- Der ganze Planet wird zum Tatort
Forensik ist längst kein Monopol des Staates mehr. Die Ausstellung „Forensis“ im Berliner HKW zeigt, wie Künstler und Architekten forensiche Methoden nutzen, um Kriegsverbrechen und Machtstrukturen aufzudecken
Ein gespenstisches Foto. Hinter der opaken Oberfläche ist ein grauer Betonpfeiler zu erkennen, auf dem sich nach längerem Betrachten ein kleiner Riss abzeichnet. Er gehörte zum achtstöckigen Fabrikgebäude in Bangladesch, das im März 2013 einstürzte und das Leben von 1.032 Arbeitern forderte. Obwohl die Einsturzgefahr kurz vor der Katastrophe offensichtlich war, ignorierten die Besitzer alle Warnungen. Der Riss ist nicht nur ein Symbol einer gesellschaftlichen Kluft: Hier die unter lebensgefährlichen Bedingungen schuftenden Arbeiter, dort die einer blinden Marktlogik folgenden Fabrikbesitzer.
Er zeigt auch, dass Fotos bis heute keine Garanten der Wahrheitsfindung sind. Satelliten können inzwischen jeden Winkel der Erde abscannen, doch abbilden können sie nur das, was nicht kleiner als 50 cm ist. Das entspricht nicht zufällig der durchschnittlichen Größe eines von oben betrachteten menschlichen Körpers. Anbieter von Satellitenbildern vermeiden damit Klagen wegen Privatsphärenverletzungen. Andererseits dient die Regelung dem US-Militär, die völkerrechtlich fragwürdigen Drohnenangriffe zu verschleiern. Doch Ruinen können sprechen.
Denn wie alles andere, mit dem der Mensch in Kontakt kommt, hinterlassen sie Spuren. Diese zu lesen, war bisher in der Hand staatlicher Behörden. Wie die Ausstellung „Forensis“ im Berliner HKW zeigt, hat die Suche nach den wahren Spuren jedoch längst den Ehrgeiz politischer Aktivisten geweckt. Präsentiert werden dort Arbeiten von Architekten, Wissenschaftlern und Künstlern, die im Rahmen des Projekts „Forensic Architecture“ unter der Leitung des Architekturtheoretikers Eyal Weizman an der Goldsmiths University in London entstanden sind. Im Vordergrund stehen neuartige Beweismittel wie 3D-Visualisierungen, Materialanalysen und Satellitenbilder, mit denen die unsichtbaren Fäden zwischen Krieg, Klimawandel und Politik neu geknüpft werden.
Das Zeitalter der Zeugen ist vorbei
„Forensis“ ist keine klassische Kunstausstellung. So haben viele der Arbeiten den symbolisch-ästhetischen Raum längst in Richtung Politik verlassen. Ohnehin geht es weniger um die weiße Kittel tragenden Rechtsmediziner aus den Vorabendkrimis als um den lateinischen Wortursprung, der das „zum Forum gehörige“ bezeichnet. Übersetzt in die Gegenwart ist das „der Moment, in dem wissenschaftliche Erkenntnisse öffentlich verhandelt werden“, wie der Kurator Anselm Franke es formuliert.
Die Ausstellung folgt einer paradigmatischen historischen Entwicklung. Galt das letzte Jahrhundert noch als Zeitalter der Zeugen, ist das 21. Jahrhundert von der „forensischen Wende“ geprägt. Mussten sich Ermittler früher noch auf direkte Aussagen oder Fotos verlassen, die die Realität ohnehin nur vage abbildeten, stützen sich staatliche Behörden heute auf forensische Analysen.
Spätestens nach der Ausgrabung der Überreste des NS-Kriegsverbrechers Josef Mengeles in Argentinien 1985, etablierte sich die Forensik auch auf internationaler Ebene. Kurz darauf verwendete man dieselben Exhumierungs-Verfahren zur Analyse von Massengräbern in Peru oder in Jugoslawien, was nicht nur der historischen Aufarbeitung diente, sondern den anonymen Bürgerkriegsopfern auch ihre Identität zurückgab.
Heute ist das staatliche Machtmonopol bei der Untersuchung krimineller Tathergänge aufgrund des Internets und neuen digitalen Bildgebungsverfahren aufgelöst. Das Meer galt bislang als letzter schwarzer Fleck der Erde, an dem auch das forensische Kontakt-Spur-Prinzip nicht greift. Eine Tatsache, die den 13.417 Menschen zum Verhängnis wurde, die bei einer Flucht über das Mittelmeer allein zwischen 1988 und 2012 umkamen. Doch im digitalen Zeitalter hinterlassen selbst die dunkelsten Flecken der Welt eindeutige Spuren. Sie müssen nur aufgespürt werden.
