- Das Fleisch ist schwach, der Weltgeist ausgelaugt
Wie Rafael Chirbes einen spanischen Baulöwen und Umwelt-Zerstörer zum Romanhelden macht, ihm aber weder Wut noch Verzweiflung gönnt
Als die Tageszeitung «El Pais» im vergangenen Jahr eine Reihe von Reportagen über Spaniens urbanisierte Mittelmeerküste veröffentlichte, konnte man Schlagzeilen lesen wie «Die 200-Kilometer-Mauer aus Zement» oder «Das Paradies des Betons». Tatsächlich gehört die rücksichtslose Bebauung der Küstenzone zu den großen ökologischen Desastern des Landes. Zugleich ist sie die hässlichste Seite eines lang andauernden wirtschaftlichen Aufschwungs, der erst durch die jüngste Hypothekenkrise ins Stocken geriet und der im ausufernden Bauboom nur besonders großflächig zum Ausdruck kam. Als Schlüssel- und Symbolfigur für das aktuelle Spanien gute dreißig Jahre nach Francos Tod ist ein Bauunternehmer von der Küste jedenfalls keine schlechte Wahl.
Diese Wahl hat Rafael Chirbes getroffen, ein Schriftsteller, der selbst nahe der Costa Blanca lebt und die brutale Urbanisierung dort Schritt für Schritt beobachten konnte. Im Zentrum seines neuen Romans «Krematorium» steht der unersättliche, abgebrühte, stinkreiche Baulöwe Rubén Bertomeu, verantwortlich für die Beton-Wucherungen rund um das fiktive Städtchen Misent. Doch Bertomeu wird von Chirbes weniger als großer böser Hecht, sondern eher als Köder besetzt. In ihm kristallisiert sich die Gegenwart zwar besonders klar; je näher man allerdings seiner Gestalt kommt, desto weiter öffnet sich das Feld. Um ihn herum werden Mitstreiter sichtbar, Frauen, die Familie. Viele bekommen ihre eigene Stimme. Und bald schon kreist das Buch gar nicht mehr um den Bauunternehmer. Dieser befindet sich vielmehr, gemeinsam mit den anderen Figuren, in einer ausgreifenderen Umlaufbahn, in der es auch recht grundsätzlich darum geht, was man heute wohl vom Menschen und was dieser vom Leben erwarten darf.
Rafael Chirbes ist ein Spezialist für panoramatische Blicke auf Spaniens Zeitgeschichte. Sein Roman «Der lange Marsch» widmete sich parallelen Lebensläufen in den Jahrzehnten nach Francos furchtbarem Sieg 1939. «Der Fall von Madrid» zog eine Reihe von Schicksalen am Todestag des Diktators 1975 zusammen. In «Alte Freunde» (siehe „Literaturen” 1–2/2005) wurde ein einziges Abendessen ehemaliger Vertrauter zu einer vielstimmigen Abrechnung mit dem Aufbruchsgeist der transición und dem nüchternen Alltag in der Demokratie. «Krematorium» schreibt diese Abrechnung nun in gewisser Weise fort. Manche Motive und Typen tauchen im neuen Roman wieder auf. Zugleich ist Chirbes zum ersten Mal ganz in der Gegenwart angekommen. Zweifellos ein zusätzlicher Reiz, denn Bücher, die auf ähnlich entschiedene Weise die Jetztzeit einkreisen und festhalten wollen, sind in der spanischen Literatur selten. Dies – unter anderem – hat «Krematorium» den spanischen Nationalpreis der Kritik 2008 eingetragen.
Auch stilistisch
und im Aufbau setzt Chirbes seine bisherige Arbeit fort. Abermals
wird das Handlungsgerippe auf einen Tag konzentriert, in diesem
Fall auf den Todestag von Rubén Bertomeus Bruder Matías. Abermals
besteht jedes Buchkapitel aus dem inneren Monolog einer einzelnen
Figur.
13 absatzlose Kapitel haben auf 420 Seiten Platz, dreimal kommt
dabei Rubén selbst zu Wort, in den übrigen Monologen taucht er oft
an entscheidenden Stellen auf. Jedes Kapitel für sich ist eine
Mischung aus Beobachtung, Bewusstseinsstrom und Bilanz. Kindheiten
passieren Revue, Illusionen und Desillusionen werden besichtigt,
Familienverhältnisse analysiert; es wird schmutzige Wäsche
gewaschen und hinausgeschaut in die Wirklichkeit. Der häufige
Wechsel von Tonlagen und Blickrichtungen ist dabei eingebettet in
einen Textfluss von erheblicher Geschmeidigkeit und Eleganz, dessen
Leuchtkraft Dagmar Ploetz großartig ins Deutsche herübergerettet
hat.
Krematorium – das
ist jener Ort, an dem Matías Bertomeu eingeäschert wird.
Krematorium – das ist zugleich die sommerlich gleißende
Küstenregion, übersät von Rubéns weißen Wohnblöcken. Krematorien
wären womöglich auch die Autos, die sich in flirrendem Licht von
Stau zu Stau schleppen. Doch glücklicherweise gibt es Klimaanlagen,
weshalb der Mittsiebziger Rubén und seine bald fünfzigjährige
Tochter Silvia, beide je für sich verloren im Verkehr, wenigstens
wohltemperiert ins Grübeln geraten.
