- Die 18-Uhr-Legende
Punkt Sechs veröffentlichen ARD und ZDF am Wahlsonntag das voraussichtliche Wahlergebnis. Doch Politiker und manche Journalisten können schon am Nachmittag die Ergebnisse verdauen. Demoskopen haben die ersten Trends sogar schon zum Mittagessen.
Diese Computer werden bewacht wie das Gold von Fort Knox. Sie stehen zwei Stockwerke unter der Erde im Tiefkeller des Statistischen Bundesamts in Wiesbaden, werden ständig gekühlt und könnten selbst bei Stromausfall tagelang mithilfe eines Notstromaggregats weiterlaufen. Alle Informationen sind hier gebunkert, die in der Bundesrepublik Deutschland je zu statistischen Zwecken gesammelt worden sind. Auch die Wahldaten: wie viele Wahlberechtigte bei allen Bundestagswahlen seit 1949 gab, wie viele von ihnen für welche Partei stimmten, wie viele Briefwähler es gab, wie viele Bürger zu Hause blieben, welches der flächenmäßig kleinste Wahlkreis ist und welches der größte. Alle Daten sind per Knopfdruck und innerhalb von Sekunden abrufbar.
Das Zahlengedächtnis der Republik ist bomben-, erdbeben- und blitzschlagsicher und auch vor Hacker-Angriffen geschützt. Bislang ist es keinem Datenräuber gelungen, in das System einzudringen. Der Tiefkeller wird ständig überwacht. Selbst der Präsident des Amtes, Roderich Egeler, zugleich Bundeswahlleiter, darf ihn nur in Begleitung eines IT-Administrators betreten. Rein kommt man nur durch ein Schleusensystem, das sogar Egelers Vize Dieter Sarreither, sonst ein nüchterner Mathematiker, spektakulär findet: „Wenn die erste Tür aufgeht, so dick wie eine Wand, sehen Sie die armdicken Bolzen, mit denen sie verriegelt wird. Weiter geht es dann erst, wenn sich diese Tür wieder hinter Ihnen schließt. Und auch die zweite Tür öffnet sich nur, wenn Sie sich mit Ihrer Autorisierungskarte an einem Lesegerät angemeldet haben.“
Am Tag der Bundestagswahl sitzen der Wahlleiter und sein Stellvertreter allerdings nicht in Wiesbaden, sondern im Ostflügel des Berliner Reichstags. Hier laufen im zweiten Stock alle Wahlergebnisse zusammen: Von den Wahllokalen wandern die Daten über die Landeswahlleiter in den Wiesbadener Computer im Tiefkeller. Von dort gelangen sie über eine doppelt und dreifach gesicherte separate Glasfaserleitung nach Berlin zu Egeler, der kurz vor Mitternacht das amtliche Ergebnis verkündet. Der Bundeswahlleiter, sonst Herr der Zahlen, erfährt damit so ziemlich als Letzter, wer die Wahl gewonnen hat.
Er bekommt die Ergebnisse sogar erheblich später als viele Demoskopen, Politiker und Korrespondenten. Sie haben ihre Zahlen schon lange vor 18 Uhr. Während in Deutschland noch viele Menschen ihre Wahlzettel zusammenfalten, kursieren vertraulich bereits die ersten Resultate. Vor 18 Uhr zählen ARD und ZDF den Countdown bis zur ersten Prognose. Dass ganz Deutschland auf die Entscheidung wartet, ist aber eine Legende. Zumindest das politische Berlin weiß dann längst, wie es steht.
Richard Hilmer etwa, dem Chef des Wahlforschungsinstituts Infratest Dimap, der die ARD mit seinen Vorhersagen füttert, werden die ersten Daten schon vor dem Mittagessen serviert. Er liest aus den Zahlen bereits handfeste Trends heraus. In Bayern zum Beispiel ist die CSU stets am Vormittag deutlich stärker als am späten Nachmittag. Denn auf dem Land gehen die Wähler gleich nach der Kirche ins Wahllokal. „Und wenn die CSU am Vormittag in Bayern nicht die absolute Mehrheit hat“, sagt Hilmer, „dann holt sie die am Nachmittag auch nicht mehr.“
Sein Konkurrent Matthias Jung von der Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen weiß spätestens gegen 14 Uhr „insbesondere, wie die Wahl nicht ausgeht, denn da ändert sich bis 18 Uhr oft noch einiges“. Bei der Wahl 2009 konnte er um diese Zeit aber bereits absehen, dass die CDU/CSU ein eher bescheidenes Ergebnis erreicht und die FDP zweistellig werden würde. Ob Manfred Güllner schon tagsüber erste Ergebnisse bekommt, ist noch offen. Der Chef des Berliner Forsa-Instituts ist zwar im Gespräch mit RTL. Aber noch ist nichts entschieden.
