- Allein auf der Insel der Insel
Raoul Schrott ist die schillerndste Figur der jüngeren deutschsprachigen Literatur. Der 38-jährige Tiroler ist ein Weltfahrer und Polyhistor, Gilgamesch näher als Stuckrad-Barre, ein Sprach-Jongleur, Aufschneider und Enzyklopäde. Seine Biografie hat er hochgeflunkert, mit erfundenen Abenteuern und fiktiven akademischen Großtaten – dabei wäre sie auch ohne Mogelei spannend genug. Seine Auftritte auf dem Buchmarkt erstaunen durch gekonnte Inszenierung. Sein Œuvre blendet durch Fülle und Vielfalt – und erbittert seine Feinde durch einen Hang zur Hochstapelei. Auch mit dreißig Büchern ist Raoul Schrott immer noch eher ein Gerücht als eine fixe Größe der Literaturszene. Nun hat er sein Opus magnum vorgelegt – den Roman «Tristan da Cunha», das ultimative Inselwerk in einer Saison von lauter Inselbüchern, geschrieben auf einer Insel, in Irland. Literaturen schickte Richard David Precht aus, Schrotts Alters-, Bildungs- und Berufsgenossen, um den Erzähler, Lyriker, Übersetzer, Vorleser, Herausgeber und Weltnomaden zu stellen – und darzustellen
Harmlos sieht er aus, unverbildet wäre gemein. Jedenfalls passt er hier ins Bild. Ist das wirklich Raoul Schrott, die schillerndste Figur der jungen deutschsprachigen Literatur? Der Genius der Feuilletonisten. Der Polyhistor, das Sprachgenie, das gleich in mehreren toten Sprachen zu Hause ist, dem Lateinischen und dem Altgriechischen ebenso wie dem Akkadischen oder dem Alt-Provençalischen. Der weit gereiste Weltmann, der maghrebinische Schriftsteller übersetzt und irische Dichter. Der Anverwandler, der alledem gleich seine eigenen Texte im Geist der Zeiten und Länder hinterherschiebt. Das Vorlese-Talent, das zu seinen Texten phantastische Hörbücher mitliefert. Der Entertainer mit Charme und Charisma. Ein Mann, den H. C. Artmann schon bewunderte, als Schrott gerade erst dreißig war: «Wenn ich heute anfangen könnte, würde ich gerne dort weitermachen, wo er ist. Ja, ich beneide ihn.»
Oder ist dies hier der andere Schrott, der Hochstapler und Scharlatan, von dem seine Kritiker sprechen? Der Schwindler, der vorgibt, aus Sprachen zu übersetzen, die er in Wahrheit gar nicht beherrscht. Ein Dilettant, der über alles schreibt und sich dabei fortwährend übernimmt. Ein fader Lyriker ohne echten Sinn für Syntax, Rhythmus und Klang. Ein Aufschneider, der mit holzhackerischer Sicherheit Kerben in die Literaturgeschichte schlägt, in der er wie die Axt im Walde herumwütet.
Was davon stimmt? Wer ist Raoul Schrott? Er rede nicht gern über sich selbst, sagt er knapp, nippt kurz am Kaffee und beginnt zu erzählen, langsam und unaufgeregt. Allein diese Wahrheit hört sich an, als wäre sie von ihm erfunden. 1964 geboren, auf einem Schiff unweit von São Paulo, getauft auf den Namen Raoul Ingo Schrott. Seine frühe Kindheit verbringt er in Landeck in der Nähe von Innsbruck.
Schrott ist zwei Jahre alt, als sein Vater für das österreichische Außenhandelsministerium mit seiner Familie nach Tunesien zieht. Er kommt früh in die Schule, lernt Französisch und wird regelmäßig von den älteren Kindern auf dem Schulhof verprügelt; ein Ereignis, das Narben hinterlässt. Als er ein paar Jahre später nach Innsbruck zurückkehrt, hat er längst beschlossen, sein Inneres vor der Außenwelt zu schützen, begreift sein «Ich als Reservoir». Er gräbt sich ein, vertieft sich früh in Bücher, denkt daran, selbst zu schreiben. Mit fünfzehn liest er das vom Hörensagen beste Buch der Welt, «Finnegans Wake» von James Joyce. Sein Fazit für das eigene künftige Werk ist ernüchternd: «Das schaffe ich nie!»
Wie man Privatsekretär bei Soupault wird Raoul Schrott trinkt einen weiteren Schluck Kaffee, lehnt sich zurück und erklärt mit ernster Miene die Konsequenzen. «Es gibt zwei Arten, mit Ambitionen fertig zu werden: Nicht wagen und wagen!» Der Satz schwebt über dem Tisch im Café, groß und hohl. Eine Plattitüde – hätte er selbst nicht auf geradezu monumentale Weise demonstriert, was es heißt zu wagen. Raoul Schrott ist das personifizierte Wagnis, ein Musterbeispiel der Entschlossenheit. Mit achtzehn will er kein Ingo mehr sein, der er für seine Mutter bis heute geblieben ist. Er schreibt sich für Literaturwissenschaft ein, aber er studiert nicht nur, er will mehr. Schrott ist 21, als er nach Paris fährt. Der 89-jährige Philippe Soupault, der Grandseigneur des Surrealismus, lebt hier in einem Altersheim.
