- Arno knickt mir wieder meine Flügel
Wie Alice Schmidt ihrem Ehemann als Köchin, Geliebte, Putzfrau, Sekretärin, Krankenschwester und Schachpartnerin diente und dabei immer eine Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs blieb
Um das Jahr 1970 herum sei auf dem Antiquariatsmarkt etwas Ungewöhnliches geschehen, schreibt der Hamburger Antiquar Dieter Gätjens in seinem kommentierten Verzeichnis der Bibliothek Arno Schmidts: «Es entstand eine Nachfrage nach Büchern, die bis dahin kaum ernst genommen worden waren.»
Hier ging eine Saat auf, die Arno Schmidt (1914–1979) seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit seinen literarischen Werken, mit Zeitungs- und Rundfunkbeiträgen und nicht zuletzt auch mit seiner Fouqué-Biografie verbreitet hatte. Damit bot ein Einzelkämpfer dem klassischen wie auch dem heftig nachdrängenden literarischen Establishment der Gruppe 47 Paroli. Das war schon ein erstaunlicher Erfolg für einen Schriftsteller, von dem im Jahre 1955 nur alle anderthalb Tage ein Buch verkauft wurde, und der bei aller Wertschätzung ein Autor für Nachtprogramme blieb.
Möglich wurde diese nachhaltige Wirkung dank seiner Frau Alice. Doch deren Existenz ist vielen Anhängern des vermeintlichen «Einsiedlers» und «Solipsisten» Arno Schmidt verborgen geblieben. Ohne sie wären seine Werke wenn nicht ungeschrieben, so doch unabgetippt und unversandt geblieben.
Seit ihrer Hochzeit im August 1937 hatte Alice Schmidt (1916–1983) ihr eigenes Leben so weitgehend in den Dienst ihres Mannes gestellt, dass sie fast vollständig in seinem Schatten aufging. Mit ihren Tagebüchern tritt sie posthum daraus hervor, doch belegen ihre Notizen auch, dass es, wie Jan Philipp Reemtsma einmal feststellte, «einfachere Lebenswege in der Welt gibt, als den, die Frau Arno Schmidts zu sein».
Als Köchin und Geliebte, Näherin, Wäscherin, Putzfrau und Sekretärin, Sprachschülerin, Schachpartnerin, Krankenschwester, erste Leserin und größte Bewundererin war Alice Schmidt einem Mann verbunden, dessen Talente und hochfahrende Ansprüche allenfalls von seiner Menschenscheu und seinen Verlust-Ängsten übertroffen wurden – und von Minderwertigkeitskomplexen, die seiner kleinbürgerlichen Herkunft geschuldet waren. «Wenn ich in einer Künstlerfamilie aufgewachsen wäre, wäre ich in allem viel sicherer», klagte er 1955 gegenüber Alice.
Schon morgens Alkohol zur Stärkung
Alice Schmidt war eine begeisterte Schwimmerin und Radfahrerin. Nach ihrer Hochzeit hatte sie dazu wenig Gelegenheit. «Ich bin kurzsichtig und kann nicht Rad fahren», habe ihr Mann dekretiert, berichteten Freunde. Im niedersächsischen Cordingen, wo das Paar unmittelbar nach Kriegsende lebte, fuhr man immerhin Tandem. Doch nach der Umsiedlung in den bergigen katholischen Süden waren solche kleinen Fluchten unmöglich.
Schon bald nach der Hochzeit hatte Alice auf Arnos Drängen ihre Bürotätigkeit aufgegeben und war durch ein Lesepult entschädigt worden, an dem sie ihr Lern- und Lesepensum auch während der Hausarbeit fortsetzen konnte. «A. ist so lieb», notiert sie im Juli 1955 eine unverhoffte Großzügigkeit: «Brauche kein Mittagessen zu kochen.»
Alice Schmidts Tagebücher folgen den formalen Vorgaben ihres Mannes, notieren die Wetterdaten ebenso akribisch wie den Eingang von Honoraren und den Ausgang von Manuskripten, den Empfang und den Inhalt von Care- und sonstigen Paketen, die Kosten der Haushaltsführung und den gezielten, oft morgendlichen Alkoholgenuss, mit dem Arno Schmidt die Bildkraft der Seele zu stärken pflegte.
Als literaturhistorische Quelle bietet das Tagebuch des Jahres 1954 ausgezeichnete Einblicke in die Reisen nach Ahlden und Ostberlin, wo Arno Schmidt für seinen Roman «Das steinerne Herz» (1956) recherchierte. Das Tagebuch von 1955 zeigt, wie die Arbeit an diesem Buch mit zunehmenden Brotarbeiten für Zeitungen und Rundfunk konkurrierte und durch den Schock des drohenden Pornografie-Prozesses wegen «Seelandschaft mit Pocahontas» zu scheitern drohte.
Überhaupt zeugen die Tagebücher der Alice Schmidt in einem Maße vom täglichen Kampf ums Dasein, das ihnen eine nicht nur sozialhistorische, fast schon literarische Qualität verleiht. Gemäß den «Berechnungen», mit denen Schmidt damals in der von Alfred Andersch herausgegebenen Zeitschrift «Texte und Zeichen» seine literaturtheoretischen Konzepte formulierte, wären sie freilich die «E1-Ebene», der schnöde Realteil, von dessen Boden sich die Fiktionen des Schriftstellers erhoben.
Über die Mysterien
solcher Schöpfungsprozesse hielt sich Schmidt auch gegenüber
seiner Frau bedeckt, doch liefern ihre Notizen über seine
Zettelwirtschaft Einblicke in die Ökonomie seiner Inspirationen.
