- Wallhall bröselt
Im Richard-Wagner-Jahr 2013 schaut die Welt nach Bayreuth. Und was sieht sie? Baugerüste, bröckelnden Putz, marode Inszenierungen und mittelmäßige Sänger. Ein Ortstermin auf der Suche nach dem Mythos
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Was ist er nicht alles gewesen, dieser eigentlich so schlichte Bau! Walhall und Gralsburg, Gründungstempel einer Kunstreligion der Zukunft und letzter Hort im großen deutschen Untergang. Doch nun steht er da, als hätten die Riesen Walhall nicht fertig gebaut, als seien die Gralsritter ausgezogen. Eingerüstet mit grünen Bauplanen, da oben am Grünen Hügel. Walhall bröselt.
„Man kann die Steine teilweise zwischen den Fingern zerreiben, die Fenster könnten dann rausfallen“, sagt Peter Emmerich. Der Sprecher der Bayreuther Festspiele wirkt, als habe er in seinen bald 25 Dienstjahren Schlimmeres erlebt. In seinem Büro seien die Fenster schon lange zugig, die jüngste Heizung im Haus stamme aus den zwanziger Jahren. Das Fachwerk an den Längsseiten sei seit langem durch Sichtbeton ersetzt. Doch nun geht es an die Substanz, an die verbliebenen Teile aus der Bauzeit des Hauses vor 140 Jahren. Auf 48 Millionen Euro und eine mögliche Laufzeit von zehn Jahren veranschlagen erste Schätzungen die vollständige Sanierung.
Angela Merkel wird zu den Festspielen Ende Juli also unter Gerüsten nach Walhall, ins Festspielhaus einziehen müssen. Dabei ist 2013 ein besonderes Jahr. Die ganze Welt feiert den 200. Geburtstag Richard Wagners, die Opernhäuser spielen Wagner am laufenden Band. Drinnen probt Frank Castorf, Chef der Berliner Volksbühne, seine Neuinszenierung des „Ring des Nibelungen“, mit dem Richard Wagner 1876 die ersten Festspiele eröffnet hatte. Bis zu den diesjährigen Festspielen müssen selbst die notwendigsten Restaurierungen warten. Das Haus, von Wagnerianern „Scheune“ genannt, ist so hellhörig, dass es jeder Hammerschlag von draußen locker mit den Schlägen des Germanengottes Donner drinnen auf der Bühne aufnehmen kann. Nur bedruckte Planen sollen noch kommen, um die Architektur abzubilden.
Als seine eigene Attrappe wird sich das Festspielhaus dann immerhin im Einheitslook mit Haus Wahnfried präsentieren, dem am häufigsten besuchten Gedenkort zu Wagner. Rund um Richard Wagners ehemalige Villa am Hofgarten – „Hier wo mein Wähnen Frieden fand, Wahnfried sei dieses Haus von mir benannt“ – hängen die Planen schon, die Bagger rollen fleißig. Die Büste von König Ludwig II., der es mit kostenintensiven Neubauten bekanntlich nicht so genau nahm, blickt stoisch über den Bauzaun. Vielleicht amüsiert er sich ja, dass es selbst die Preußen trifft. Denn, man glaubt es kaum, als Drittes im Bunde wird auch das Markgräfliche Opernhaus, erbaut in Bayreuth unter Markgräfin Wilhelmine, der Schwester Friedrichs des Großen, seit vergangenem Herbst renoviert. Ironie der Geschichte: Erst wenige Monate zuvor hatte die Unesco das Haus, eines der wenigen original erhaltenen Barocktheater, zum Weltkulturerbe erklärt.