An einem Herbstnachmittag 1986 sitzt Schrott dort im Flur. Es ist Samstag, und Soupaults Frau schickt den jungen Österreicher ungehalten fort. Kurz darauf aber steht der greise Philippe Soupault leibhaftig neben ihm, gebrechlich und mit mürber Stimme nach einer Kehlkopf-Operation. Tags darauf putzt Schrott Soupaults Zimmer und leert dem Surrealisten den Nachttopf. Dafür weiht der Meister seinen Jünger in die Arbeit ein, erlaubt ihm, den Nachlass mit zu ordnen, ihm bei der Korrespondenz zu helfen. Schrott ist «Privatsekretär» des Alten in dessen letzter Lebensphase.
Als Soupault ein Jahr darauf stirbt, hat Schrott sich eingeschrieben in die Literaturgeschichte als «Soupaults letzter Schüler». Er studiert weiter Literaturwissenschaft in Innsbruck und Norwich und dreht 1990/91 mit der Videokamera den Film «Winckelmanns Tod» für den ORF. Seit 1990 ist er Lektor in Neapel am Istituto Orientale im Fachbereich Germanistik. 1993 promoviert er über «DADA 1921/1922» in Tirol; 1996 folgt die Habilitation, eine Sammlung mehrerer DADA-Schriften.
Immer unterwegs, immer und überall produktiv Die Fortsetzung erzählt er geläufig, schon oft hat er darüber gesprochen. In der gleichen Zeit, zwischen 1990 und 1996, hat er acht Bücher veröffentlicht, die meisten verlegt im kleinen österreichischen Haymon-Verlag in Innsbruck. Seine Biografie verzeichnet bereits gut zehn Städte und Länder, und wo immer er hingeht, entstehen Werke. 1990 schreibt er über Legenden vom Tod, schmiedet Verse in der Tradition der Totensprüche. Für seinen Gedichtband «Hotels» zieht es ihn für Monate nach Seillans, ein provençalisches Dorf. Zwei Motivkomplexe schmelzen in seiner Lyrik zusammen: die zeitlose Flüchtigkeit des Hotellebens und die antiken Ursprungsmythen der Kunst. So etwa hält die wortgeschichtliche Verwandtschaft zwischen der Herdgöttin «Hestia» und dem Wort «Hotel» für eine Analogie her. Ob Antike oder moderne Wohn- und Gaststättenkultur, stets erkennt Schrott darin den Fluch und das Aufbegehren gegen die Vergänglichkeit, allen Zweifelnden dokumentiert durch eine stolze Fülle griechischer, lateinischer, englischer, französischer und italienischer Textpassagen.
In Seillans ediert er zugleich die Gedichte des provençalischen Troubadours Guihelm von Aquitanien neu. Doch Schrott wäre nicht Schrott, hätte er den Liedern des Herzogs nicht selbstbewusst seine eigenen provençalischen Liebeslieder nachgestellt, ihn zu einem Sängerwettstreit post mortem gefordert. An weiteren Übersetzungen besteht kein Mangel. Noch vor seinem dreißigsten Lebensjahr hat er den karibischen Nobelpreisträger Derek Walcott übersetzt, ist zu dem irischen Dichter Seamus Heaney gepilgert und übersetzt in einer eigenen Buchreihe maghrebinische Autoren.
«Finis Terrae», sein erster Roman, der 1995 erscheint, enthält alle Zutaten eines ambitionierten Frühwerks. Erkenntnis und Angst, Ordnung und Sinn, das Chaos der Welt und der alles zerstörende Tod sind seine Themen. Auf nicht einmal 300 Seiten verwebt Schrott die Geschichte zweier historischer Figuren, die des Archäologen Ludwig Höhnel und die des griechischen Seefahrers und Astronomen Pytheas von Massalia, der als Erster bis nach Thule, ans äußerste Ende der damaligen Welt, gelangt sein soll. Ungezählte Motivkreise sind ineinander verflochten, Trauer und Endlichkeit bestimmen seine Tonlage.
Der Erfolg des Buches in den Feuilletons hat Konsequenzen. Hans Magnus Enzensberger entdeckt den jungen Enzyklopäden und ermöglicht ihm ein Traumprojekt: «Die Erfindung der Poesie». Schrott gibt Gedichte von den Sumerern bis zur Gegenwart heraus, aber er gibt sie auch diesmal nicht nur heraus, er übersetzt alles neu und erreicht damit einen gewaltigen Publikumserfolg. Anschließend schiebt er ein Buch über «Das Geschlecht der Engel» hinterher und übersetzt physikalische, geografische und betriebswirtschaftliche Fachsprachen in den Zeilenbruch des Versmaßes, fabriziert daraus Lyrik («Tropen. Über das Erhabene»).
Allein im Jahr 1999 publiziert Schrott drei Bücher und zwei Hörbücher. Gleichzeitig unternimmt er weiterhin große Reisen, schreibt zwei Texte über Wüste und Sand, «Die Wüste Lop Nor» und «Khamsin. Die Namen der Wüste». Mit achtunddreißig blickt er zurück auf mehr als dreißig Publikationen als Autor von Prosa und Lyrik, als Übersetzer, Vorleser und Herausgeber. Und nun: «Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde», sein bisher umfangreichstes Werk.
