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Salafismus in Deutschland - Wenn die Jugend in den Krieg zieht

Ein Großteil gewaltbereiter Salafisten kommt aus Nordrhein-Westfalen. Das Land hält dagegen. Es setzt auf eine Doppelstrategie aus Repression und Prävention. Doch warum ziehen junge Deutsche in den Krieg? Eine Spurensuche

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Autoreninfo

Stefan Laurin ist freier Journalist und Herausgeber des Blogs Ruhrbarone. 2020 erschien sein Buch „Beten Sie für uns!: Der Untergang der SPD“.

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Nirgendwo in Deutschland leben so viele Menschen muslimischen Glaubens wie in Nordrhein-Westfalen. Und nirgendwo in Deutschland ist die Bevölkerungsdichte so hoch wie in NRW. Diesen Umstand nutzen viele gewaltbereite Salafisten. Das Land hält dagegen. Es setzt auf eine Doppelstrategie aus Repression und Prävention. Neben der akuten Gefahrenabwehr werden deswegen auch Projekte unterstützt, die ein Abgleiten von muslimischen Jugendlichen in den Hass verhindern wollen.

Stadtteile wie Dinslaken-Lohberg gibt es viele im Ruhrgebiet. Die Zeche, die früher Tausenden einen Arbeits- und Ausbildungsplatz gab, ist seit 2005 geschlossen und heute ein sogenanntes Kreativquartier. Jobs gibt es seitdem so gut wie keine mehr. Auf dem Marktplatz der Siedlung lungern ein paar Trinker herum. Um die Altpapier- und Glascontainer am Rand häuft sich der Müll. Lohberg ist die Heimat einer der bekanntesten Salafistengruppen Deutschlands. Knapp zehn der mehrere Dutzend Anhänger großen Clique an militanten Gläubigen sind längst in den Irak gezogen. Einer von ihnen, Philipp B., hat im August einen Selbstmordanschlag verübt, bei dem 21 Menschen starben.

Als Philipp B. und seine Freunde sich religiös radikalisierten, fiel das kaum jemandem auf. Im Gegenteil: Je frommer die Clique wurde, desto weniger auffällig wurden sie. Die offensichtlichen kriminellen Delikte wurden sogar weniger. Sie hörten auf zu dealen und sich zu mit anderen zu prügeln. Für Schlagzeilen sorgten einige erst wieder, als sie als extremistische Salafisten für den Islamischen Staat in den Krieg zogen und zu Killern wurden.

Gewaltbereite Salafisten als größte Bedrohung
 

Für Burkhard Freier, Chef des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, sind die gewaltbereiten Salafisten zurzeit die größte Bedrohung: „Von keiner anderen Gruppierung geht im Moment eine vergleichbare Gefahr aus. Die Zahl der Salafisten, die bereit sind, für ihre Überzeugungen zu töten und zu sterben, wächst rasant.“ Allerdings stellten nur bestimmte Gruppen der Salafisten ein Problem dar: „Der bei weitem größte Teil der Salafisten legt den Koran sehr altmodisch aus und will nur nach sehr strengen Regeln ihrer Altvorderen leben. Da mischen wir uns natürlich nicht ein. In Deutschland gibt es Religionsfreiheit.“

Anders sieht es bei den 1800 politischen Salafisten in NRW aus. 200 schätzt der Verfassungsschutz als gewaltbereit ein. 130 junge Männer sind nach Syrien und in den Irak gereist. Zu den politischen Salafisten zählt der Verfassungsschutz auch die Gruppe um den deutschen Konvertiten Pierre Vogel. Er provoziert gerne und posiert mit einer Limonade der Marke „ISIS“ vor der Kamera. Zur gleichen Gruppe gehört auch Sven Lau, der mit seiner Scharia-Polizei durch Wuppertal zog und dessen Gruppe nun unter dem neuen Namen „Pro Halal“ junge Muslime zur frommen Lebensweise drängt. Zu den Gewaltbereiten gehören diejenigen, die für den Islamischen Staat kämpfen wollen – vor allem in Syrien und dem Irak. Sie lassen sich nicht durch ihre toten Glaubensgenossen abschrecken, die vom IS nach einer militärischen Kurzausbildung als Kanonenfutter verheizt werden. Im Gegenteil, der Märtyrertod ihrer Freunde macht diese zu Vorbildern, denen sie nacheifern wollen.