Die Geschwindigkeit der Demoskopen ist keine Hexerei. Alle drei Institute bedienen sich eines Verfahrens, das seit 1990 bei allen Bundestagswahlen angewandt wird. Es heißt „Wahltagsbefragung“. Eine geniale, nicht unumstrittene Methode, die es den Demoskopen erlaubt, noch während der laufenden Wahl die Stimmabgabe der Deutschen zu kontrollieren – und dies sogar ohne das Wahlgeheimnis zu verletzen. Die Wahlforscher schicken nämlich ihre Helfer in ausgesuchte Wahllokale mit dem Auftrag, möglichst vielen Wählerinnen und Wählern Auskünfte über ihre Entscheidung zu entlocken.
Allerdings ist das Wort „Wahltagsbefragung“ irreführend, weil es unterstellt, dass es einen Dialog zwischen Wahlforscher und Wähler gibt. Exit poll, der englische Begriff für die aus den USA importierte Methode, trifft es präziser: eine Befragung der Wähler, die gerade gewählt haben. Wer bereit ist mitzumachen, wird gebeten, in einem Nebenraum des Wahllokals den Wahlakt zu wiederholen – geheim und anonym wie zuvor. Auf Stimmzetteln, die genauso aussehen wie die offiziellen, müssen dabei die Kreuze für Erst- und Zweitstimmen an derselben Stelle gemacht werden wie vorher im Wahllokal. Die Demoskopie-Stimmzettel wandern in eine Wahlurne aus Pappe, auf der steht, für welches Institut und für welchen Fernsehsender die Daten erhoben werden.
Ab 9 Uhr werden die Urnen stündlich geleert und die Ergebnisse ausgewertet. So landen sie bei Hilmer, Jung und Güllner. Am frühen Nachmittag entsteht dadurch ein verblüffend genaues Abbild der tatsächlichen Wahl – lange vor 18 Uhr. Hilmer lässt am Wahltag etwa 100 000, Jung 45 000 und Güllner 30 000 Wählerinnen und Wähler zur Nachwahl bitten.
Die Daten aus den Exit polls sind in vielerlei Hinsicht sogar härter als die Ergebnisse der telefonischen Umfragen vor der Wahl. Denn am Wahlsonntag werden Menschen gefragt, wie sie gerade gewählt haben – und nicht, wem sie in ein paar Wochen, Monaten oder Jahren ihre Stimme geben würden. Nichtwähler werden von Wählern getrennt. Zudem dürften einige näher an der Wahrheit antworten, weil die schriftliche Befragung garantiert anonym bleibt. Einem Fremden am Telefon misstraut man eher.
Bei der Wahltagsbefragung ist die Rückseite der Stimmzettel mit Fragen bedruckt: Nach Alter und Geschlecht wird gefragt, nach Bildung und Ausbildung, aber auch, was man beim letzten Mal gewählt und welche Themen man wichtig gefunden hat. Aus den Antworten bastelt Hilmers Truppe Grafiken, die – angeblich haargenau – zeigen, welche Partei wie viele Wähler an welche andere Partei verloren hat: die„Wählerwanderung“, die der Kollege Jung als „Wählerwanderzirkus“ verspottet. „Da wird mit Angaben auf 1000 Wähler genau eine Scheingenauigkeit produziert, die es nicht gibt. Das mag Leuten, die sehr gutgläubig sind, verehrungswürdig erscheinen, aber es ist im Grunde Humbug.“
Ohne die Nachwahl-Erhebungen, die seit 1990 in Deutschland üblich sind, könnte kein Fernsehsender um 18 Uhr die „Prognose“ wagen. Sie ist der erste Höhepunkt eines Wahlabends. Und oft auch schon der letzte. Denn sie liegt häufig sogar näher beim endgültigen Ergebnis als spätere Hochrechnungen.
Neben den Exit Polls haben die Demoskopen noch weitere Joker im Ärmel. Jungs Forschungsgruppe Wahlen und auch Güllners Forsa veranstalten noch in der letzten Woche vor der Wahl Hunderte von Telefoninterviews, um möglichst zeitnah die Stimmung im Lande zu erkunden. Im September 2009 war für Jung deshalb schon drei Tage vor der Wahl „klar, dass die SPD unter 25 Prozent landet“ – allerdings wurden diese Umfragen bisher nicht mehr veröffentlicht. In diesem Jahr will das ZDF seine letzten Zahlen erstmals bereits am Donnerstag vor der Wahl präsentieren.
Die Exaktheit der Exit polls verführt dazu, nicht bis 18 Uhr zu warten, sondern noch vor der „Prognose“ mit Ergebnissen zu glänzen. Nichts bewegt am Nachmittag des Wahlsonntags die Gemüter von Politikern und Journalisten mehr als die Frage, wer aufsteigt und wer abstürzt, wer an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert oder plötzlich wider Erwarten doch viel besser abschneidet, als die Auguren es vorhergesagt haben. Parteifunktionäre und Chefredakteure, Abgeordnete und Hauptstadt-Korrespondenten gieren nach den Zahlen.
