- Carsten Otte: Schweineöde
«Wostalgiker» würde man einen wie Raimund Kuballa im Fachjargon nennen. Denn wie viele junge Westler zieht es auch ihn, den Helden in Carsten Ottes Debütroman, Anfang der neunziger Jahre nach Ostberlin: Dort will er nostalgisch nach letzten Überresten der DDR forschen.
«Wostalgiker» würde man einen wie Raimund Kuballa im Fachjargon nennen. Denn wie viele junge Westler zieht es auch ihn, den Helden in Carsten Ottes Debütroman, Anfang der neunziger Jahre nach Ostberlin: Dort will er nostalgisch nach letzten Überresten der DDR forschen. Zu oft haben seine Eltern, wohlhabende Restaurantbesitzer aus Bonn-Bad Godesberg, ihm zu bundesrepublikanischen Zeiten gedroht: «Geh doch rüber!» Nun, nach dem Mauerfall, möchte Kuballa endlich wissen, was wirklich dran war an ihren Warnungen vor den «roten Horden». Das Überwachungssystem der «Staatssicherheit», erinnert er sich, «das war doch sowas wie ein Monster, das in weiter Ferne sein Unwesen trieb». Entsprechend interessieren ihn besonders alte Spitzel-Geschichten. Zwecks Recherche mietet sich Ottes Held bewusst just dort eine Wohnung, wo nach Aussage seines Maklers noch «wirklich Osten» herrscht: in Oberschöneweide, von Berlinern verächtlich «Schweineöde» genannt. Schließlich wohnen hier, fernab des Hauptstadtglanzes, hauptsächlich die Fußlahmen der Wiedervereinigung. Kuballas neue Nachbarn entpuppen sich als linientreue SED-Soldaten, alkoholisierte Arbeitslose und randalierende Neonazis. Ein westdeutscher Bummelant auf Erfahrungs-Nachholjagd im «Erlebnispark Ost» – das ist keine schlechte Ausgangsidee für einen modernen Schelmenroman im Kumpel-Tonfall à la Thomas Brussig, Frank Goosen oder Sven Regener. Anders als in diesen Büchern aber kann Ottes Protagonist als sympathischer Anti-Held nicht überzeugen. Zwar betrinkt auch er sich regelmäßig und lässt genretypisch beim Flirten kein Fettnäpfchen aus. Je weiter die Handlung aber voranschreitet, desto mehr entpuppt sich der scheinbare Tollpatsch als wahrer Meister der Denunziation. In bester Stasi-Manier forscht Kuballa seine Nachbarn aus und verpfeift sie bei der Polizei. Dass die DDR samt ihren Schrecken ausgerechnet in jenen Köpfen besonders lebendig ist, die sie gar nicht erlebt haben, ist kein neuer, gleichwohl ein faszinierender Gedanke. Er mag Otte bei seiner Geschichte vorgeschwebt haben, die stellenweise arg akribisch in den historischen Akten wühlt, vor allem aber an einem Konstruktionsfehler krankt: Ein Schelm darf sich nämlich nur so lange jeden Fehltritt erlauben, als er guten Willens ist. Ein tückisches Herz hingegen wird ihm nicht verziehen.
Carsten Otte
Schweineöde
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2004. 264 S., 19,90 €
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