- Auf der Jagd nach dem weißen Wal
David Foster Wallace hat mit «Unendlicher Spaß» den definitiven post-postmodernen Großroman geschrieben. In der grandiosen Übersetzung von Ulrich Blumenberg ist er nun auf Deutsch zu entdecken
«Infinite Jest», das 1996 erschienene Hauptwerk von David Foster Wallace, kann man mit guten Gründen als das definitive Buch des ausgehenden modernistischen Jahrhunderts bezeichnen. Das ist nicht unbedingt ein Kompliment. Die jetzt vorliegende deutsche Übersetzung von Ulrich Blumenbach wird in der Literaturgeschichte der Übersetzungen zukünftig ähnlich unhintergehbar dastehen wie Hans Wollschlägers «Ulysses» in den achtziger Jahren. Diese Aussage dagegen können wir als uneingeschränktes Kompliment gelten lassen. Man wusste schon seit Jahren, dass der Zürcher Übersetzer für den unerschrockenen Kiepenheuer & Witsch-Verlag an diesem Unternehmen arbeitete, das in eingeweihten Kreisen eine fast mythische Dimension angenommen hatte: als jage Blumenberg einen weißen Wal.
Die Metapher drängt
sich nicht ganz zufällig auf. Denn «Unendlicher Spaß», wie
Wallace’s Roman jetzt auf Deutsch heißt, hat mit dem Objekt der
fatalen Begierden des Captain Ahab durchaus etwas gemein. Es ist
ein großes, schreckliches, faszinierendes, streckenweise kaum zu
ertragendes Buch, das seit seinem Erscheinen 1996 so dezidierte
Fans und Verächter hat wie kaum ein anderes in der gegenwärtigen
Literatur. Ein Buch schließlich, dessen auch vom entschiedenen
Gegner nicht bestreitbare literarische Qualität einen auf jeder
seiner gut 1000 Seiten staunen (fast hätte ich geschrieben:
schaudern) lässt.
Schauen wir uns, um dieses Knäuel von Widersprüchen genauer in den
Blick zu bekommen, einen Moment lang die literarische Vorgeschichte
an. Als David Foster Wallace Mitte der achtziger Jahre mit dem
Roman «The Broom of the System» debütierte, wurde die amerikanische
Szene einerseits beherrscht von Büchern einer realistischen, formal
«minimalistisch» gesonnenen Literatur, deren Klassiker Raymond
Carver und Ann Beattie sind. Der Gegenpol dieser eher
traditionalistischen Schule war die postmoderne Dekonstruktion des
Erzählvorgangs in den Romanen beispielsweise von John Barth und
Robert Coover.
Wallace zeigte sich zu Beginn seiner Karriere fasziniert von den Büchern Thomas Pynchons, von den vielfach verspiegelten Erzählwelten des Postmodernismus, von den Erkundungsrundgängen im Maschinenraum der Erzählens, vor allem aber wohl von der Intellektualität des postmodernen Kunstwollens. Zugleich fühlte er sich dem Anrührenden und menschlich Bewegenden der minimalistischen Schule verpflichtet. «The Broom of the System» sollte nach dem Willen des Autors weder ein realistisches Buch sein noch ein metafiktionales. «Wenn es überhaupt etwas ist», schrieb Wallace, «dann ist es über den Unterschied der beiden Schreibweisen» («it’s meta-the-difference-between-the-two»). David Foster Wallace begab sich auf seine eigene Jagd nach dem weißen Wal, dem ultimativen post-postmodernen Großroman.
Die letzte Muatation aus dem Jurassic Park
Wir selbstkritischen Deutschen haben uns angewöhnt, kunstreligiöse Großanstrengungen auf das Konto des deutschen Bildungsbürgertums zu setzen. Dabei übersehen wir, dass die realistische und humorvolle Variante angelsächsischen Erzählens, die bei uns viel übersetzt und den deutschen Autoren von einflussreichen Literaturkritikern als Vorbild nahegelegt wird, eine relativ junge, vor allem britische Lockerungsübung ist; in den fünfziger Jahren wurde sie von Kingsley Amis und Philipp Larkin den kunstreligiösen Aufsteifungen von James Joyce, T. S. Eliot und Ezra Pound polemisch-fröhlich entgegengesetzt und erwies sich erst relativ spät (dann aber flächendeckend) als schulbildend. Vor allem in Amerika aber überlebte währenddessen das düster-modernistische Romangroßwerk insbesondere in akademischen Jurassic Parks in all seiner schaurigschönen Großartigkeit bis zum Ende des eben vergangenen Jahrhunderts durchaus. «Infinite Jest» ist dessen bisher letzte Mutation. So etwas wie «Gravity's Rainbow» auf Speed – oder unter dem Einfluss aller möglichen anderen Drogen, von deren Namen (geschweige denn Wirkungen) unsereiner noch nie etwas gehört hat.
