- Das Bildungssystem muss revolutioniert werden
Der Autor Richard David Precht debattiert am Sonntag, den 11.12, im Berliner Ensemble mit den Journalisten Frank A. Meyer und Alexander Marguier über die Bedeutung der Philosophie in der heutigen Zeit. Vorab sprach er mit CICERO ONLINE über Talkshows, Intellektuellenfeindlichkeit, Bushido und Bildung
Herr Precht, ich streite mich oft mit meiner Mutter
wegen Ihnen. Sie hält Sie für einen profunden Intellektuellen, der
eloquent die Welt erklärt. Ich wiederum möchte mir eigentlich von
niemandem die Welt erklären lassen. Wer hat Recht?
Naja, ein Recht darauf, sich die Welt nicht erklären zu lassen, hat
jeder. Wobei ich den Ausdruck „Welt erklären“ doch sehr gewaltig
finde in Bezug auf das, was ich tue.
Sie werden nicht selten despektierlich als
Ratgeberphilosoph oder auch als „Philosoph im Außendienst“ (Stern)
gehandelt.
„Philosoph im Außendienst“ finde ich nicht
despektierlich.
Ist das die Rolle, in der Sie sich dann auch selbst
sehen?
Wenn der philosophische Innendienst der
akademische Inner Circle ist, dann ist das eine gute Beschreibung.
Denn es bedeutet, dass ich das, was in diesem inneren Zirkel
akademischer Kreise besprochen wird, in allgemeinverständlicher
Form nach außen bringe. Genau so verfahre ich in meinen Büchern und
Aufsätzen. Es ist aber nicht das, was ich in Talkshows mache. In
Talkshows kann man nicht philosophieren. Dazu fehlt einem hier
schlichtweg die Zeit.
Sie sitzen derzeit in vielen Talkrunden und äußern sich
zu den unterschiedlichsten Themen. Man hat den Eindruck, Sie
könnten so ziemlich alles wegphilosophieren. Haben Sie keine Angst,
irgendwann als beliebig zu gelten?
Schauen Sie, den
größeren Teil der Einladungen in eine Talkshow, die an mich
gestellte werden, lehne ich ab. Allein während der
Guttenberg-Affäre hatte ich jeden Tag drei Anfragen. Es gibt
Themen, zu denen ich mich einfach ungern äußere. Beispielsweise
wollte man mich oft für Kernkraftthemen gewinnen, tatsächlich bin
ich aber nur ein einziges Mal hingegangen. Zu bestimmten Thematiken
sollten sich nur solche Leute äußern, die sich ihr halbes Leben
damit befasst haben. Was Ihren Vorwurf der Beliebigkeit betrifft:
Natürlich ist meine Bandbreite relativ groß. Wenn es in einer Runde
darum geht, ob die Tötung Osama Bin Ladens Rechtens sei, dann ist
das ja nicht nur eine juristische, sondern auch eine
moralphilosophische Frage. Es kommt dann allerdings auch schon mal
vor, dass die Sendung nicht so läuft, wie man sich das im Vorfeld
erhofft.
So wahrscheinlich auch geschehen in der Sendung bei
Markus Lanz, als sie mit Bushido, Sido und Peter Maffay
fragwürdigen Bambi-Diskussionen ausgesetzt waren. Was ist dann
schlimmer? Bushido und Sido moralisch in die Schranken zu weisen
oder auf die scheinbar investigativen Fragen von Moderator Lanz
einzugehen?
Nun, ich ging nicht zu Lanz, um
moralisierende Phrasen an Bushido oder Sido zu richten. Auch habe
ich das künstlerische Schaffen der beiden Herren nur wenig
kommentiert. Im Grunde habe ich versucht, mich so weit wie möglich
aus den Streitigkeiten rauszuhalten. Eingeschritten bin ich dann,
als ich das Gefühl hatte, dass die Runde die Gestalt eines
Tribunals annimmt. Aber natürlich hat mir der hintere Teil der
Sendung gefallen, als wir über mein neues Buch sprechen
konnten.
