- Seligsprechung aus perfiden Motiven
Hat Gerhard Schröder Deutschland mit seiner vor zehn Jahren begonnen Agendapolitik krisenfester gemacht? Die konservativen Eliten sagen ja. Doch die späte Seligsprechung des Reformkanzlers folgt nationalen Mustern
Was für ein Satz! „Wir waren auch schon mal der ‚kranke Mann Europas‘, und zwar vor den Arbeitsmarktreformen des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder.“ Zitiert hat ihn der Spiegel; gesagt hat ihn Günther Oettinger, einst CDU-Ministerpräsident von Baden-Württemberg, heute EU‑Kommissar für Energie in Brüssel.
Man könnte diesen Satz durchaus polemisch interpretieren. Zum Beispiel so: „Liebe Kanzlerin, spiel dich nicht so auf in Europa, denn du profitierst doch bloß von den Reformen deines Vorgängers.“
So hat es der liebenswert-seriöse Parteifreund natürlich nicht gemeint. Doch dokumentiert er als unverdächtiger Zeuge, was derzeit gerade im Schwange ist: Schröder war’s. Er hat Deutschland krisenfest gemacht.
War er’s? Nach Meinung von konservativen und rechten Blättern, von der Frankfurter Allgemeinen über die Zeit bis zu Springers Welt: Ja, er war’s.
So ist beispielsweise aus der Feder von Ulf Poschardt (Die Welt), dem Etagenkellner aller Neoliberalen, zu lesen: „Die positiven Impulse aus dieser Reformzeit wirken fort.“ Und der transatlantische Titan Josef Joffe (Die Zeit) empfiehlt die Schröder-Medizin auch den Franzosen: „Ohne eine blau-weiß-rote Agenda 2015 wird Frankreich nicht gesunden.“
So tönt es allenthalben durch die Republik: „Lob für Gerhard Schröder“ oder „Das deutsche Jobwunder macht die Hartz-Reformen zum Vorbild für ganz Europa“ (beides: FAZ). Auch außerhalb von Deutschland wird der Lobgesang angestimmt: Die Ironie der Wahl von François Hollande bestehe darin, „dem Beispiel der letzten Mitte-Links-Regierung des deutschen Kanzlers Gerhard Schröder zu folgen“ (Wall Street Journal).
Patrons und Banker und Publizisten entdecken ihr Herz für – ja für wen eigentlich? Für den „Brioni“- und den „Basta“-Schröder, für den „Sozi“, den sie vor acht Jahren mit allen Mitteln der Polemik und Demagogie schmähten!
Die Springer-Medien betrieben das Schröder-Bashing so blindwütig, dass sich der damalige Chefredakteur der Welt am Sonntag, Christoph Keese, in einem Interview – statt als journalistischer Handwerker – als politischer Propagandist outete: „Wir, die Minderheit der Neoliberalen, schreiben seit Jahren gegen eine Mehrheit von Menschen an, die vehement gegen Kapitalismus und freie Marktwirtschaft eintreten.“
Nicht nur der Springer-Verlag verkam zur politischen Propaganda-Bude. Auch der Spiegel, da noch unter Stefan Aust, reihte sich in die Kampagne derer ein, die Gerhard Schröder samt Rot-Grün vom Hof jagen wollten. Federführer war Gabor Steingart, seinerzeit Spiegel-Bürochef in Berlin, heute Chefredakteur des Handelsblatts.
Mit dem inquisitorischen Eifer eines Savonarola errichtete Steingart nahezu wöchentlich neue Scheiterhaufen: „Rot-Grün stolpert mit schludrigen Reformkonzepten in den Herbst.“ „Schröder-Truppe sprunghaft, verworren, konzeptlos.“ „Durch gezielte Unwahrheiten versuchen der Kanzler und seine Getreuen ihre prekäre Ausgangslage zu verbessern.“ „Der SPD-Kanzler bekommt das zentrale Problem des Landes nicht in den Griff.“ Und mit ätzender Häme: „Historisch – das ist des Kanzlers Lieblingseigenlob.“
Inzwischen gelten die Schröder-Reformen in der Tat als „historisch“ – sie wurden zur Grundlage des aktuellen deutschen Erfolgs. Auch erzkonservative Blätter empfehlen das „schludrige Reformkonzept“ zur Nachahmung in ganz Europa, um „das zentrale Problem des Kontinents“ in den Griff zu kriegen.