Es ist nicht einfach, die in diesem Buch geschilderten Vorgänge in einer einigermassen folgerichtigen Inhaltsbeschreibung abzubilden. Vielleicht aber lassen sich die Sucht mitsamt den verschiedensten konkreten Suchtsubstanzen als dessen Thema feststellen: die Sucht nach Drogen, Sport, Medien, Unterhaltung, Grausamkeit, Begriffsakrobatik, ausufernden Dialogen und Metaphernfluchten, nach Fußnoten, Handlungs-Ausfransungen, detailliertesten Beschreibungen. Sogar die Sucht nach Fremdwörtern und gesuchten Vokabularen tobt sich aus in diesem Text. Wallace ist ein Connaisseur des reichhaltigen Vokabulars der englischen Sprache, und Ulrich Blumenbach tut einem bei aller Bewunderung für seine Leistung auf fast jeder Seite des Buchs auch ein bisschen leid. Wo in traditionelleren Erzählwerken eine Hauptfigur agiert, tritt in «Unendlicher Spaß» ein literarisches Wesen namens Hal Incandenza auf, eine stark autobiografisch inspirierte Konstruktion. Denn Hal ist (wie David Foster Wallace selbst es war) ein intellektuelles Wunderkind, ein Tenniscrack und ein depressiver Drogenabhängiger.
Hal frequentiert
aus dem offenen Drogenvollzug heraus eine Akademie, die irgendwie
seiner Familie gehört. Es gibt einen älteren Bruder, Orin, mit dem
er lange Dialoge führt. Und der Vater der beiden, James Incandenza,
ist der Regisseur des titelgebenden Films namens «Infinite Jest».
Separatistische Terroristen aus Québec sind hinter dem ultimativen
Kunstwerk her und wollen mit seiner Hilfe die kanadische und
amerikanische Mehrheitsgesellschaft vernichten oder zumindest für
immer vor das heimische Videogerät verbannen.
Der Roman besteht vor allem aus Monologen in Novellenlänge, in
Dialogen vom Umfang eines durchschnittlichen Beckett-Einakters und
aus quälend ausführlichen Aufzählungen, Katalogen und fingierten
Dokumenten. Die zweite Hauptfigur des Buchs, Don Gately, wird von
den Québecer Terroristen angeschossen. Die späteren Passagen des
Buchs bestehen zum größten Teil aus Dons Reflexionen und
Assoziationen, während er im Krankenhaus liegt und sich mit seinen
Schmerzen auseinandersetzt, die durch Medikamente erträglich zu
machen er ablehnt. Fußnoten und ausgelagerte Handlungs-Bestandteile
(eine Art Kleingedrucktes, das man aber gelesen haben muss, wenn
man irgendwie mitkommen will) machen 20 Prozent des Textkorpus aus.
Und das Ganze spielt in einer nicht allzu entfernten
Zukunft.
Große Literatur macht weniger einsam
Ich weiß, dies alles klingt furchtbar. Und das ist es auch. Und doch kann man sich, während die Lektüre dauert (und dauert und dauert), auf keiner Seite von dem Eindruck freimachen, einem großen Kunstwerk zum Opfer gefallen zu sein. Die intensivste Kunsterfahrung mit diesem Buch findet auf der stilistischen Mikroebene statt. Jeder Satz macht einen melodisch und rhythmisch vielfach und sorgfältig abgeklopften und ausbalancierten Eindruck. Jede der metaphorischen Erfindungen wirkt wie eigens für den jeweiligen Sinnzusammenhang des Romans komponiert (oder für ein Gedicht). Jedes sprachliche Detail ist gesondert poliert und ausgefeilt wie in einem Song von Prince. Die Dialoge sind von einer Dichte und Klangfülle, der man im Deutschen allenfalls nahe kommen kann (was Ulrich Blumenbach bewundernswürdig gelingt). Doch was eine noch wichtigere Qualität darstellt: Selbst die verstiegensten und atemraubendsten Wendungen und Stränge, Monologe, Aufzählungen und Gespräche geben einem beim Lesen die Überzeugung ein, dass hier nicht nur ein großer Künstler am Werk ist, sondern vor allem ein verzweifelter und anständiger Mensch, der das Unglück kennt und es beschreibt, damit wir nicht so allein mit unserem eigenen sind.
