- Wenn die Götter Liebe machen
Von Medea zu Pocahontas: Klaus Theweleit zeigt, dass unsere prallsten Mythen vor allem von Gewalt und Unterdrückung erzählen
Die Griechen waren grausam. Und schlechter als ihr guter Ruf, der sich den Geschichten verdankte, die sie selbst von sich erzählten. Diese Geschichten handeln von schönen Frauen, um deren Körper neckisch Delphine streifen, die auf die Namen von Göttern hören und Kinder mit diesen Frauen zeugen. Oder von einem Gott, der zum selben Zweck ins Gefieder eines Schwans schlüpft. Solche Geschichten wurden zuerst mündlich weitererzählt, dann aufgeschrieben, von Epikern, Dramatikern und Historikern, von Hesiod, Euripides, Homer, Apollonius, Ovid. Sie wurden aufbewahrt, von den Arabern über das Mittelalter gerettet, übersetzt und bebildert.
Dionysos und Ariadne, Europa und der Stier, Jupiter und Antiope, Kallisto und Zeus, Leda und der Schwan – unsere Gemäldegalerien und Skulpturenparks werfen ein heiteres Licht auf dieses wunderliche Personal der Antike. Denn so bunt, so listig und lustig, so anzüglich, nein, pornografisch hier Götter und Menschen miteinander ins Geschäft kommen, das schlägt die Tristesse der christlichen Bilderwelt um Längen. Gerade den Künstlern der Renaissance eröffnete sich ein befreiender Ausweg aus der Depression der sakralen Ikonografie, die immer nur den leidenden Gekreuzigten und die vergeistigte Andacht der Frommen zeigte. Der «Götterklatsch» war unterhaltsamer. Aber war er auch menschenfreundlicher?
„Götterklatsch“: Solche Vokabeln verwendet der Kulturtheoretiker Klaus Theweleit für das Material, das er in seinem neuen «Buch der Königstöchter» großzügig ausbreitet. Mit «Klatsch» meint Theweleit ein Ablenkungsmanöver. Er zeigt, dass hinter den antiken Mythen die Geschichte gewaltsamer Unterwerfungen und Kolonisierungen steht, eine Geschichte, die durch beschönigende Erzählungen versteckt, überschrieben oder vergessen gemacht werden soll. Es sind nur „Stories!“, ruft Theweleit. „Denn überall, wo der Gott die schöne Menschin, die königliche Menschin im abgelegenen Ort, im locus amoenus, samenspendend umfaßt, sprudelten ein paar Takte vorher andere Säfte; fielen abgeschlagene Köpfe ungläubig zu Boden; sprang das Blut aus neu geöffneten Quellen; strömten die Lustsäfte im Körper der Eroberer, die sich im zu verbreitenden Namen der olympischen Oberhäupter diese und jene Freiheit genehmigten.“
Götter sind Erfindungen von Menschen, sie erfüllen propagandistische Zwecke. Und die Realgeschichte, sagt Theweleit, erzählt von „Ankünften, dort, wo immer schon wer ist“. Sie ist die Geschichte von Unterwerfungen, Kolonisierungen und Landraub. Dies aus den Mythen zu lesen und gegen sie zu wenden, ist die Absicht dieses 700-seitigen Buches.
Theweleit-Leser kennen das längst: Dieser Autor widersetzt sich allen Schnitten und Begradigungen, die seinen Gedankenfluss in eine knappere Form zwingen würden. Früher war er dafür bekannt, dass er die Schreibmaschine an eine Rolle Endlospapier angeschlossen hatte. Seinen Erstling, die 1977 erschienenen „Männerphantasien“ (zwei Bände, zusammen über 1000 Seiten) gelesen zu haben oder doch zumindest so tun zu können, gehörte zum guten Ton einer ganzen Generation. Und zwar weit über das universitäre Milieu hinaus: Rudolf Augstein widmete dem Buch des damals noch namenlosen Autors eine achtseitige Rezension im „Spiegel“. Theweleit wühlte sich durch die Freikorpsliteratur der Zwischenkriegszeit, erzählte von Flintenweibern und Krankenschwestern, vom Schlamm und Blut, durch die die Autoren zumindest in ihrer Phantasie gewatet waren, und setzte aus all dem eine psychologische Anatomie des faschistischen Mannes zusammen. Sein Assoziationsrausch ließ Lücken, zu denen der Philologie bislang der Mut gefehlt hatte, während sein unverwechselbarer Ton auch eine Reaktion auf den «Sound der Väter» war, also jene Begriffskühle, die der Germanist Helmut Lethen einmal exemplarisch am Werk Gottfried Benns vorgeführt hat.
Den „Männerphantasien“ folgten weitere Buch-Monumente. Das dreibändige „Buch der Könige“ (3000 Seiten) behandelte das Verhältnis von Kunst und Macht anhand von Künstlerbiografien des 20. Jahrhunderts, wobei es den Frauen, die zum Erfolg der „Durchbruchsmänner“ erst gebraucht und dann aus dem Kunst-Kanon gelöscht wurden, die Ehre erweist. Liebe, das ist für Theweleit immer auch Arbeit und Kampf und die Muse niemals ein Luftwesen.