Seite 2: Das Klima wird vergiftet!
Es war eine journalistisch dürftige Epoche, die Spätzeit von Kanzler Schröder. Es war die Zeit von ARD-Christiansen, die, unbedarft, aber wirkmächtig, allsonntäglich zum Talk-Gericht über Rot-Grün lud. Ihr Spiel lief nach der perfiden Anleitung: Deutschland schlechtreden, um die Regierung schlechtzumachen.
Zu diesem Power-Game lieferte Spiegels Steingart das Programm in
Buchform. Es hieß: „Deutschland – der Abstieg eines
Superstars“.
Jetzt ist Deutschland Superstar. Dank der Regierung von damals. Die
Seligsprechung von Gerhard Schröder ist in vollem Gange.
Und nun? Übt man journalistische Selbstkritik? In der Welt? In
der FAZ? Im Spiegel? So etwas ist in unserem Metier nicht
vorgesehen. Jedenfalls nicht in Deutschland. Ganz im Gegenteil:
Schon wird zur nächsten Jagd geblasen, als Auftakt für das Wahljahr
2013. Allen voran – wie ehedem – Die Welt, die FAZ.
Gegen wen geht’s diesmal? Gegen die „Sozis“ – gegen wen denn
sonst?
Den schrillen Ton hat Dorothea Siems in der Welt vorgegeben: „Sollten sich die Sozialdemokraten vor den Karren der Reformgegner spannen lassen, grenzte dies an Vaterlandsverrat.“
Seitdem wird den Genossen systematisch der Marsch geblasen: „Angela Merkel hat auf dem EU‑Gipfel weitere rote Linien geräumt. Und die deutschen Sozialdemokraten halfen kräftig mit, Deutschlands Position zu schwächen“, so ebenfalls die Welt.
Deren Herausgeber Thomas Schmid singt voller Inbrunst mit: „Zu
Merkels Schwäche haben nicht nur Mario Monti und François Hollande,
sondern auch SPD und Grüne beigetragen.“
Den „Sozis“ ist einfach nicht zu trauen, was Deutschland
betrifft – was die Heimat betrifft. Sie sind eben „vaterlandslose
Gesellen“. So wurden sie einst in der wilhelminischen Monarchie
diffamiert. So wurden sie auch in der Bundesrepublik schon
diffamiert – zum Beispiel Willy Brandt wegen seiner
Vergangenheit als norwegischer Offizier im Kampf gegen die
Nazis.
Nun also ein neuer Fall von sozialdemokratischem Vaterlandsverrat: mitten in der Europäischen Union! Da muss natürlich auch die Marktradikale Heike Göbel von der FAZ mit einstimmen. Unter dem sinnigen Titel „Was die SPD tut“ wirft sie den Sozialdemokraten vor, durch ihre Forderung nach einem Wachstumspaket für Europa unserer Kanzlerin den „starken innenpolitischen Rückhalt“ verweigert zu haben.
1914 schnarrte Kaiser Wilhelm II: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ Die Sozialdemokraten hatten soeben den Kriegskrediten zugestimmt – dem Monarchen also den starken innenpolitischen Rückhalt nicht verweigert.
Das sollen sich die Genossen doch bitte endlich mal hinter die
Ohren schreiben: Im Ringen um Euro und Europa kennen wir keine
Partei mehr, nur noch Deutsche!
So ist denn angerichtet für den Wahlkampf 2013:
deutsch-national.
Denn: „Europa greift nach unserem Geld“, wie die Welt am Sonntag
alle wahren Patrioten mit riesengroßer Schlagzeile anfixte. Wer
wollte es da wagen, eine abweichende Meinung auch nur zu äußern:
etwa darauf hinweisen, dass auch Frankreich und – man glaubt
es kaum – sogar Italien happig für hilfsbedürftige EU-Nationen
haften und zahlen?
Wer wollte da zum Opfer der publizistisch subtil eingefädelten
neuen Dolchstoßlegende werden?
Ja, das Klima wird gerade vergiftet. Durch Populismus ohne Populistenführer – mit Publizistenführern stattdessen. Wofür Angela Merkel selbstverständlich nichts kann. Was sie aber durchaus in Kauf nimmt, wenn es ihr hilfreich erscheint. Widerworte aus dem Kanzleramt waren bis dato keine zu vernehmen.
Deutschland wird deutscher.
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