- Besuch im Heimatmuseum
In Feridun Zaimoglus neuem Roman «Leyla» gibt es nichts, was es im Anatolien der sechziger Jahre nicht gegeben hätte – nur am Leben fehlt’s
«Wildnis» hatte Feridun Zaimoglus neuer Roman eigentlich heißen sollen, angekündigt war er für den vergangenen Herbst. Nun ist es Frühjahr geworden, und die «Wildnis» heißt, leicht domestiziert, «Leyla». Dieses Buch endet gewissermaßen dort, wo die Geschichten des Autors sonst beginnen: Als junge Ehefrau und Mutter landet die Heldin, aufgewachsen in einer anatolischen Kleinstadt unter der Knute ihres despotischen Vaters, nach über 500 langen Seiten in Deutschland.
Mit Erzählungen ist der Autor in Deutschland zu literarischer Bekanntheit und Anerkennung gelangt. Junge Leute schlugen hier aus den Rollenmodellen ihrer türkischen Heimat und den Perspektiven der westlichen Gegenwart geschäftlich, alltagspraktisch und sprachlich Funken – das von Zaimoglu selbst geprägte Label dieser Texte hieß «Kanak Sprak». In «Leyla» will er nun erzählen, aus welcher Welt die Eltern-Generation seiner früheren Helden in den sechziger Jahren nach Deutschland kam. Vor allem aber handelt er davon, wie zuvor die türkische Lebenswelt peu à peu von den Segnungen und Verführungen des Westens erreicht, durchdrungen und infrage gestellt wurde – ein spannendes Thema. Doch leider wird vor allem die anatolische Lebenswelt mit einer solchen Akribie ausgebreitet, dass Zaimoglus Geschichte am Ende blutarm wirkt, selbst wenn das Blut hier reichlich fließt.
Wie ein Chronist, ein Archivar von Ansichten und Alltagsverrichtungen aus alter Zeit, wirkt der Autor in diesem Buch. Mit den meisten Figuren, die er seiner Heldin und Ich-Erzählerin zur Seite oder in den Weg stellt, will er weniger etwas erzählen als etwas zeigen. Dazu bietet er auf: einen brutalen Vater, der als Eisenbahner gefeuert wurde, als Amerika-Exporteur scheiterte, den man als Opiumhändler einbuchtete, einen Mann, der die alten Werte beschwört und dabei doch zutiefst missachtet. Es gibt weiterhin eine Mutter, die ergeben unter dem Vater leidet, sowie drei Töchter und zwei Söhne, die zwischen Aufbegehren und Zusammenhalt schwanken und später entweder Gewinn bringend verheiratet werden – oder, wenn es der Erzählung dient, auch eben nicht.
In «Leyla» gibt es spezielle Figuren für die ideologischen Gebiete Patriotismus und Sozialismus, für den Umgang mit Kurden und den mit Christen, für Aberglauben und Aufklärung, für Keuschheit und Verruchtheit, für Handarbeit und Kochkunst und auch für Trachten und Zeremonien. Zaimoglu erfindet den einen Brautwerber, um ihn hochmütig abweisen zu können, und den zweiten für eine Liebeshochzeit, auch wenn diese Ehe dann ihre Tücken hat. Der Schwiegervater ist dazu da, Leyla zu zeigen, wie man Buletten brät, und er verliert auch nur einmal die Fassung: als sie sich einen elektrischen Kühlschrank wünscht.
Ort- und zeitlose Monotonie
Das größte Problem dieses Romans ist aber nicht die schiere Fülle seiner Funktions-Darsteller und nicht einmal, dass sie über ihre Funktion hinaus kaum ein Eigenleben entwickeln. Problematisch ist vielmehr die Art, in der Zaimoglu seine Figur von ihnen allen erzählen lässt. Die Typen-Sammlung klingt nämlich unterhaltsamer, als sie ist.
Das hängt zuerst mit dem Ton dieses sprachlich sonst durchaus versierten Autors zusammen: Hier bleibt er, abgesehen von ein wenig Wortgeklingel, seltsam eintönig. Dabei ist es egal, ob es um eine Misshandlung, eine der vielen schamvollen Situationen, um einen seltenen Moment der Freiheit oder einen noch selteneren der Ruhe seiner armen Heldin geht. Und es ist auch egal, ob sie aus früher Kindheit oder von ihrem Leben als junge Mutter erzählt (und dabei manchmal von Dingen weiß, die sich ihrer Kenntnis eigentlich entziehen müssten). Seltsam ort- und zeitlos wird hier geredet, aus einem gleichbleibenden Abstand zum Geschehen und gleichsam ohne Gegenüber. Diese Erzählerin wächst nicht mit den Ereignissen mit, sie denkt nicht nach, blickt nicht zurück. Sie dokumentiert.
Das Bild, das Zaimoglu so von der Zerrissenheit eines Landes zwischen ehrwürdiger Tradition und importierter Neuerung zeichnet, ist bunt, vielfältig und zuweilen wirklich interessant. Nur bleibt seine Geschichte dabei fadenscheinig: 500 Seiten Kette und Schuss, auf denen all das aufgeboten wird, was der 1964 geborene Schriftsteller über das Land seiner Väter und das Leben dort in den Zeiten vor seiner Geburt durch penible Recherche in Erfahrung gebracht hat.
«Als Autor», sagte Feridun Zaimoglu vor Jahresfrist in einem Interview, «halte ich das Ethnische für eine große Falle. Das Ethnische hat nur Kunsthandwerk zur Folge.» Diese Falle hat er mit der Geschichte von Leyla klug gemieden. Doch ist er gleich daneben in eine andere getappt: das Heimatmuseum.
Feridun
Zaimoglu
Leyla
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006. 528 S., 22,90 €
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