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Wir sitzen in Raoul Schrotts Landrover und fahren hinauf zu einem Berggasthof. Den Geländewagen hat er sich vor fünf Jahren mit dem Geld für «Die Erfindung der Poesie» gekauft. Kraftvoll lenkt er das Auto mit dem linken Arm über die Serpentinen.
Im Gasthof ist er bekannt, die Familie war oft hier, man kennt Schrott seit seiner Jugend. Charmant plaudert er mit dem Personal, spricht die Sprache der Leute, obgleich er den Akzent vermeidet. Auch optisch passt er hierher, kräftig und zünftig, sein Auftreten demonstriert Milieusicherheit. Man muss sich Durs Grünbein hier vorstellen, um sich den Unterschied klar zu machen. Wie Grünbein, so personifiziert auch Schrott die Idee des Poeta doctus, aber er verkörpert sie nicht. Keine Geste, kein Zierrat einer randlosen Brille verrät den Intellektuellen. Er ist untauglich als Romanfigur – sein Äußeres illustriert eine ganz andere Idee als sein Inneres. Vollkommen unsichtbar etwa seine erklärte Verachtung für die Provinz, den Mief von Innsbruck. Der, der hier sitzt und Apfelschorle trinkt, wirkt wie ein ausgeruhter Wochenendgast. Neuguinea ist weit entfernt. Und sein Lebensgefühl «fortwährend am Abgrund», von dem er jetzt ruhig und gelassen spricht, bleibt unvorstellbar.
Was Farbe bekommt, ist nur der geografische Abgrund, die Klippen der Atlantikküste. Seit fünf Jahren wohnt Schrott in Cappaghglass im äußersten Südwesten Irlands, auf einer schmalen Landzunge im Meer. Zu seinem Haus, das einsam auf einem Hügel liegt, erdichtet er im Beiheft zum «Tristan da Cunha»-Roman einen phantastischen Blick fast bis nach Neufundland – in etwa die Entfernung von St. Petersburg nach Madrid. Glaubwürdiger erscheint dies: Nachts scheint ihm der Fastnet Rock ins Schlafzimmer, alle fünf Sekunden streift der Leuchtturm mit seinem Licht das Haus. Schrott wohnt da, wo Europa aufhört und die Atlantiküberquerungen beginnen. Dichterlandschaft, Poeten-Topografie; Christoph Ransmayr ist einer seiner Nachbarn, Jeremy Irons wohnt dort und auch Tomi Ungerer.
Ein gewaltiges Werk über eine sehr kleine Insel In dieser Einsamkeit lebt Schrott ohne Frau und Kinder. Jeden Morgen steht er um zehn Uhr auf und arbeitet durch bis Mitternacht. Wenn er dabei eine Seite am Tag schafft, ist sein Regelpensum erreicht. Hier hat er «Tristan da Cunha» geschrieben, den Roman einer Insel, die er als Kind auf der Weltkarte im Büro des Vaters entdeckt hatte und in deren malerischen Namen er sich verliebte: Tristan da Cunha, die Insel der Besessenen.
«Mary’s Peak, blaugrau über diesem Nachmittag von Wolken, der sich auf die Basis legt. Siebentausend Fuß über dem Meeresspiegel und sieben Jahre, seit ich zuletzt die Insel sah; doch das Fremde an ihr blieb noch bei jedem Mal beherrschender als das Wiedererkennen. Nach fünf Tagen auf dem Schiff, wo der Horizont einen halben Atlantik entfernt schien und es bloß ein paar Wellenkämme weit weg war, taucht sie aus der Kimmtiefe auf und steht scheinbar stundenlang vor Augen, ohne näherzukommen. Im Maßstabslosen des Meeres wirkt sie größer, als es ein bloßer Berg je könnte; etwas, an dem der Blick nie ganz zu Ende findet. Die Sonne im Norden, die Insel wie eine – Aberration ist das einzige Wort, das mir einfällt.»
Mit einem Postschiff hat Schrott diese Aberration besucht, zwei Monate ist er von Bristol aus über die Kanarischen Inseln und Sankt Helena nach Tristan da Cunha gefahren, vorwiegend mit illustren Engländern, «eine Versammlung von Narren», mindestens dreißig Jahre älter als er selbst. Das unmittelbare Auftauchen des grauen Vulkankegels aus dem Meer fasziniert ihn, er macht sich Notizen, verknüpft seine Kindheitssehnsucht mit den Narren an Bord und diese mit seinen detaillierten Kenntnissen der Inselgeschichte.
Das Ergebnis, «Tristan da Cunha», ist monumental; ein gewaltiges Buch über eine sehr kleine Insel. Die Literaturgeschichte spätestens seit «Robinson Crusoe» ist nicht arm daran, aber Schrotts Roman sprengt nahezu alle Dimensionen. Die Materialfülle erscheint ebenso uferlos wie der Reichtum an minutiösen Beobachtungen und großen Motiven.