„Wer den Schaden hat, spottet jeder Beschreibung“, übt sich Sven Friedrich in Galgenhumor und schimpft über das „dämliche Jubiläumsjahr“. Der Direktor des Richard-Wagner-Museums, das im Haus Wahnfried beheimatet ist, berichtet, er habe die nötige Neukonzeption bereits seit 2001 vorbereitet. Doch im Jahr 2009 beschlossen Stadt und Freistaat einen ehrgeizigen Neubau im Garten des Hauses. Inzwischen laufe es gut, nur sehen könne man von außen eben nichts. „Von Richard Wagners Villa stehen derzeit nur noch die Außenmauern und die Zwischendecke.“
Um Wagnerianern und Touristen zur Festspielzeit irgendetwas zu bieten, will man kurzfristig ein paar Räume zugänglich machen und eine Ausstellung über Ludwig II. zeigen. Doch „Götterdämmerung“, wie die Ausstellung passenderweise heißt, tourt schon seit zwei Jahren durch alle bayerischen Regierungsbezirke. Bereits in ihrer ursprünglichen Variante als Bayerische Landesausstellung des Jahres 2011 war sie vor allem durch multimedialen Kitsch und forcierte Plakativität aufgefallen.
„Es hat seinen eigenen Charme, das Haus trotz Baustelle zugänglich zu machen“, versucht es Brigitte Merk-Erbe, die Oberbürgermeisterin von Bayreuth und Geschäftsführerin der für das Museum verantwortlichen Richard-Wagner-Stiftung, mit trotzigem Optimismus. „Spätestens Ende 2011 war absehbar, dass Wahnfried 2013 nicht fertig werden würde.“
Sven Friedrich klagt indes über hohe Reibungsverluste in öffentlichen Strukturen, zieht Parallelen zu anderen öffentlichen Unternehmen wie der Hamburger Elbphilharmonie oder dem Berliner Flughafen. Ein Nachbar erwirkte hier eine einstweilige Verfügung, die Bayreuther erregten sich über den Entwurf des prominenten Berliner Architekturbüros Volker Staab, Umweltschützer darüber, in Richard Wagners Garten würden die Baumschutzordnung und die Vogelschutzbestimmungen missachtet. Dass auch die Familie des „Meisters“, wie man hier sagt, sich immer wieder einschaltete, verrät Toni Schmid vom Kultusministerium des Freistaats Bayern. „Wir wollten niemanden übergehen“, so der Leiter der Kunstabteilung, „der noch als Kind in dem Haus aufgewachsen ist.“
Das Gespräch mit Sven Friedrich findet in jenem Teil des Hauses statt, in dem bis 1980 Richard Wagners Schwiegertochter Winifred lebte. Im Nebenzimmer steht der Steinway-Flügel des Meisters. Als glühende Nationalsozialistin hatte Winifred die Festspiele mit dem „Dritten Reich“ nah an den Untergang geführt. Auf diese ideologischen Verstrickungen ging das alte Richard-Wagner-Museum aus dem Jahr 1976 kaum ein, was sich nun ändern soll.
Indem Winifred den Familienbesitz in die Richard-Wagner-Stiftung überführte, gab sie ihm zum ersten Mal eine öffentliche Rechtsform. Dennoch bleiben die Wagners bis heute so etwas wie die letzte Monarchie auf deutschem Boden: völlig degeneriert und doch mit stolzem Erbe, eine der wenigen echten Institutionen hierzulande und in den Einzelpersonen immer wieder untragbar. Hätte sie sich woanders als Produzentin beworben, ihr wäre innerhalb einer Viertelstunde die Tür gewiesen worden, schrieb der Journalist Moritz Wirth schon über Richards Witwe und „Nachfolgerin“ Cosima.
Was die nicht davon abhielt, in Wahnfried ein quasimonarchisches Zeremoniell mit grotesken Formen einzuführen. Dummerweise war die Thronfolge immer ungesichert – die innerfamiliären Streitigkeiten füllen bis heute ganze Zeitungsarchive. Zuletzt regierte Winifreds Sohn Wolfgang Wagner, anfangs mit seinem Bruder, dann alleine, ganze 57 Jahre lang, die gesamte deutsche Nachkriegszeit. Rechtlich funktionierte das über eine GmbH, deren einziger Gesellschafter wiederum er selber war. Als solcher mietete Wolfgang Wagner dann das Festspielhaus von der Richard-Wagner-Stiftung und setzte – Überraschung – sich selbst als Geschäftsführer auf Lebenszeit ein. Brüchige Steine an den Fassaden klopfte er als sein eigener Hausmeister notfalls einfach runter. „Der hat alles gemacht, wie er meinte“, sagt Toni Schmid vom Ministerium. „Wir als Freistaat waren zufrieden, wenn am Ende keine Schulden entstanden, und in alles andere waren wir nicht involviert. Das war viel angenehmer.“
Dass das alles spätestens seit Wolfgang Wagners Tod im Jahr 2010 nicht mehr einfach so geht – das ist die eigentliche, die grundlegende Baustelle in Bayreuth. Denn weil dieser unbedingt seine eigentlich viel zu junge Lieblingstochter Katharina zur Nachfolgerin wollte, bestanden die bisherigen Geldgeber – Bund, Freistaat, Stadt und die Mäzenatengesellschaft der „Freunde von Bayreuth“ – auf Anteilen in der GmbH. Bayreuth ist damit in der konstitutionellen Monarchie angekommen.