Sie bekommen sie auch. Gegen 16 Uhr hatten am Wahlsonntag 2009 nicht nur die Parteizentralen die Zahlen, sondern kurz darauf auch – per Twitter oder SMS – nahezu alle mit der Wahlberichterstattung befassten politischen Korrespondenten in Berlin. Nur veröffentlichen durfte niemand die Ergebnisse.
Als am 30. August 2009, wenige Wochen vor der Bundestagswahl, in Sachsen, Thüringen und im Saarland gewählt wurde und angebliche Prognose-Ergebnisse um 17 Uhr per Twitter die Runde machten, gab es Ärger. Der Twitter-Account von Patrick Rudolph, CDU-Chef von Radebeul bei Dresden, war die Quelle. Rudolph schwor, er sei es nicht gewesen, sondern Opfer eines Hacker-Angriffs geworden.
Der Bundeswahlleiter war nicht begeistert. Roderich Egeler mahnte öffentlich, das Wahlgesetz zu beachten, das die vorzeitige Veröffentlichung verbietet. Bußgeld: 50 000 Euro. Außerdem bestellte er die Chef-Demoskopen Hilmer und Jung zum Gespräch nach Wiesbaden ein. Sie hätten mit den Exit polls äußerst restriktiv umzugehen. Beide Herren versicherten einmütig, sie seien für die Indiskretionen nicht verantwortlich. Außer ihren Auftraggebern bekäme von ihnen niemand die Zahlen. Im Übrigen hätten die vorab veröffentlichten Prozente gar nicht mit den späteren Prognosen übereingestimmt.
Auch die Fernsehmoderatoren, die am Wahlsonntag die Zahlen präsentieren, beteuern ihre Unschuld. Jörg Schönenborn, ARD-Wahlorakel und zugleich Chefredakteur des WDR, versichert, er werde „mittlerweile nicht einmal mehr“ von Freunden und Kollegen angerufen, „weil ich ab 17 Uhr einfach nicht mehr ans Handy gehe und weil ich ahne, was für Anrufe das sein können“. Seine Kollegin Bettina Schausten, ZDF-Wahlmoderatorin und Leiterin des Hauptstadtstudios, hält es genauso: „Es wird da mit so vielen Zahlen gehandelt an solchen Nachmittagen, dass ich nach sehr kurzer Zeit für mich die Entscheidung getroffen habe, ich beteilige mich daran nicht.“
Schausten und Schönenborn sind die Ersten, die von ihren Instituten die neuesten Zahlen bekommen. Wenn es allerdings auf 18 Uhr zugeht und beide Mannschaften mit Hochdruck an der „Prognose“ arbeiten, wird es auch für die Moderatoren gelegentlich eng. Schönenborn: „Ich bin dann schon oft auf Sendung und weiß nicht, ob die genaue Prognosezahl plus 0,5 oder minus 1 Prozent ist, und muss dann so moderieren, dass man das nicht merkt.“ Auch Schausten erinnert sich an Wahlabende, „wo ich erst um 17.50 Uhr den Zettel reingeschoben bekam, da standen dann die Prognosezahlen drauf“.
Trotzdem wissen sie schon seit Stunden, ob es große oder kleine Überraschungen gibt. Die Landtagswahl in Niedersachsen 2013 war die Ausnahme, weil es dort fast bis zum Schluss auf ein Patt hinauslief.
Aber selbst ein Patt zeichnet sich in der Regel meist sehr früh ab. Deshalb wird es auch diesmal sein wie immer. Richard Hillmer wird zum Mittagessen die Trends kennen, es werden immer neue und bessere Daten kommen, und spätestens ab 17 Uhr kennt das politische Berlin die Zahlen. Aber jeder muss bis 18 Uhr so tun, als kenne er sie nicht. Das sind die Spielregeln.
Auch die Kanzlerin wird später vermutlich nie verraten, wer ihr zuerst die Ergebnisse überbrachte – das fällt unter Informantenschutz, auf den sich auch Journalisten gern berufen. Bisher hat nur einer die Omertà gebrochen. Ex-Kanzler Gerhard Schröder erzählte einmal freimütig, er habe bei der Wahl am 27. September 1998 nachmittags seinen Duzfreund Manfred Güllner angerufen und nach den Zahlen gefragt. Güllner sagte, er habe eine schlechte und eine gute Nachricht. „Die schlechte ist, dass du nicht 42 Prozent bekommst, wie ich es vorhergesagt habe, sondern nur 41.“ Und die gute? „Dass du um 18 Uhr Bundeskanzler bist.“
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