Noomi Morholt ist auf dem Weg in die Antarktis. Ein Eisbrecher bahnt sich den Weg durch den Südatlantik. In der Basis-Station entdeckt sie eine Kiste mit Büchern und Manuskripten, für Tristan da Cunha bestimmt, die vermeintlich einsamste Insel der Welt; jener von Menschen bewohnte Punkt, der von allem anderen am weitesten entfernt ist. Die Bücher behandeln alle die Insel, und auch die Manuskripte stehen mit ihr in unmittelbarem Zusammenhang. Die Briefe Edwin Heron Dodgsons, Bruder des berühmten Lewis Carroll und als anglikanischer Missionar im 19. Jahrhundert auf Tristan da Cunha im Einsatz, die Aufzeichnungen des Funkers und Geografen Christian Reval, der 1969 beim Vermessen einer weiter südlich gelegenen Insel unter nie geklärten Umständen stirbt, und das reichhaltige Material des besessenen Briefmarkensammlers Mark Thomsen, der anhand seiner Sammlung das epische Panorama der Insel nachzeichnet. Alle drei sind sie Besessene, der Priester, der Forscher und der Sammler; alle drei suchen sie in Tristan da Cunha ein Jenseits im Diesseits. Und auch Noomi Morholt entgeht dem Sehnsuchtsfieber der Insel nicht, eine Reise, die zugleich zu ihr selbst zurückführt, zur nie verarbeiteten Totgeburt ihres Kindes.
Tristan gesucht, nicht gefunden So einfach sich diese vier Lebensgeschichten erzählen lassen, so kompliziert ist das Zusammenspiel der Motive. Manches davon ist bestechend, überzeugend bis ins Detail, anderes angestrengt, mitunter überfrachtet. So etwa geht viel Baumaterial dabei drauf, dass Schrott alle vier Hauptfiguren mit dem Tristan-Mythos in Verbindung bringt – eine Motiv-Analogie, deren einzige Grundlage der Name der Insel ist. Die Zufälligkeit des Entdeckernamens Tristão da Cunha als Anlass, den mittelalterlichen Tristan-Stoff auszugestalten, erscheint gesucht, nicht gefunden; zumal dessen Verbindung mit dem zentralen Leitgedanken der besessenen Sehnsucht nach einem Fluchtpunkt vage und konstruiert bleiben muss.
«Ich kenne nichts Anspruchsvolleres, als mit dem bloßen Grundwortschatz eine gute Geschichte zu erzählen, ohne alle intellektuellen Krücken, ohne die Akrobatik von Überfliegern, die effekthascherisch am Bauch landen», hat Schrott einmal geschrieben. Eine präzise Beschreibung seines eigenen Werkes ist das nicht; eher eine Abwehrgeste gegen den nahe liegenden Verdacht, sich zu verheben, den Vorwurf der überbordenden Materialschlacht. Die Angst sitzt tief, denn so wenig Schrott effekthascherisch auf dem Bauch landet, so wenig erzählt er je eine gute Geschichte mit bloßem Grundwortschatz. Aus wenig viel zu machen, scheint Schrott bislang nicht möglich, aus vielem viel zu machen, wie in «Tristan da Cunha», aber durchaus.
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Die Kellnerin bringt das Essen. Das Thema wechselt zurück auf die Biografie. Dass man sein neues Buch etwas angestrengt, vor allem aber humorlos finden kann, verwundert Schrott. Unwillkürlich richtet er sich auf. Er selbst hält sich für einen spielerischen Menschen, einen Narren oder Schelm. Natürlich habe er viel Humor, erklärt er ernst. Seine Bücher seien «voller Ironie». Wie Kafka erwischt er sich während des Schreibens beim Lachen. In einem autobiografischen Essay, vorgetragen am Collegium Helveticum, hat er sich launig mit den Erfahrungsvignetten des Augustinus und des Apuleius, mit Michael Psellus, dem byzantinischen Philosophen, und Kapitän Huon d’Entrecasteaux von Tasmanien, mit den Dichtern Pessoa und Machado verglichen. Und wie Cyrano de Bergerac auf seiner Mondreise sieht er sich und seine Gedichte mit Apothekerfläschchen um den Leib geschnallt vor dem Verglühen geschützt – Witze, direkt aus der Literaturwissenschaft gegriffen.
«Die Leute haben gelacht, und die waren jung», verteidigt er sich gegen den Verdacht des Philologen-Humors. Das Skurrile, das Alberne und das Unbeschwerte ziehen Schrott sehr ernsthaft an, nicht zufällig hat er sich so lange mit DADA beschäftigt. Er selbst freilich erscheint umso grüblerischer, je länger er erzählt, nicht heiter, sondern auf der Suche nach Heiterkeit.
Der Widerspruch im Selbstbild ist charakteristisch. Raoul Schrott ist ein Mann ungezählter Paradoxa, die eine bemerkenswerte geistige Spannbreite voraussetzen: ein Fragender voller Antworten, ein Eremit mit ausgeprägtem Mitteilungsdrang, ein Kritiker der Pädagogik, dessen pädagogischer Furor unter jüngeren Autoren seinesgleichen sucht. Die protestantische Theologie verteufelt er ob ihrer Selbstrechtfertigungspflicht, und er ist doch ebenso ein Exempel dafür wie alle seine Romanfiguren. Unausgesetzt verlangt er von sich Antworten, im Leben wie in seinen Büchern, die selten eine Frage offen lassen.