Zugleich zeigen sie, wie dieser Pygmalion dafür sorgte, dass sein
nach dem Ideal einer Schriftstellergattin geformtes Weib nicht die
Bodenhaftung verlor: «A. knickt mir wieder meine Flügel.»
«Du wärst so der richtige Blut und Bodenschmierer der Nazis geworden«, macht er ihr 1955 eine erste Kurzgeschichte madig. Einladungen zu einer Urlaubsreise an die Adria, die die begeisterte Schwimmerin liebend gerne angenommen hätte, durchkreuzt er mit einer klassischen Double-Bind-Argumention: «Ich könne ja allein mitfahren, er würde mirs bestimmt nicht übel nehmen …»
1955 allerdings erzielt die pragmatische Alice Schmidt Teilerfolge, indem sie die Brotarbeiten ihres Mannes forciert. Ernst Kreuder hatte die beiden mit den Adressen etlicher Zeitungen versorgt, bei denen Arno Schmidt 1955 mehr mit Artikeln verdiente als mit seinen Büchern. Alfred Andersch öffnete ihm den Weg in den Rundfunk, wo ein längerer Beitrag mit 900 DM das Überleben der Schmidts für Monate sicherte.
Alice Schmidt drängt auch auf einen neuen Wohnsitz, der nach
vielen Wirren in der Darmstädter Inselstraße bezogen wird. Damit
endet die Zeit der Notunterkünfte, aber das von Arno Schmidt
erträumte Heidehäuschen hinterm hohen Zaun erscheint ferner denn
je.
Und wieder einmal gleicht der Umzug einer Flucht. Hatte man vor
Jahren die geliebte norddeutsche Tiefebene verlassen, weil man
deren Verwandlung in einen neuen Kriegsschauplatz befürchtete, so
war der Auszug aus der katholischen Provinz auch der Angst vor dem
Pornografie-Prozess geschuldet. Man hatte sogar eine Flucht in die
DDR, nach Irland oder die Schweiz in Erwägung gezogen, doch solche
unrealistischen Gedankenspiele zeigen nur, wie leicht dieser
scharfe Kritiker der Nachkriegs-Restauration und Wiederbewaffnung
einzuschüchtern war.
Es war die Schüchternheit eines Außenseiters, der sich nach 1945 mit der Entscheidung für ein Leben als freier Schriftsteller gegen fast alle gesellschaftlichen Bindungen entschieden hatte. Während Freunde und Förderer wie das Ehepaar Michels im Opel Kapitän vorfuhren, hatten Schmidts nicht einmal eine Krankenversicherung. So laborierte Alice Schmidt aus Angst vor den Arztkosten monatelang an einer Blinddarmreizung herum, während ihr Mann seine Herzprobleme zu ignorieren versuchte.
Als Umsiedler im saarländischen Örtchen Kastel gelandet, kärglich ernährt und untergebracht, zugleich von geradezu manischer literarischer Produktivität, lebte das Ehepaar Schmidt am Rande des Zusammenbruchs. Fast täglich taucht das Kürzel «N» im Tagebuch auf, das für Nachmittagsschlaf steht, hinter dem sich aber weniger Geruhsamkeit als vielmehr Erschöpfung verbirgt.
Ohne Care-Pakete ging gar nichts
Am 20. Mai 1955 staunt Arno Schmidt: «Es ist doch wirklich komisch, haben wir heute mal recht gut und kräftig gegessen und schon ist man gar nicht müde und arbeitsfähig.» So darf man nach der Lektüre der Tagebücher als ein literaturgeschichtliches Faktum konstatieren: Ohne die Care-Pakete von Arno Schmidts in die USA emigrierter Schwester Lucy Kiesler, ohne die großzügigen Fresspakete des Ehepaars Erika und Wilhelm Michels wären einige der bemerkenswertesten und wirkungsmächtigsten Werke der deutschen Literatur nach 1945 nicht entstanden, weil es Arno und Alice Schmidt an Nahrung – und auch am produktionstechnisch unentbehrlichen Kaffee – gefehlt hätte.
Dem gegenüber steht das kulturelle Establishment der frühen Bundesrepublik, das Arno Schmidt dank der Vermittlung von Männern wie Andersch, Kreuder, Max Bense, Hans Henny Jahnn und Eberhard Schlotter durchaus offengestanden hätte. Aber es war ihm unmöglich, sich als abhängig Beschäftigten oder Mitglied einer Gemeinschaft vorzustellen. Arno Schmidt sah weniger die Sicherheit, die ihm etwa eine Stelle an der Ulmer Hochschule für Gestaltung geboten hätte, als die Verpflichtungen, die er von einer solchen Position befürchtete: «Ihr wollt mich totschinden», stöhnt er im September 1955, als sich ein Treffen mit Bense nicht mehr vermeiden lässt.
Das ist nicht das schlechteste Stichwort für ein Gesamturteil, denn die Tagebücher der Alice Schmidt legen ein ebenso beredtes wie schonungsloses Zeugnis von der Schinderei ab, die das Schreiben von Literatur nach den Maßstäben eines Arno Schmidt mit sich brachte – einer Schinderei für zwei.
«Noch so viel zu tun und so wenig, womit», klagte einst der greise Samuel Beckett. Alice und Arno Schmidt waren ihm da um einiges voraus: «Ja und jetzt fängts auch noch an, mit unserer Gesundheit zu hapern. Wir werden also schon früh alt! Zumindest innerlich», klagte Arno am 31. Dezember 1954.
Da war er gerade vierzig Jahre alt.
Ulrich Baron ist Publizist und freier Literaturkritiker und lebt in Hamburg.
Susanne Fischer
Alice Schmidt. Tagebuch aus dem Jahre
1955
Edition der Arno Schmidt Stiftung bei Suhrkamp,
Frankfurt a. M. 2008. 373 S., 38 Euro.
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