Große Literatur, sagte Wallace, mache einen überhaupt weniger einsam auf der Welt, «intellectually, emotionally, spiritually». Wallace scheint Erfahrungen des Schmerzes, der Langeweile, der Intoxikation, der Verzweiflung, Einsamkeit und Depression so genau beschrieben zu haben, um selbst frei zu werden von all dem – aber auch mit der Absicht, den Leser durch Katharsis zu erlösen. Das genau meint Dave Eggers mit seiner Bemerkung im Vorwort der amerikanischen Ausgabe von «Infinite Jest», durch das Lesen dieses Romans werde man ein anderer Mensch.
Das Genie aus dem Creative Writing WorkshopDie Vorstellung, als Schriftsteller Katharsis und Erlösung zu bewirken, gehört ins klassische Repertoire des kunstreligiösen Großdichters und seiner Verstiegenheit. Bei David Foster Wallace, der bis zu seinem Suizid im vergangenen Jahr unter schweren seelischen Störungen litt, scheint dieses Motiv lebensgeschichtlich auf eine Weise beglaubigt, die frivoleren und menschlich weniger anziehenden Exemplaren abgeht. Die tragische Identität von menschenfreundlicher Botschaft, literarhistorischer Planstelle und Person ist dabei weit eher der Quellcode des David-Foster-Wallace-Hypes im New Yorker Village, an den Ostküsten-Universitäten und in den studentischen Autorenbuchläden in Berkeley als das Hauptwerk selbst: Man kann sich schwer vorstellen, dass allzu viele seiner Fans es tatsächlich ganz gelesen haben.
Literatur, sagte Wallace in einem Interview, müsse ausloten und
darstellen, was es bedeutet «to be a fucking human being».
Mein Lieblingszitat bezieht sich auf die auch formale Ablehnung
postmoderner Experimentalliteratur: «The last thing this book
is», schrieb er über seinen zweiten Roman (den er nicht mehr
fertig gebracht hat), «is some kind of clever metafictional
titty-pincher». Wenn er andererseits öffentlich sagte:
«This is a generation that has an inheritance of absolutely
nothing as far as meaningful moral values go and it's our job to
make them up», sehen wir wieder den Erlösungsstrang im
Ensemble der Intentionen und Qualitäten dieses facettenreichen
Genies am Werk: Der Dichter als Führer durch die amerikanische
Postmoderne.
Womit wir die widersprüchlichen, einigermaßen explosiven
Ingredienzien des Phänomens David Foster Wallace fürs erste
beisammen hätten: kunstreligiöser Größenwahn aus dem Geist
maximalistischer und postmoderner Schreibweisen einerseits;
Menschlichkeit und gesunder Menschenverstand andererseits, der den
metafictional tittypincherism zu überwinden trachtet. Dazu
die modernistische Überzeugung, dass das nur «von innen heraus zu
machen» sei, wodurch man sich als Autor im modernistischen
Paradoxiengewebe vollends verheddert. Eine überragende literarische
Begabung. Immer rege intellektuelle Interessen – a first-class
mind. Und eine depressive Persönlichkeitsstörung, von deren
ruinösem Ausmaß wir uns erst eine Vorstellung machen können, seit
nach seinem Selbstmord Witwe und Eltern offen darüber sprechen
können. Fehlt nur noch das literatursoziologische Dispositiv, in
dem dies alles zur Geltung kommt. Wir finden es in dem
industrieartig ausgebreiteten System von creative writing
workshops und writer-in-residence-Programmen, die das
amerikanische Gegenstück zum deutschen Stipendien-, Literaturpreis-
und Stadtschreiberwesen bilden.
Im Gegensatz zur deutschen Situation aber ist die
creative-writing-scene in den USA akademisch (statt
buchhändlerisch und kulturreferentenmäßig) geprägt. Damit haben wir
den Schlüssel sowohl zur Widersprüchlichkeit wie zum (eigentlich ja
ebenso paradoxen) Erfolg des David Foster Wallace in der Hand.
Akademische Leser lieben komplizierte Bücher. Diese geben ihnen
nicht nur die Möglichkeit, lange papers zu verfassen und
Seminare mit hippen Titeln anzubieten, sondern auch die Gelegenheit
zu allgemein bewunderter conspicuous comsumption von
Büchern, die wirklich etwas hermachen. In Richard Brautigans Roman
«Ein konföderierter General aus Big Sur» kommt eine Figur vor, von
der es sinngemäß heißt: «Er las die Russen und hatte einen
bestimmten Gesichtsausdruck, wenn er sagte, ich lese gerade die
Russen …». Man kann sich vorstellen, dass es einem bei einer
gewissen Sorte junger Frauen nicht schadet, wenn man nach dem
zweiten Drink mit einem bestimmten Gesichtsausdruck sagen kann: Ich
lese gerade «Unendlicher Spaß» von David Foster
Wallace...