Ein Lebenslauf-Erfinder à la Arno Schmidt Von gleicher Widersprüchlichkeit ist das Verhältnis zu seiner Rolle im Literaturbetrieb. Dem «Werben um die eigene Interessantheit» spricht er «jede Berechtigung» ab, er selbst rede nur widerstrebend über sich. Überhaupt sei er «ungern in der Öffentlichkeit».
Ist das wirklich derselbe Raoul Schrott, der für «Rowohlts Literaturmagazin» Numero 26 und für die Zeitschrift «Protokolle» sich einen Lebenslauf erdichtete, der ihn, wie weiland Arno Schmidt, vier Jahre älter machte und der in die neu geschaffene Zeitblase eine Seefahrtskarriere als Handelsmatrose und Leutnant zur See einfügte? Der dort ein Studium der Arabistik, Komparatistik und Musikwissenschaft in Paris, Kairo und New York vortäuschte? Kaum ein deutschsprachiger Schriftsteller der letzten Jahrzehnte, der sich auf vergleichbare Weise interessant gemacht hätte.
Und «ungern in der Öffentlichkeit» zu sein ist schon eine sehr versteckte Passion für einen Vorlese-Akrobaten wie Schrott, dessen nonchalantes Auftreten sein Publikum stets fesselt. Nicht zufällig ist der, der hier vorgibt, den Literaturzirkus zu verachten, eines seiner Lieblingskinder geworden. Der Leonce-und-Lena-Preis, der Hölderlin-Förderpreis, der Berliner Literaturpreis, der Peter-Huchel-Lyrikpreis sowie zahlreiche Stipendien und Gastdozenturen belehren unmissverständlich darüber.
Schrotts Stimme klingt beiläufig und gelassen. Es kostet ihn wenig Mühe. Es soll klingen, als ob seine Stellung im Betrieb ein Zufall wäre. Zuweilen redet er dabei so treuherzig, dass nicht auszuschließen ist, dass er sich gerade selbst glaubt. Jetzt, nach den großen Erfolgen der letzten Jahre, haben die Scharaden ihren Dienst getan, zu verschleiern ist nicht mehr die eigene Biografie, vielmehr sind es die früheren Verschleierungen.
Heute sieht er sich als Anwalt der Redlichkeit, der sich dazu verpflichtet, öffentlich nur über Dinge zu reden, von denen er etwas versteht. Deshalb auch äußert er sich nicht über Politik, und Dichter wie Grass, die sich gern zu den Nöten und Notwendigkeiten des Zeitgeschehens zu Wort melden, befremden ihn.
Gegen diese Zurückhaltung steht Schrotts grenzenloser Herrschaftsanspruch über das gesamte Gebiet der Literatur. Unerschrocken wagt er sich zu jeder Klippe vor, an die Lyrik aus Jahrtausenden in der «Erfindung der Poesie», oder zuletzt an das mesopotamische Gilgamesch-Epos aus dem ausgehenden zweiten Jahrtausend vor Christus. Hier nimmt er sich das Recht heraus, im Zweifelsfall auch mit großer Geste danebenzugreifen. Der Heidelberger Assyriologe Stefan M. Maul hat ihn dafür kritisiert, sogar der Unredlichkeit bezichtigt, weil er die Hauptvorlage seiner Übersetzung des Epos, den englischen Text des Gilgamesch-Papstes Andrew George, vernebelt hat (siehe Literaturen 1–2/2002).
Natürlich kann Schrott keine Keilschrift lesen, beherrscht auch keine der alten mesopotamischen Sprachen. Er gibt das mit einer solchen Selbstverständlichkeit zu, als habe er sich nie in den zweifelhaften Ruch begeben, dergleichen Künste zu beherrschen. In der Fehde um Schrotts Sprachkenntnisse freilich übersieht man leicht, worum es sich bei «Gilgamesh» in erster Linie handelt: um einen fast beispiellosen verlegerischen Coup. Gewiss, das Werk ist voll schillernder Facetten und köstlicher Drôlerien, aber doch wohl nur für eine Zahl von hundert Eingeweihten, und daran ändert auch Schrotts eingängige Nachdichtung nichts. Die Überlieferungslücken im Text tun ein Übriges. Dass sich Schrotts «Gilgamesh» dennoch zwölftausend Mal verkauft hat, ist unter solchen Vorzeichen eine Sensation.
Es scheint, als ob jedes Buch, das Schrott heute herausbringt, zwangsläufig erfolgreich ist; das Star-Image befördert großartige Erfolge. Doch das Projekt, Philologe und Poet in einem zu sein, ruft zugleich die Kritik von Fachleuten hervor. Für einen Wissenschaftler gehe Schrott zu freihändig und gelassen mit Originaltexten um, für einen Dichter mangle es ihm mitunter am Feingefühl für den Rhythmus.