Aber Krematorium – das ist schließlich auch ein Sinnbild für eben jenes Grübeln: Bei Chirbes «verbrennt» das schweifend denkende Ich gewissermaßen einen Gutteil seiner Erinnerungen und Träume, indem es diese einer skrupellosen Revision unterzieht. Wem diese Gnadenlosigkeit gegen sich selbst versagt ist – wie etwa Rubéns blutjunger Frau Mónica –, den desavouiert der Autor im Zweifelsfall durch ein inneres Geplauder von sprechender Schlichtheit. Niemand kommt hier jedenfalls ungeschoren davon, auch der Tote nicht, trotz seiner bis ans Lebensende gepflegten Protestgesinnung.
Dass Rubén seinen Reichtum mit einem Drogen-Deal begründete; dass bei der Erschleichung von immer mehr Bauland stets korrupte Beamte im Spiel waren; dass die Küste ihren Charme umso schneller verlor, je offener der vermarktet wurde – all diese politischen Knotenpunkte des mediterranen Monopoly werden zwar nicht ausgespart; sie treten aber nie in den Vordergrund. Hier stehen einander nicht die verderbten und die unbescholtenen Mitbürger gegenüber. Eher geht es um Menschen mit und ohne Illusionen.
Und das ist zugleich eine Generationenfrage. Als junge Männer waren der studierte Architekt Rubén und sein Schriftstellerfreund Federico Brouard trunken vor Illusionen und wollten ihre Heimat mit revolutionärer Ästhetik aufrütteln. Rubéns zehn Jahre jüngerer Bruder Matías erbte den Weltverbesserungs-Spleen wenig später und zehrte sein Leben lang davon, anders als der ältere Bruder, der sich die Flausen bald austrieb und so den Weg zum Reichtum ohne Schuldgefühl fand. Silvia, Rubéns Tochter, liebäugelte immer mit Matías’ Idealismus, auch wenn sie auf Papas üppige Überweisungen nicht verzichten mochte. Wie ihr Mann Juan, ein Literaturprofessor, der das eigene kalte Herz am Werk des früheren Feuerkopfes Brouard wärmt, hat sie, die Restauratorin, nur noch aus zweiter Hand am glaubenssatten Geist der Väter teil – immerhin. Denn Rubéns Mann fürs Grobe, Ramón Collado, denkt an kaum etwas anderes als an den Körper seiner Lieblingshure. Und mit einer derart sturen Triebsteuerung lebt man noch prekärer als mit falschen Illusionen.
Aber wo bleibt die Perspektive?
Die Charakterbilder, die mit der Zeit aus der multi-perspektivischen Rede aufsteigen, sind nicht frei von Klischees, die Rede selbst ist nicht frei von Redundanzen, und die Reflexionen mancher Figuren bewegen sich mitunter deutlich oberhalb ihrer mutmaßlichen geistigen Kapazität. Doch es ist noch etwas anderes, was dieses kunstvoll komponierte und oft sehr klug geschriebene Buch am Ende scheitern lässt: Es ist seine eigene Perspektivlosigkeit. Im Gegeneinander der Stimmen kriegt jeder sein Teil Verständnis ab, und jeder muss einen Teil Schlechtigkeit und Schwäche mit sich herumtragen. Niemand ist unschuldig, niemand zufrieden, und keine Haltung, kein Fluchtpunkt scheint aus dem trüben Gemenge herauszuweisen. «Wir haben eine beispiellose Phase des Fortschritts durchlebt», resümiert Rubén einmal, «können aber mit dem, was sie uns bietet, nichts anfangen. Wenn wir nicht glücklicher gewesen sind, dann vermutlich deshalb, weil das Wesen des Menschen nicht viel mehr hergibt.»
Dieser fast anthropologische Zweifel durchzieht, über Rubéns Melancholie hinaus, das gesamte Buch. Chirbes’ Tour d’Horizon ist überreich moduliert, doch letztlich etwas monoton im Abgang: Die Familien sind zerfallen, die Demokratie ist zermürbt, das Fleisch schwach, der Weltgeist ausgelaugt. Und der Schriftsteller scheint nicht einmal mehr dem eigenen Handwerk zu trauen, denn über den redegewandten Verführer Matías lautet das Urteil: «Seine Worte glühten ein paar Sekunden in der Luft und fielen dann als Asche zu Boden. Es waren nur Strategien des Ich.»
Ist auch das Buch selbst ein Krematorium – ein Ort für glühende Worte, die folgenlos verbrennen und höchstens Trauer hinterlassen? Chirbes’ existentielle Skepsis prägt jedenfalls das Werk und nimmt ihm den Nachdruck. Die Diagnose ist düster, aber Chirbes vermittelt sie auf eine merkwürdig undramatische Weise, als wolle er der alten Formel folgen: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. Das hinterlässt den Leser leicht frustriert. Denn wozu watet man durch mehr als 400 Seiten voll seelischer Abgründe, wenn am Ende nur ein flacher Aushauch allgemeiner Vergeblichkeit bleibt? Wenigstens Erschütterung möchte man spüren, etwas Wut oder Verzweiflung. Sonst wäre schließlich das Lesen dieses Buches selbst nur eine vergebliche Müh’.
Merten Worthmann lebt seit 2002 als freier Autor in Barcelona. Zuletzt erschien seine «Gebrauchsanweisung für Barcelona»
Rafael Chirbes
Krematorium. Roman
Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz.
Kunstmann, München 2008. 431 S., 22 €
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