„Ich war nicht etwa krank oder untätig“, entschuldigt sich der Autor am Ende des nun erschienenen „Buchs der Königstöchter“ dafür, die Geduld seiner Leser so lange auf die Probe gestellt zu haben. Es ist der zweite der auf vier Bände angelegten „Pocahontas“-Reihe; Band eins und vier kamen schon 1998 heraus. Eine zehnjährige Lehrtätigkeit an der Karlsruher Kunstakademie lag dazwischen und, natürlich, zahlreiche andere Bücher: über Godard und Hitchcock, Sigmund Freud, Fußball als Realitätsmodell, auch eine Jimi-Hendrix-Biografie, das musste alles sein.
Was man so Liebe nennt… Medea eröffnet Theweleits Panoptikum der Königstöchter. Sie ist die Blaupause einer über 3500 Jahre und bis heute variierten Erzählung. Deren Kern immer gleich bleibt: Kolonisator landet in fremdem Land, um dort den größten Schatz zur rauben. Er stößt auf Widerstand: Der Herrscher dieses Landes stellt ihm eine unlösbare Aufgabe, die der Eroberer nur mithilfe der Tochter dieses Herrschers bewältigt, die sich sofort unsterblich in ihn verliebt hat. Im Fall der Argonauten: Jason, ein Königssohn aus Iolkos, fällt im fernen Kolchis ein, wo er das Goldene Vlies erpressen soll. Der dort herrschende König Aietes stellt dazu schier unlösbare Bedingungen. Feuerspeiende Stiere müssen ins Joch gezwungen und mit ihnen ein Acker gepflügt werden, in dessen Furchen Drachenzähne zu streuen sind, aus denen wiederum wilde Krieger wachsen, die bekämpft werden müssen. Doch damit nicht genug: Am Ende muss noch der niemals schlafende Drache ausgeschaltet werden, der das Vlies bewacht. So etwas schafft kein Mensch. Und auch Jason nur mit Medeas Hilfe.
Nicht nur mit Schönheit, sondern auch durch Zauberkräfte gesegnet, hilft die verliebte Königstochter Jason, die Aufgaben zu erfüllen, verlässt mit ihm das Land und wird seine Frau. König Aietes erleidet einen doppelt bitteren Verlust. Alles der Liebe wegen? Klaus Theweleit verneint. Love Stories sind Mittel gegen die Realgeschichte und der Argonauten-Mythos nur die Verbrämung archäologisch nachweisbarer Unterwerfungsfeldzüge, auf denen die eurasischen Griechen den östlichen Mittelmeerraum erobert haben. Der dezentere Ausdruck dafür ist Gräzisierung.
Medeas Liebe, Medeas Verrat – die Geschichte wiederholt sich: Zum Beispiel im Fall der Pocahontas, die zwischen 1595 und 1617 tatsächlich gelebt hat, als Angehörige des Indianerstammes der Powhatan und Tochter des Häuptlings Wahunsenaca. In den Reisetagebüchern des britischen Kolonisten John Smith ist von einer segensreichen Tat der schönen Indianerin die Rede. Sie habe sich schützend vor die Ankömmlinge aus der Alten Welt gestellt, als deren Leben von ihrem Vater, dem Häuptling, bedroht wurde. Sie sei dann in Liebe zu dem Pflanzer John Rolfe entbrannt, den sie noch in Virginia geheiratet habe. Tatsächlich wurde sie zur Christin gemacht. Ihr neuer Name: Rebecca Rolfe. In der Kuppel des Washingtoner Kapitols zeigt ein Wandgemälde die Taufe der Indianerin – ein Gründungsmythos in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Klaus Theweleit rekonstruiert die historische Wahrheit hinter der Mär. Tatsächlich waren die Powhatan den Kolonisten zunächst freundlich gesonnen, tatsächlich war es John Smith, der Versprechen brach und Pocahontas als Geisel gefangen hielt. Sie wurde nach England verschifft, in viktorianische Kleider gesteckt und 1616 als Indianerprinzessin am Hof von London präsentiert.
Wie ihre indianische Parallelfigur Malinche, die dem spanischen Conquistador Hernán Cortés bei der Eroberung des Aztekenreichs geholfen hatte, diente Pocahontas den Briten zu einem eindeutigen Zweck: Sie sollte zeigen, dass die Indianer von Virginia recht zivilisierte und ansehnliche, vor allem aber ungefährliche Wesen waren und weitere Expeditionen daher von hohem Reiz. Das wirtschaftliche Interesse dahinter: Tabak. Dieser Rohstoff war (vor Weizen und Baumwolle) das Goldene Vlies, das zu rauben John Smith von der Virginia Company geschickt worden war. Als Pocahontas auf ihrer Rückreise und im zarten Alter von 22 Jahren noch auf der Themse an einer Infektion – oder, so Theweleit, durch Gift – starb, war dies das traurige Ende der ersten Werbe-Ikone der Geschichte. Nicht aber das Ende der Medea-Pocahontas-Malinche-Erzählung: Auf verschlungenen Wegen, auf denen auch die „afrikanische Königin“ Kleopatra einen Gastauftritt hat, führt Theweleit bis ins digitale Zeitalter und John Camerons Film „Avatar“. „Das Buch der Könige“ ist auch ein Bilderbuch. Neben den Werken alter Meister zieht sich eine ganze Serie von Bildern aus der Zigarettenwerbung hindurch. Und nie mehr wird man die Tänzerin auf der Gitanes-Schachtel für etwas anderes halten als die geopferte Heldin der ältesten Geschichte der Welt.
Klaus Theweleit
Buch der Königstöchter
Pocahontas Bd. 2. Stroemfeld/Roter
Stern, Frankfurt a. M. 2013.
736 S., 38 €
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