Sie sind Vorbild für viele Studierende, die sich für das
doch eigentlich brotlose Fach der Philosophie entschieden haben.
Sie sind so ziemlich der einzige Philosoph, der berühmt geworden
ist. Sieht man mal von Sloterdijk und Habermas ab.
Zunächst einmal ist es nie mein Ziel gewesen, berühmt zu werden.
Die Stelle eines „public philosophers“ war in Deutschland vakant.
In anderen Ländern wie in Frankreich, England, Holland oder der
Schweiz haben Sie gleich fünf oder sechs Prechts, also Leute, die
eine ähnliche Rolle in der Gesellschaft spielen. Nur in Deutschland
war diese Position, Sloterdijk mal ausgenommen, lange Zeit nicht
besetzt. Der Anteil der sich wirklich einmischenden Intellektuellen
ist hierzulande sehr gering und die philosophische Akademie hat
sich längst von der Öffentlichkeit verabschiedet. Das sind
sicherlich Gründe, weshalb ich so einen Erfolg haben konnte. Das
führte allerdings auch zu Anfeindungen. Nicht aus der akademischen
Welt, sondern aus den Feuilletons. Dort sitzt eine ganze Reihe von
Leuten, die sich eine solche Position selbst auch erhoffen.
Ist das nicht auch beispielhaft für den Umgang
hierzulande mit Intellektuellen? Diese unterschwellige
Intellektuellenfeindlichkeit ist doch ein ziemlich deutsches
Phänomen, oder?
Ich glaube nicht, dass das etwas mit
Intellektuellenfeindlichkeit zu tun hat. Das Problem liegt eher bei
den Feuilletonisten. Dort heißt es, dass ein Intellektueller, der
in eine Talkshow geht, kein Intellektueller mehr ist. Viele dieser
Leute lesen meine Bücher nicht, sondern kennen nur meine
Talkshowbeiträge und kommen dann zu dem Urteil, ich sei doch kein
Philosoph. Wenn sie einen 40-sekündigen Beitrag von mir zum Tertium
comparationis erklären, als Maß dafür, ob ich philosophisch was
draufhabe oder nicht, ist das doch sehr merkwürdig. Ich schreibe im
Augenblick philosophische Fachaufsätze, in denen ich natürlich
anders zu Werke gehe als in Talkshows.
Sie haben gerade zusammen mit Ihrem Sohn ein Kinderbuch
geschrieben. Darin erklären Sie Ihrem Kind die Welt. Warum machen
Sie es eigentlich nicht umgekehrt? Kann ein Kind denn nicht viel
besser die Welt erklären als ein Erwachsener?
Nein.
Nein?
Die Antwort ist nein. Haben sie
Kinder?
Nein.
Ein Kinderphilosophiebuch zu
schreiben, ist sehr schwierig. Natürlich sagt sich so leicht,
Kinder seien die besseren Philosophen, „Kindermund tut Wahrheit
kund“ und vieles andere mehr. Aber es ist noch nie ein
philosophisches Buch von einem Kind geschrieben worden. Das geht
auch nicht, denn Kinder stellen philosophische Fragen genauso wie
sie banale Fragen stellen. Wenn Sie das nicht ordnen, sie dem
ganzen keinen Rahmen geben, dann kommt kein Buch dabei raus.
Lesen Sie im zweiten Teil des Interviews, warum Richard David Precht für eine Bildungsrevolution plädiert
Die Themenfelder Kinder, Schule und Bildung sind Ihnen
dann auch besonders wichtig. Sie kritisieren, dass Kindern in der
Schule die falschen Inhalte beigebracht bekämen.
Unser
Bildungssystem muss nicht reformiert, sondern revolutioniert
werden. Nach allem, was wir heute von der Entwicklungspsychologie
wissen, wie Kindergehirne funktionieren, kann man zu dem Schluss
kommen, dass die Schulen daneben liegen. Das System „Schule“ ist
längst überholt.
Sie verlangen also, dass die Schüler dort abgeholt
werden, wo sie tatsächlich stehen? Sie sollen fürs Leben lernen.
Ein Plädoyer für mehr Lebenswirklichkeit an Schulen?