Thesen, die sich am gelesenen Leben orientieren Zutreffend daran ist zumindest dies: Die Plots von Schrott-Büchern klingen phantastisch, wenn man von ihnen erzählt, die Lektüre der Texte, Lyrik wie Prosa, ist aber oft überraschend mühselig, denn nur selten verschwinden die Ambitionen hinter dem Text. Entgegen seiner eigenen Einschätzung ist es gerade das Verdichten, die Konzentration auf das Eindringliche, was Schrott schwer fällt. Allzu gewaltig erscheint die Tonnage seiner Absichten, zu esoterisch dagegen sein Blick ins Leben. Ein überaus talentierter Anverwandler fremder Stimmen hingegen ist er in jedem Fall, ein Zeremonienmeister, der auch einem größeren Publikum den mystischen Funken aus toten Texten schlägt.
Hat er bei alledem eine ästhetische Position, eine gesellschaftliche sogar? So viel er über die Kunst des Schreibens redet, eine originelle Meinung jenseits eines gebildeten Commonsense ist schwer auszumachen. Das Leben baut nichts auf, wozu es nicht die Steine anderswo herholt. Schrotts Thesen orientieren sich am gelesenen Leben, hier zeigt sich eine Streitlust und Streitbarkeit. Gerne wettert er gegen die angebliche Verrisskultur des deutschsprachigen Feuilletons, etwa im Gegensatz zu englischen oder französischen Blättern. Eine zweifelhafte These, aber keine gewagte.
Die gesellschaftliche Lebenswirklichkeit jenseits des Literaturbetriebs hingegen bleibt bei alledem unbelichtet wie die erdabgewandte Seite des Mondes; Soziales ist nahezu tabu. Das gibt den Essays etwas Spielerisches, aber oftmals eben auch wenig Tiefe. Das Zitat eines dem gemeinen Leser unbekannten Renaissancedichters, geschickt im Text platziert, ist Schrott allemal lieber als eine genaue Beobachtung gegenwärtiger Zeitläufte.
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Auf der Terrasse des Gasthofs findet ein kleines Fest statt; ein Chor singt, Reden, Lachen und Klatschen. Wir schließen die Fenster; Schrott skizziert seine Poetik. Die Reichweite seines Werkes beschreibt er als «all das, was es heißt, Mensch zu sein». Gut, dass die Fenster zu sind. Es scheint nicht alles am Menschsein zu sein, das ihn reizt, jedenfalls weniger das häufige Banale als das seltenere Erhabene. «Kulturen sind Travestien, Masken, Spielformen für Ängste und Wünsche»; er sagt diesen Satz mit Nachdruck, so als habe er gerade etwas sehr Außergewöhnliches gedacht. Wenn er gleich darauf gezwungenermaßen über eine dieser Spielformen, die Gegenwartskultur, redet, fallen ihm nur Discos und Fast Food ein. Über die Gegenwart redet Schrott seltsam unbeteiligt und unberührt, so als handle es sich um eine Epoche, die zur Zeit der Hethiter um zwölfhundert vor Christus in Vorderasien zugrunde gegangen ist. In einer großen, schnellen Analogie vergleicht er amerikanische Seifenopern mit Jesuiten-Dramen, die er bei Nachfrage nicht genauer benennen kann – die Seifenopern selbstverständlich.
All dies hat etwas so Unzeitgemäßes, dass der Verdacht der Pose nahe liegt. Doch Schrott pflegt keine Attitüde. Seine innere Distanz zur sozialen Gegenwart ist so groß, dass er den Verdacht nicht einmal versteht, wenn man ihn damit konfrontiert. Mehrmals fragt er nach, den schlauen Kopf wieder in der schweren Rechten. Er überlegt, fragt wieder. Seine Selbstvergleiche quer durch die Weltliteratur und Weltgeschichte, seine aus der Zeit gefallenen und deshalb mitunter phrasenhaften Sätze über die Kunst, das Leben und den Tod – Feuilletons und Kritiker schätzen ihn deswegen. Und Gleichaltrige, Jüngere gar, sind kein Maßstab. Über die jüngere Gegenwartsliteratur will er nicht reden, Benjamin von Stuckrad-Barre fällt ihm ein, eine «andere Generation» – acht Jahre Altersdifferenz, ein neues Erdzeitalter. Nicht nach hinten, im Mittelalter oder bei den Sumerern, wohl aber nach vorne wird die Literaturgeschichte fremd; mit der Pop-Literatur beginnt das Unzugängliche.
Ein mönchischer Asket, der den Alltag verachtet Nicht seine Lebenswelt, die Sehnsucht nach dem Anderen ist Schrotts Lebensthema. Dafür reist er in die Welt, in Wüsten und auf Inseln, wandert, lauscht und erforscht, um dieses Thema kreisen seine Bücher. Ein mönchischer Tagesplan hält ihn in seinem irischen Domizil am Schreibtisch fest, kein Alkohol, keine Ablenkungen. Mit Arno Schmidt teilt er eine tiefe Leidenschaft für das Faktische, für Namen und historische Daten, mythische Landschaften und mathematisch genaue Zahlen. Seine Erzähltexte siedeln in den Lücken historischer Ereignisse, phantasmagorieren Abweichungen in die überlieferte Realität.