So zeigt die Arbeit „Left-to-die Boat“, dass die Katastrophe des Flüchtlingsboots aus dem lybischen Tripolis, das im Frühjahr 2011 ohne Treibstoff und Lebensmittel im Mittelmeer umhertrieb und 63 Menschenleben kostete, vermutlich hätte verhindert werden können. Anhand einer digitalen Karte, die eine raum-zeitliche Rekonstruktion der Ereignisse visualisiert, wird deutlich, dass nicht nur die angrenzenden Länder, sondern auch die NATO womöglich von der akuten Notfallsituation hätte wissen müssen. Einer Schätzung des UNHCR zufolge sind während des Lybienkriegs 2011 allein in dieser Region 1500 Menschen ertrunken. Auch die anderen Arbeiten zu diesem Thema führen zu dem Eindruck, als hätte die europäische Flüchtlingspolitik eine perfide Kultur des passiven Tötens kultiviert.
Ein ähnliche Thematik, die mit dem Bekanntwerden der Bedeutung des US-Stützpunktes Ramstein jüngst eine neue Dringlichkeit bekam, ist der Drohnenkrieg. Das Projekt „Unmanned Aerial Violence“ (UAV) befasst sich insbesondere mit den Kollateralschäden der so genannten „gezielten Tötungen“ in Afghanistan, Pakistan, Jemen und Somalia, die US-Präsident Obama bis vor kurzem noch bestritten hatte.
Die paradoxe Logik moderner Kriegsführung
Die mithilfe von Satellitenbildern, 3D-Modellen und Zeugenaussagen erstellten Karten rekonstruieren den detaillierten Ablauf von Drohnenangriffen und dokumentieren die Zerstörungsgrade und die Einschussradien der Raketen. So zeigt eine animierte Grafik den Angriff auf ein traditionelles Dorffest 2011 im pakistanischen Stammesgebiet Waziristan, bei dem 43 Zivilisten getötet wurden. Das daraus entstandene „Archiv der Zerstörung“, in dem 74 unterschiedliche Ruinen registriert sind, eignet sich in seiner kompositorischen Strenge als Prototyp eines digitalen Denkmals. Ein Mahnmal, das vor allem die paradoxe Logik moderner Kriegsführung aufdeckt, in der es bequemer ist, verdächtige Personen zu töten, als sie zu verurteilen.
Foto des Bombeneinschlags im Haus der Familie Salha in Pakistan. Es wurde überlagert mit dem Modell von Forensic Architecture. Es wurde verwendet, um die Erinnerungen der Überlebenden des Angriffs zu unterstützen. © Forensic Architecture/Chris Cobb-Smith 2013
Die Methode der „patterns of behavior“, mit denen das Militär ihre Drohnen-Ziele im Vorfeld analysiert, erinnert an Philip. K. Dicks Science Fiction-Roman „Minority Report“, bei der die „Precrime“-Polizeieinheit Straftäter tötet, bevor sie straffällig werden. Mithilfe von Wahrscheinlichkeitsrechnung, Risikoanalysen und Mustererkennungsverfahren werden so detaillierte Bewegungsprofile über die Verdächtigen erstellt. Doch ähnlich wie Börsenvoraussagen, die mit ähnlichen Methoden getroffen werden, bewirkt die Vermeidung des Risikos eher das Gegenteil. Es ist hinlänglich bekannt, dass das Verständnis von Angehörigen unschuldiger Opfer nicht allzu groß ist, wenn eine am anderen Ende der Welt ausgelöste Drohne versehentlich ihre Verwandten oder Bekannten tötet.
Dass sich der Drohnenkrieg unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle bewegt, liegt insbesondere an der erfolgreichen Geheimhaltung. So sind die Raketeneinschläge für Satelliten oft nicht als solche erkennbar. Denn sie zeigen den Grad der Zerstörung, nicht aber die Ursache. Um sie zu verdecken, sind die Raketen so konstruiert, dass ihre Einschusslöcher nicht größer als 50 cm sind und erst dann explodieren, wenn sie sich durch das jeweilige Gebäude gebohrt haben. Auch aufgrund der ungeklärten Faktenlage rangiert die Zahl der zivilen Todesopfer zwischen 1614 und 2939.
Besonders hier offenbart sich die politische Sprengkraft der neuen, nicht-staatlichen Forensik, die zunehmend auch die Aufmerksamkeit von Menschrechtsorganisationen anzieht. Zuletzt dienten die Arbeiten des UAV-Projekts dem UN-Sonderberichterstatter Ben Emmerson als Indizien für Präsentationen in New York und in Genf.
Die im Rahmen des Anthropozän-Projekts kuratierte Ausstellung erzählt von einer Gegenwart, in der die Grenzen zwischen Natur und Mensch, aber auch zwischen Kunst, Wissenschaft und Politik aufgelöst sind. Denn wenn jeder in jeder Sekunde digitale und natürliche Spuren hinterlässt, wird der ganze Planet zum Tatort.
Die Ausstellung „Forensis“ ist noch bis zum 5. Mai im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen.
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