Katharina und ihre Partnerin in der Festspielleitung, die ältere Halbschwester Eva Wagner-Pasquier, regieren seitdem als Geschäftsführerinnen in einem öffentlich-rechtlichen Konstrukt, das indes ziemlich auf Sand gebaut scheint. Ein „undurchsichtiges Geflecht von Bestimmungen und Regelungen“, diagnostizierte kürzlich ein rechtswissenschaftliches Symposion der EBS Law School in Wiesbaden. Die Struktur sei der Öffentlichkeit kaum vermittelbar, Einzelteile der aus Wolfgang Wagners Zeiten einfach fortgeführten Regelungen seien ungültig oder mindestens zweifelhaft. Ihre beiden Cousinen Katharina und Eva arbeiteten „im Zustand der Illegalität“, die Nachfolge sei „sittenwidrig“ verlaufen, fauchte danach öffentlich Nike Wagner und verdeutlichte damit, woran das dynastische Prinzip scheitert. Die Leiterin des Kunstfests Weimar hatte 2008 selbst Festspielleiterin werden wollen.
Als reiner Staatsbetrieb funktionieren die Festspiele freilich auch nicht unbedingt. Vor allem Bayern und der Bund, hört man, kriegten sich in der GmbH gern in die Haare. Für die Bayern seien die Preußen kontrollwütig, aber finanziell unzuverlässig. Man werde sich vom Bund im Festspielhaus nicht die Buntstifte nachzählen lassen, schimpfte der bayerische Kunstminister Wolfgang Heubisch. Die rechtlichen Abhängigkeiten und personellen Identitäten zwischen Stiftung und GmbH – Toni Schmid ist Verwaltungsratsvorsitzender in beiden – wirken wie die Fortschreibung bayerischer Stammtischtraditionen.
Andererseits hat sich der Freistaat bei der fälligen Sanierung des Festspielhauses zum Erbe Ludwigs II. bekannt, der beim Bau mit einem rettenden Kredit eingesprungen war. 16 Millionen sind in den Haushalt eingestellt. Für die übrigen 32 Millionen stehen die anderen Gesellschafter unter Zugzwang. „Alle Beteiligten werden sich finanziell engagieren“, hört man nur von der Oberbürgermeisterin, deren Kommune so pleite ist wie alle anderen.
„Die Moderne greift nach Bayreuth“, sagt Peter Emmerich mit süffisantem Lächeln. Plötzlich, so der Sprecher der Festspiele, sei „Erfolgskontrolle“ zentral, die Zahl von Klicks auf Homepages und Ähnliches. Als vor zwei Jahren der Bund seinen Rechnungshof schickte, rügte der die Kartenvergabepraxis. 60 Prozent der Festspielkarten waren nie in den freien Verkauf gelangt. Wie es eben im Feudalismus so üblich ist, waren viele Karten über Privilegien und langjährige Gewohnheitsrechte immer schon vergeben. Die berühmte zehnfache Überbuchung erwies sich als Mythos.
In den vergangenen Wochen suchten die beiden Festspielleiterinnen händeringend nach einem kaufmännischen Geschäftsführer, der einen simplen Jahresabschluss zustande bringt. Dass die beiden Damen zuweilen überfordert sind, spürt man als Journalist, wenn man – wie für diesen Beitrag – mehrfach um ein Gespräch bittet: tagelang keinerlei Reaktion.