«Gallenbildung» hatte Schmidt dieses Verfahren einst genannt, die hypertrophe parasitäre Besiedlung vorgefundener Gewächse. Gemeinsam haben sie ein Faible für Endpunkte, historische und geografische. Zwei Insel-Texte hat Schmidt geschrieben, das Hörspiel «Krakatau» und den Kurzroman «Die Gelehrtenrepublik»; Schrott schreibt mit «Tristan da Cunha» den Roman jener Insel, die Schmidt als geografisches und kulturgeschichtliches Pendant zu Schnabels «Insel Felsenburg» behauptet hat. Einsame Helden in besessener Suche nach einem Fluchtpunkt, wie der Erzähler in der Sahara in Schmidts «Enthymesis» und Schrotts Raoul Louper in der «Wüste Lop Nor», sind beiderseits gern gewählte Protagonisten. Und wohl nicht ganz zufällig hat sich Schrott für seinen ersten Roman «Finis Terrae» die Figur des Navigators Pytheas von Massalia gesucht. Auch Schmidts erstes veröffentlichtes Erzählwerk enthält mit «Gadir» eine Pytheas-Geschichte.
Arno Schmidt? Raoul Schrott zuckt die Schultern. Gewiss, einer jener Autoren, die er schätzt – einer von vielen. Es klingt beiläufig; soll es wohl auch. Die Wahlverwandtschaft freilich ist weniger beiläufig. Schritt für Schritt hat sich Schrott nach Arno Schmidts Typenlehre gebildet; ein «Vir Quadratus», rücksichtslos gegen sich selbst, manisch auf sein enzyklopädisches Werk konzentriert, unterschieden von vielen Kollegen dadurch, dass er das Alltagsleben gemeiner Leute für sich selbst strikt ablehnt. Er ist unpolitisch, auf gewisse Weise unsozial, und aufs Fernsehen kann er verzichten.
Mitgeliefert: die Steinbrüche zum Traumpalast Doch anders als Schmidt hat Schrott seine Träume verwirklicht, die Arbeit zahlt sich schon in jungen Jahren aus, seine einsame Dichterklause in Irland, Schmidts Flucht- und Traumziel der fünfziger Jahre, ist eingerichtet. Wie Schmidt schreibt auch er für die Literaturgeschichte, allerdings mit verhaltenerem Optimismus. Der Literaturbetrieb, das «zweitälteste Gewerbe der Welt», wie Schrott schön sagt, und den er mit 38 Jahren besser kennt, als Schmidt ihn je kannte, belehrt unmissverständlich darüber: Der Atem der Literaturgeschichte ist nur noch kurz.
Gleichwohl gibt es ihn noch, diesen Ehrgeiz. Irgendetwas von der Sehnsucht nach Ewigkeit nagt auch in Raoul Schrott, stärker als bei manchem anderen Kollegen: «Was bleibt schon von einem – maximal fünf Gedichte.» Das Bleiben ist wichtig, das Stückchen Unsterblichkeit, sein persönliches Jenseits im Diesseits. Dafür unterwirft er sich mit liebenswerter Hingabe seinem megalomanen Programm zur Erschaffung von Weltliteratur.
Er ist diesem Ziel näher gekommen. Mit «Tristan da Cunha» hat Schrott seinen bisher besten Erzähltext geschrieben, atmosphärisch dichter als «Finis Terrae» und nicht so angestrengt wie «Die Wüste Lop Nor»; die Poesie erscheint weniger gewollt. Dennoch bleiben auch diesmal einige der für Schrott typischen Schwächen. So wird man sich fragen dürfen, ob ein Roman der Weltliteratur tatsächlich ohne Dialoge auskommen kann. Ein größeres Manko noch ist die stilistische Gleichförmigkeit in der Gedankenwelt des Personals: Ob Priester, Briefmarkensammler oder Geograf, alle schreiben ihre Aufzeichnungen in dem gleichen pathetisch-literarischen Stil einer Selbstrechtfertigung. Das ist nicht nur weitab vom Leben, sondern oft auch befremdlich, etwa wenn dem von den Anstrengungen des Überlebenskampfes gezeichneten Christian Reval die Insel in seinen letzten Notizen mit einem Mal «primordialer» vorkommt und der dem Untergang geweihte Funker noch Zeit und Aufmerksamkeit findet, die Felsen als «schiefrig wie bläuliche Kohle» zu beschreiben. Die minutiösen Landschaftsbeschreibungen, Schrotts größte erzählerische Kunst, decken sich hier in nichts mit der realen Situation des Protagonisten. So etwas bringt man wohl kaum seitenlang zu Papier, wenn man die Inselwelt, wie Reval, schon seit Jahren genau kennt und man zudem gerade ums Überleben kämpft.
Was der Psychologie auf diese Weise an Lebensnähe fehlt, erfüllt der Text in seiner Detailtreue an anderer Stelle über die Maßen. Muss man wirklich das ganze Buchstabier-Alphabet des Funkens erklären? Und Blöcke von mehr als 120 Seiten über die Historie der Insel, abgefasst im langweilig-pathetischen Tonfall des Briefmarkensammlers, verführen durchaus zum schnellen Ermüden. Wie schade für den Roman, dass der Leser bei «Tristan da Cunha», diesem gewaltigen Traumpalast, immer wieder die Steinbrüche mitgeliefert bekommt, aus denen die Quader gehauen sind. Weniger wäre hier eindeutig mehr.
