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Ballettdirektor John Neumeier: Der aus der Reihe tanzt

In keiner anderen deutschen Stadt ist die Kulturpolitik so sehr unter die Räder geraten wie in Hamburg. Nur einer ist unantastbar. Seit vier Jahrzehnten macht John Neumeier die Hansestadt ballettsüchtig und hat nun zum wiederholten Male seinen Vertrag verlängert.

Er will nirgendwo ankommen. Das wäre das Ende für ihn. John Neumeier weiß, wovon er spricht. Sein Leben ist ein endloses In-Bewegung-und-Unterwegssein. Er ist arriviert und bleibt dennoch auf dem Sprung. Zu neuen Premieren, Erfolgen, Tourneen, zu Ämtern und Auszeichnungen. Mit 27 Jahren wird der Mann aus dem Mittleren Westen der USA jüngster Ballettchef Deutschlands. Heute, im Alter von 68, ist der Wahl-Hamburger der Dienstälteste unter den amtierenden Chefchoreografen der Welt.

Wir sitzen im Büro seines Ballettzentrums, einem alten Backsteinbau. Noch wirkt die Arbeitsatmosphäre eines langen Probentags nach. Jede seiner Bewegungen ist konzentriert. Immer noch treibe ihn die „emotionale Wahrheit“ eines Balletts um, dessen gestisches Instrument der Mensch selber ist, sagt er. Choreografieren bedeute, mit Bewegung zu dichten. Der Wortlosigkeit immer neue Ausdrucksformen abzulauschen. „Man kann nur aus dem, was einen selbst bewegt, etwas schaffen, was bewegend ist.“ Die Liebe, das Opfer, die Illusionen, die Suche nach Sinn, der Tod: Den „choreografischen Philosophen“ Neumeier beschäftigen die existenziellen Fragen, mit denen er sich, wie er erklärt, „als Christ und Tänzer auseinandersetzen muss“.

Mehr als 140 Choreografien hat er geschaffen. Der kreative Strom, der ihn durchfließt, ist förmlich zu spüren. Selbst seine Worte wählt er mit einer verspielt- exzentrischen Bedachtheit und dreht dabei anglo-deutsche Sprachpirouetten. Als ob nichts wirklich fertig ist in seinem Leben – und auch nie sein soll. Er träumt davon, „ein Stück zu probieren, das nie eine Premiere hätte“. Der Weg des Wachsens mit einem Stück sei ihm das Wichtigste an seiner Arbeit.

„Messias des Tanzes“ wird er zuweilen genannt. Das scheinbar unterkühlte Hamburg hat er zu einer Hochburg für Ballettverrückte gemacht. Und so tut die Stadt alles, um ihr kulturpolitisches Aushängeschild aus Übersee zu halten. Neumeiers Vertrag wurde bis 2015 verlängert. In sein Imperium aus Kompagnie, Bibliothek, Ballettsammlung und Stiftung würde der Ehrenbürger der Hansestadt gern noch eine Jugendkompagnie integrieren, als Bindeglied zwischen Schule und Profitruppe. Um „Hamburg wirklich zu einer unübertroffenen Tanzmetropole“ zu machen. Ist er sicher, ob er dies angesichts der von heftigen Protesten begleiteten Sparpläne der Kulturbehörde verwirklichen kann? Das Altonaer Museum steht vor der Schließung, wegen Etatkürzungen hat der Schauspielhausintendant Friedrich Schirmer das Handtuch geworfen. Für Neumeier ist eines klar: „Wenn dieses Ballett, so wie es ist, nicht mehr unterhalten werden kann, dann ist es wahrscheinlich an der Zeit, dass jemand anderes das führt.“

„Tänzer sind offenbar langlebige Geschöpfe“, schreibt der Doyen der deutschen Ballettkritik, Horst Koegler, in seiner im November erscheinenden Hommage „Bilder eines Lebens“ (Edelmann-Verlag). Koegler, der Neumeier seit mehr als 40 Jahren journalistisch begleitet, nennt das Beispiel der japanischen Ballettlegende Kazuo Ohno. Er starb mit 103 Jahren. Auch Neumeier „fühlt sich physisch noch immer sehr präsent“. Wenngleich ihn mitunter die Sehnsucht „nach einer Zäsur, nach Arbeitsentlastung, nach Selbstreflexion“ ereilt.

Doch dafür plant er schon jetzt zu viele neue Projekte. Das Schreiben einer Autobiografie etwa hat er sich fest vorgenommen. „Obwohl“, fällt er sich selbst ins Wort, „was ist an meinem Leben wirklich so interessant, dass Menschen 300 Seiten darüber lesen wollen?“ Gleichwohl würde diese Arbeit „die Bewegung seines Lebens ein wenig zum Stillstand bringen“. Mit unschuldig wirkendem Pathos bekennt er, wie schön es doch wäre, „einfach mal frei zu sein, ohne die Last der Kompagnie“. Um sogleich anzufügen, sie sei sein Lebenswerk.

Der Wunderknabe aus Milwaukee, Sohn einer Familie mit deutsch-polnischen Vorfahren, erhält mit neun Jahren seinen ersten Stepptanzunterricht, später auch Ballett. Als Student der englischen Literatur und Theaterwissenschaft lernt er an der katholischen Marquette-Universität in Milwaukee John Walsh kennen. In dem Jesuitenpater und Leiter des Theaters findet der 16-jährige Eleve den Mann, der sein Talent erkennt und der „seinen Lebensweg am stärksten beeinflusst“. Von ihm lernt der spätere Weltstar, „dass es ein Privileg, aber auch eine Verpflichtung für einen Künstler ist, zu seinem Beruf, zu seiner Berufung nie Nein, sondern Ja zu sagen – immer wieder aufs Neue“.

Glücklicherweise sagt Neumeier trotz vieler verlockender Angebote auch zur Stadt an der Elbe immer wieder Ja und hält ihr die Treue. „Hamburg hat eine Atmosphäre, die wirklich nicht deutsch ist. Eine Kombination aus anglophil und skandinavisch.“ Ein Umfeld, das zu dem distinguierten Gentleman passt, und wo ihm mit seinem Lebensgefährten Hermann Reichenspurner ein Mensch begegnet ist, der, wie er sagt, „einen ganz starken Anteil an meiner derzeitigen Balance hat“. Manchmal kann das Leben barmherzig sein. Glücklich berichtet Neumeier, wie überraschend es für ihn war, „so etwas noch einmal erleben zu dürfen“.

Vielleicht sind seine Choreografien in den vergangenen Jahren auch deshalb noch schöner, noch emotional wahrhaftiger geworden. In seinem Mozart-Requiem zitiert ein Tänzer den spanischen Mystiker und Theologen Johannes vom Kreuz: „Am Abend deines Lebens wirst du nach der Liebe gefragt.“ Ein Satz, der sowohl für das Leben als auch das Ballett gilt.

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