Mark McGurl, einer interessantesten jüngeren amerikanischen Literaturhistoriker und Professor an der Universität in Los Angeles, hat in diesen Wochen ein Buch veröffentlicht mit dem Titel «The Program Era. Postwar Fiction and the Rise of Creative Writing». Es kann dabei helfen, nicht nur das David-Foster-Wallace-Syndrom besser zu verstehen, sondern überhaupt die einflussreichste, brillanteste, am meisten übersetzte zeitgenössische Literatur der Welt: die amerikanische.
In ihrem Zentrum stehen nicht sublimierte religiöse Erfahrungen
wie in den literarischen Exzellenzclustern der zweiten Hälfte des
18. Jahrhunderts und der ersten des Zwanzigsten, sondern das
College als Erfahrungsraum von Selbstfindung, Erotik,
Individuation, Drogen, Berufsvorbereitung. Nicht nur stellen die
höhere Schul- und Universitätsbildung und die
white-collar-jobs, auf die sie ihre Absolventen
vorbereiten, das wichtigste Thema der US-Literatur dar – die
überwiegende Mehrzahl ihrer Verfasser sind zudem Produkte der
creative-writing-workshops. In diesen Institutionen werden
exakt die Tugenden der Introspektion, Selbstfindung und
-darstellung, Kreativität, Projektorientierung künstlerisch
eingeübt, die Leserinnen und Leser dann auch in ihrer
Berufstätigkeit an den Tag legen müssen. McGurl unterscheidet zwar
die «minimalistischen» kreativen Schreibweisen (das Carver-Syndrom)
von den «maximalistischen» (Wallace oder auch Joyce Carol Oates).
Er arbeitet aber auch heraus, dass beide ein System zugleich der
Offenbarung wie der Verhüllung von Aufsteigerangst und
Selbstdarstellungsscham darstellen, «a way of shielding oneself
with words».
Man kann, nachdem man solche Einsichten zur Kenntnis genommen hat,
nicht mehr unbefangen in «Unendlicher Spaß» herumlesen. David
Foster Wallace hat im Leben wenig anderes getan, als als Student
creative-writing-workshops zu besuchen und als Professor
solche Kurse zu leiten. Seine maximalistisch-postmoderne Variante
des creative writing ist genausowenig vom künstlerischen
Flügel des amerikanischen Universitätssystems zu trennen wie seine
Sehnsucht danach, aus der eigenen Intelligenz in das «Ganz Andere»,
das «Endlich Vollkommen Einfache» durchzubrechen. (Vielleicht hat
ihn diese Sehnsucht, weil sie nicht zu erfüllen ist, das Leben
gekostet). Und nicht nur der artistische Hochmut seines Hauptwerks,
sondern auch dessen Verzweiflung, die unglaubliche Kunstfertigkeit
wie das Fahrige und an den Haaren Herbeigezogene der Konstruktion
wie des Personals will einem nur noch als die verhüllte
Selbstoffenbarung eines so hochintelligenten wie tief unglücklichen
erst jungen, dann alternden depressiven Mannes einleuchten, der
einen Ausweg sucht.
Wallace wollte Leser, die ihn nicht wegen seiner postmodernen
Distinktionsgesten ernst nehmen, sondern einer Botschaft folgen,
deren Kern ein konservatives Credo ist. Er scheint dem Glauben
angehangen zu haben, die Erlösung von Depression und Seelenschmerz,
Langeweile und Verzweiflung, Hochmut und Verstiegenheit sei
möglich, wenn man nur Gestalt, Ursachen und Begleitumstände dieser
Sünden genau genug beschreiben könne. Ob seine Botschaft der
Erlösung durch Kunst auch in Deutschland wahrgenommen werden wird,
im Land Friedrich Hölderlins, Stefan Georges, Rainer Maria Rilkes
und Peter Handkes, bleibt abzuwarten. Das heroische und rundum
gelungene Übersetzungsunternehmen Ulrich Blumenbergs jedenfalls hat
jetzt die Voraussetzungen dafür bereitgestellt.
Stephan Wackwitz ist Programmleiter des Goethe-Instituts in New York. Zuletzt erschien sein Buch «Osterweiterung. Zwölf Reisen».
David Foster Wallace
Unendlicher Spaß (Infinite Jest). Roman
Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenberg.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2009. 1648 S., 39,95 €
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