„Meine Sorge  ist, dass diese gewaltbereiten Salafisten ihre Kriegserfahrung mit zurück nach Deutschland bringen. Dann könnte uns ein Anschlag drohen, der unsere Gesellschaft verändert", so Burkhard Freier. Die rechtlichen Möglichkeiten seien begrenzt: „Wir haben Reiseverbote ausgesprochen. Aber leider finden immer noch zu viele über die offenen Grenzen Europas einen Weg, der über die Türkei in die Kampfgebiete führt“, sagt Freier. Wer zurückkehrt, sei entweder schwer traumatisiert oder noch gewalttätiger und enthemmter, als bei der Ausreise aus Deutschland.

Präventiv gegen die Radikalisierung


Eine Chance, gegen den gewaltbereiten Salafismus vorzugehen, sieht Freier in der Prävention: „Wir müssen die Jugendlichen erreichen, bevor sie sich radikalisieren.“ Das Land startete im März das Projekt Wegweiser. Es hilft Jugendlichen, die drohen, in die Szene der gewaltbereiten Salafisten abzurutschen, einen Ausweg zu finden. „Wegweiser ist ein Erfolg. Obwohl das Programm erst ein halbes Jahr läuft, ist es gelungen, Kontakt zu vielen Jugendlichen aufzunehmen und ein umfassendes Netzwerk aufzubauen.“

Drei Standorte hat Wegweiser in Nordrhein-Westfalen: Bonn, Düsseldorf und Bochum. Träger ist der IFAK e.V., ein Verein für multikulturelle Jugendarbeit. Für Geschäftsführerin Friederike Müller ist der Schutz der Jugendlichen vor allem ein Rennen gegen die Zeit: „Wir müssen schneller sein als die Salafisten.“

Freunde, Verwandte und Angehörige, aber auch Lehrer können melden, wenn sie befürchten, dass ein Jugendlicher in den radikalen Salafismus abgleitet. „Lehrern fiel auf, dass Jugendliche ihr Aussehen wechselten und auf einmal Bärte trugen, anfingen, auf dem Schulhof zu missionieren oder ihren Freunden mit Begeisterung Hinrichtungsvideos aus dem Gebiet des Islamischen Staats zeigten. Unsere Leute fahren dann raus und suchen vor allem erst einmal das Gespräch mit den Jugendlichen“, erklärt Müller.

Das ist natürlich freiwillig. In zehn Fällen hat Wegweiser in Bochum damit begonnen, mit den Jugendlichen zu arbeiten. „Es geht darum, Jugendliche davon abzuhalten, in den Krieg zu ziehen.“

Motive der Radikalisierung
 

Die Gründe dafür, das Leben in Deutschland aufzugeben, um in Syrien oder dem Irak zu kämpfen, seien ebenso unterschiedlich wie die Jugendlichen, die von einem Leben als Gotteskrieger träumen: „Wir haben Förderschüler und Gymnasiasten unter unseren Klienten.“ Einige seien vorbestraft, viele aber auch noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Was viele vereint: Das Gefühl der Orientierungslosigkeit. Sie fühlen sich ausgegrenzt und suchen deswegen Anerkennung in einer Gruppe mit einem einfachen Wertesystem. Mit klaren Vorschriften und Regeln.

Deswegen orientieren sich einige am Islamischen Staat. Sie mögen das Gefühl der Gemeinschaft, die Anerkennung, wichtig zu sein und für ein hohes Ziel, den Islam, zu kämpfen. „Ihnen wird gesagt, sie könnten mithelfen, den Islamischen Staat aufzubauen, und auf sie käme es ganz persönlich an.“ Die Salafisten benutzen darüber hinaus die sozialen Medien und sprächen die Jugendlichen in deren eigenen Sprache an.