Vielleicht passen Mythen nicht in die verwaltete Welt. Richard Wagner gestaltete das Festspielhaus bewusst als provisorischen, rein funktionalen Bau. Er hatte genau gespürt, dass die Schere zwischen Provinzialismus und Anspruch, Talmi und Heiligkeit in Bayreuth von Anfang an weit offen stand. Die Festspiele blieben in den ersten Jahrzehnten finanzielle Kompletthavarien. Und dass der Festspielbesuch oft als Pilgerfahrt beschrieben wurde, hat mit den begleitenden Strapazen ebenso zu tun wie mit der Kunstreligion. Bis heute nächtigen traditionsbewusste Festspielgäste mangels Hotellerie bei Bayreuther Bürgern, die zur Festspielzeit ein Bett anbieten. Nach der Vorstellung essen sie am Fuß des Hügels in den „Holländer-Stuben“, obwohl es dort neben Sängerfotos an den Wänden nur verranzte Möbel und fettige Ćevapčići gibt. Besser gesagt: gab. Vor zwei Jahren haben die „Holländer-Stuben“ dichtgemacht.
Tempel können in die Jahre kommen, bei der Liturgie aber muss die Sache stimmen. Auch hier bröselt es schon lange. Kein Komponist ist in den vergangenen Jahren stärker demokratisiert worden als Wagner, auch die kleinen Bühnen spielen seine Stücke inzwischen. Die Exklusivität ist dahin. Bei den Sängerbesetzungen können die Festspiele seit Jahren kaum noch mit den großen Häusern mithalten, auch die Besetzung des kommenden „Rings“ wirkt bis auf ein paar Namen glanzlos. Dass die Inszenierung für das Mittelmaß entschädigt, glaubt in Branchenkreisen kaum jemand.
Einst prägend für eine ganze Generation, zeigen die Schauspielproduktionen von „Ring“-Regisseur Frank Castorf seit Jahren schwere Ermüdungserscheinungen. Castorf ist das lebendige Symbol der Legitimationskrise, in der das Regietheater deutscher Prägung unübersehbar steckt. Wolfgang Wagner hatte zu dessen Blütezeiten die brillantesten Köpfe nach Bayreuth einladen können. Zugleich aber betrieb er eine Mischkalkulation, indem seine eigenen, reichlich bodenständigen Inszenierungen das Ritual bedienten. Denn die Spaltung zwischen dem Progressiven und dem Sakralen steckt tief in Richard Wagners Werk.
Urenkelin Katharina dagegen nutzte 2007 ihre erste eigene Bayreuther Inszenierung, um mit den „Meistersingern von Nürnberg“ eine Avantgarde von vorgestern als alternativlos zu feiern. Im vergangenen Jahr durfte der 31-jährige Regisseur Jan Philipp Gloger den „Fliegenden Holländer“ grandios im Meer versenken. 2015 ist wieder Katharina dran, 2016 soll der fachfremde Bildende Künstler Jonathan Meese den „Parsifal“ inszenieren. Wie viele Kleinstadtintendanten versprechen sich die Festspielleiterinnen von „frischem Blut“ die große Zukunft. Dazu passt die jährliche Kinderoperproduktion, die Katharina Wagner einführte, als müsse sie wie in Ingolstadt oder Rostock den Nachwuchs ins Theater locken. Das Problem ist nur, dass im gegenwärtigen Theaterbetrieb nichts gewöhnlicher geworden ist als das Experiment. Die Eintrittskarten und Programmhefte der Festspiele sind ein Menetekel: Nach einer Modernisierung sehen sie aus wie in jedem anderen Theater auch.
In diesem Herbst stehen die Verhandlungen über die erste Vertragsverlängerung der beiden Halbschwestern in der Festspielleitung an. Sollte man sich irgendwann gegen das dynastische Prinzip entscheiden, wäre Bayreuth endgültig ein Staatstheaterbetrieb unter vielen. Toni Schmid wird die Verhandlungen wahrscheinlich führen. „Es ist auch ein Zeichen des Optimismus, wenn ein Gerüst steht“, sagt er mit Blick auf das Festspielhaus. „Es ist ein Signal, dass wir uns um die Zukunft des Hauses kümmern.“
Michael Stallknecht ist Kulturwissenschaftler, Musikkritiker und freier Publizist.
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