Als Vater von vier Kindern weiß ich, wie schwierig es ist, den
Kindern zu erklären, warum sie bestimmte Inhalte lernen müssen.
Wenn meine 17-jährige Stieftochter im Physikunterricht irgendwas
lernen muss und mich fragt, warum sie das wissen muss, dann kann
ich ihr darauf keine positive Antwort geben.
Ist das aber nicht im Sinne des Humboldt’schen
Bildungssystems, den Menschen möglichst breit zu bilden, statt ihn
für ein System auszubilden?
Nein. Der Sinn des
Humboldt’schen Systems war, dass der Preußische Staat, der keine
bürokratische Mittelschicht hatte, Leute hervorbringen sollte, um
sie in seiner Verwaltung einsetzen zu können. Der Gedanke, die
Menschen möglichst umfassend zu bilden, sollte die Grundlage für
das bürgerliche Zeitalter sein. Es ging aber nicht darum, möglichst
viel Wissen um des Wissens Willen anzuhäufen. Man kann dieses Ideal
natürlich verfechten. Ich finde es gut, wenn man viel lernt. Die
Frage ist nur, wie. Lernt man möglichst schnell möglichst
viel auswendig, um es danach wieder zu vergessen, dann ist das auch
nicht im Sinne Humboldts. Es kann doch nicht darum gehen, möglichst
viel ins Gehirn einzutrichtern. Machen Sie doch mal mit Ihren
Freunden den Versuch und schreiben Ihre Abiturklausur noch einmal.
Sie würden sich wundern, wie viele das nicht mehr könnten. Mit so
einem Ausbildungssystem kann man nicht zufrieden sein. Denn: Sie
haben ja nicht fürs Leben gelernt, sondern nur für Ihre
Abiturprüfung.
Wobei ich vermutlich noch nicht einmal meine
Führerscheinprüfung bestehen würde.
Da haben wir dann
allerdings etwas gemeinsam. Ich habe zwar einen Führerschein, aber
ich kann nicht Auto fahren.
Was Bildungsinhalte betrifft, machten Sie jüngst mit der
Bemerkung auf sich aufmerksam, Goethes „Werther“ sei Kitsch und Max
Frisch überbewertet. Sie fordern Feridun Zaimoglu statt Goethe.
Geht nicht beides?
Das geht schon deswegen nicht, weil
man in der Oberstufe gerade mal eine Handvoll Bücher liest.
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts gegen Goethe, an
ihm entzündet sich nicht mein Zorn. Es gilt sich die Frage zu
stellen, was Heranwachsende interessiert. Max Frischs „Homo Faber“
gilt heute doch als Opa-Literatur.
Dafür ist „Stiller“ von Frisch aktueller denn
je.
Ich finde, Frisch ist einfach stilistisch kein
besonders guter Autor. Er ist vollkommen humorlos. Und auch nicht
besonders elegant. Es gibt großartige Autoren im 20. Jahrhundert.
Ich will ja nicht sagen, Frisch sei ein schlechter Autor, aber mir
fallen sehr viele bessere ein.
Über Frisch lässt sich streiten. Wenn Sie allerdings
Goethe angehen, wird es problematisch, denn dann geht’s dem
Deutschen ans kulturelle Mark. Dann brechen Sie das
Goethe-Tabu.
Ich würde auch „Faust“ nicht
aussortieren. Aber ein Thema wie Liebe, das der jungen Generation
unter den Nägeln brennt wie kein anderes, mit Goethes „Werther“,
einem Buch, das über 200 Jahre alt ist, abhandeln zu wollen, halte
ich für problematisch.
Wobei doch gerade die Liebe eigentlich zeitlos
ist.
Die Liebe in Zeiten von Goethe hat nichts mit der
Liebe von heute zu tun. Die Probleme, vor denen die Menschen heute
stehen, werden doch nicht im Entferntesten im „Werther“ berührt.
Abgesehen davon, dass er nicht repräsentativ für das Leben am Ende
des Aufklärungszeitalters war.
Herr Precht, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Timo Stein
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