung literarisch aufgehoben.

Johnson ringt ihr schließlich die Autobiografie ab, die zu schreiben sie immer wieder gezögert hatte. Beklemmend und aufschlussreich ist jene Passage der «Verzweigungen», in der Uwe Johnson fragt, was sie in der «Reichskristallnacht» getan habe: Boveri fährt sofort zu jüdischen Bekannten und versucht sie zu unterstüt­zen. Doch als Journalistin bleibt sie stumm. Hier wie an vielen Stellen dieser Autobiografie, die eher ein Zwiegespräch mit dem mehr als dreißig Jahre jüngeren Johnson ist, bricht die Hilflosigkeit hervor, mit der die weit gereiste, weltläufige Journalistin als fast Siebzigjährige auf ihr Leben zurückschaut. Im Gespräch mit dem Schriftsteller lässt sie zum ersten Mal die Frage gelten, warum sie, entsprechend ihrer Möglichkeiten, nicht emigriert sei. An ihrem Ehrbegriff scheint sie allerdings festzuhalten – Margret Boveri fühlte sich soldatischen Tugenden verpflichtet, doch die Geradheit, die Treue und Loyalität, die ihr vorschwebten, stammten aus dem Tugendkatalog eines vergangenen Jahrhunderts.

 

Bücher von und über Margret Boveri

Tage des Überlebens. Berlin 1945
Wolf Jobst Siedler jr., Berlin 2004. 327 S., 22 €
Wüsten, Minarette und Moscheen
Wolf Jobst Siedler jr., Berlin 2005. 280 S., 22 €
Verzweigungen. Eine Autobiographie
Hg. von Uwe Johnson.
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1996. 438 S. (antiquarisch erhältlich)
Amerikafibel für erwachsene Deutsche
Minerva, Berlin 1946. 112 S. (vergriffen)
Der Verrat im 20. Jahrhundert. 4 Bände
Rowohlt, Reinbek 1956–1960. Zus. ca. 650 S. (antiquarisch erhältlich)

Heike B. Görtemaker
Ein deutsches Leben. Die Geschichte der Margret Boveri 1900–1975
C. H. Beck, München 2005. 416 S., 26,90 €

David Dambitsch
Eine Dame von Welt. Die politische Journalistin Margret Boveri. CD
Talking Books/AirPlay, München 2005. 76 Min, 12,90 €

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