Was also bleibt? Eine phantastische Konstruktion, trotz der Mängel, errichtet auf der Grundlage enormer Kenntnisse. Ein Stil, der wenig variabel erscheint, gleichwohl aber überaus geschmeidig und elegant. Eine Füllung mit glänzend beobachteten Naturvorgängen und feinsten Stimmungen; unmerklich gleiten Realität und Romantik ineinander; das Reale ist das Romantische, das Romantische das Reale.
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Wir sind im Hotel angekommen, die Sonne sinkt, das flaschengrüne Wasser des Inn ist jetzt betongrau. Ein allabendlich verwaistes Frühstückszimmer bietet uns Quartier. Die industriegeschnitzte Pendeluhr mit ihrem fortwährenden Ticken lässt sich anhalten, die Lebenszeit nicht; dies ist Schrotts Thema. Im Widerstreit gegen den Skandal des Todes sieht er sich als «Don Quijote und Sancho Pansa in eins», denn «das meiste in der Literatur ist nicht einlösbar in der Realität». Alles nur Sätze, nichts von Beständigkeit, die gefasste, gestaltete Welt ist nur Papier. Das allein schmerzt. Und er zitiert Beckett: Alles ist immer nur ein Scheitern. Weiter scheitern, besser scheitern. Aber das Scheitern bleibt.
Die späte Stunde macht die Gedanken schwerer. «Es lässt sich nichts Gültiges sagen, obwohl man es beständig will.» Ich wäre hier wohl besser als man. Aber Raoul Schrott sagt gerne man, und er zitiert Hugo Balls Satz über das Leben und die Kunst: «Ein Maskenspiel im Leeren.» Das Lachen darauf ist bitter. 7000 akkurat berechnete Stunden hat er an «Tristan da Cunha» gearbeitet, jeden Tag eine Seite geschrieben, «während das Leben am Fenster vorbeizieht – und habe wohl doch nichts Gültiges gesagt». Das vorbeiziehende Leben in Cappaghglass, wie mag es wohl aussehen? Schiffe? Seevögel? Strandgut? «Das Aufbegehren ist das Entscheidende», zitiert er Camus und sieht aus dem Fenster und zur Uhr. Ein bisschen redet er noch über seine Reisen, Neuguinea zuletzt, und nun nach Afrika.
Was hat er für Pläne, wenn er zurückkommt? Sein Gesicht ist müde, es ist spät, er hebt die Schultern, murmelt nur leise: «Ein Gedichtband, ein Opern-Libretto, ein Theaterstück fürs Burgtheater, ein Roman»; das Übliche also.
Minuten darauf ist er weg, in den Landrover geklettert, durchs tiefnächtliche Innsbruck auf dem Weg nach Landeck und in den dunkleren Niger.
Im Raum bleiben die schweren Sätze, vom Aufbegehren, von der Gültigkeit, vom Scheitern, und eine mundtote Pendeluhr. Draußen ist Sonntag. Die Luft vor dem Hotel riecht nach Gebirge; das Wasser des Inn ist schwarz. «Radierungen der Nacht, die mit dem Stichel des Lichts in ihre Aquatinta geritzten Skizzen; die unter den Farben liegenden Konturen, die im Säurebad des Dunkels erneut hervortreten. Ihr geisterhafter Glanz hatte schon den Einfall der Langobarden in Rom angekündigt, Rebellionen in England, im Mittelalter Pest, Plagen und die Apokalyptischen Reiter und im letzten Jahrhundert den Einmarsch der Nazis in Österreich und den Überfall auf Pearl Harbor, ebenso wie die Epiphanie der Mutter Gottes in Fatima: Bilder einer Götterdämmerung, aus dem Himmel gekratzt.» Richard David Precht, Jahrgang 1964, arbeitet als freier Publizist und Autor in Köln. Zuletzt veröffentlichte er die Studie «Noahs Erbe. Vom Recht der Tiere und den Grenzen des Menschen» sowie den Roman «Die Kosmonauten»
Werke von Raoul Schrott Tristan da Cunha oder Die Hälfte der Erde. Roman Hanser, München 2003. 720 S., 25,90 €
Finis Terrae. Ein Nachlaß dtv, München 1997. 270 S., 11 €
Gilgamesh Hanser, München 2001. 341 S., 24,90 € (als Fischer TB 9 €)
Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren Die Andere Bibliothek bei Eichborn, Frankfurt a. M. 1998. 530 S., 25 € (bei dtv 12,80 €)
Die Wüste Lop Nor. Novelle Hanser, München 2000. 123 S., 13,90 € (als Fischer TB 7,90 €)
Khamsin. Die Namen der Wüste S. Fischer, Frankfurt a. M. 2002. 60 S., 10 €
Hotels dtv, München 1998. 111 S., 7,70 €
Tropen. Über das Erhabene Hanser, München 1998. 212 S., 17,90 € (als Fischer TB 10,90 €)
Das Geschlecht der Engel, der Himmel der Heiligen. Ein Brevier Hanser, München 2001. 304 S., 23,50 €
Bakchen. Nach Euripides Hanser, München 2000. 112 S., 13,90 €
Die Erde ist blau wie eine Orange. Polemisches, Poetisches, Privates dtv, München 1999. 171 S., 10,20 €
Die Musen. Fragmente einer Sprache der Dichtung dtv, München 2000. 219 S., 9,90 €
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