„Salafismus“, sagt der Münsteraner Soziologe Aladin El-Mafaalani, „ist im Westen vor allem eine Jugendkultur“. Eine, die polarisiert wie früher Hippies oder Punks. „Salafismus finden Jugendliche entweder cool oder sie hassen ihn. Egal ist das niemandem.“ Im deutschen Hip-Hop spiele Salafismus mittlerweile eine große Rolle: „Früher orientierten sich viele Hip-Hopper am Gangsterrap aus den USA, aber das funktionierte nie so richtig und passte einfach nicht nach Deutschland. Eine Gang, die sich auf einem Spielplatz in Neukölln trifft, ist etwas anderes als eine Gang im Westen von Los Angeles, die mit automatischen Waffen um die Vorherrschaft in ihrem Viertel kämpft.“

Mit Salafismus, Religiosität, Krieg, Kampf und Tod hätte der deutsche Hip-Hop jetzt seine eigenen Geschichten. Dazu kommt nach El-Mafaalanis Ansicht, dass der religiöse Hip-Hop gesellschaftskritisch sei: „Da geht es auch um die Fragen von Gerechtigkeit, Ausgrenzung und Opferbereitschaft. Das Thema des klassischen Gangsterraps war der Traum, dieselben Statussymbole zu haben wie die Oberschicht – nur größer.“ Ein Thema sei die gefühlte Diskriminierung von Muslimen durch den Westen: „Da heißt es dann, 300.000 Syrer sterben, und keiner kümmert sich darum. Sterben ein paar Jesiden und Christen, kommen sofort die Bomber.“

Alternativen zum Marsch in den Krieg
 

Die Salafisten würden es den Jugendlichen einfach machen, sagt Friederike Müller von Wegweiser. Nicht nur mit ihrem Weltbild, in dem alles schwarz und weiß ist, die Lösung immer Kampf und religiöse Strenge heißt: „Darüber hinaus kümmern sie sich um viel. Sie haben Kontakte, Geld und Waffen“, so Müller. Wer ins Kriegsgebiet reisen will, bekomme Unterstützung und brauche nicht einmal einen Cent. „Alles wird für ihn erledigt.“

Die Rückkehrer, die es mittlerweile auch gebe, würden sich in zwei Gruppen aufteilen. Entweder, sagt Müller, seien sie traumatisiert oder fanatisiert. Psychische Wracks, die Betreuung bräuchten, gäbe es in beiden Gruppen. Gefährlich sind allerdings diejenigen, die neue Kämpfer anwerben und vielleicht sogar selbst Anschläge verüben wollen. Wegweiser will deswegen früher ansetzen, bevor die Strafverfolgungsbehörden ermitteln. Zwei bis vier Stunden, manchmal mehr, würden sich die IFAK-Mitarbeiter um ihre zehn Klienten in der Woche kümmern. Manchmal müsse es sehr schnell gehen: „Wir wissen von einem Fall, da hatte ein Jugendlicher vor den Sommerferien Streit mit seinem Vater. Als die Schule wieder begann, war er schon im Krieg“. NRW will das Projekt ausbauen – aber das kostet Zeit. Zeit, die eigentlich nicht mehr zur Verfügung steht.

Defizite bei der Prävention
 

Der Psychologe Ahmad Mansour ist arabischer Israeli und beschäftigt sich schon lange mit den Auswirkungen des Islamismus: „Wegweiser finde ich sehr gut, da wird wichtige Arbeit geleistet.“ Aber das reiche nicht. „Lehrer und Sozialarbeiter müssen im Rahmen ihrer Ausbildung erkennen, wann Jugendliche in den Islamismus abgleiten. Es kann doch nicht sein, dass diese Leute später in Stadtteilen arbeiten, wo religiöser Fundamentalismus ein großes Thema ist, sie aber davon keine Ahnung haben.“ In die Präventionsprojekte müssten auch Quartiersmanager einbezogen werden, Schulen, Vereine und lokale Partner.

Doch mit Präventionsarbeit und Pädagogik allein, sagt Mansour, sei das Problem nicht zu lösen. „Die Gesellschaft muss den Jugendlichen zeigen, dass sie dazugehören. Es muss Schluss sein damit, dass es in allen Debatten immer zwei Seiten gibt: Das 'Wir', die traditionelle Mehrheitsgesellschaft, und das 'Ihr', die Migranten."

Aber auch die Muslime sieht der Psychologe in der Pflicht: „Mir reichen die Lippenbekenntnisse und Distanzierungen von ISIS nicht.“ Moscheen böten Fundamentalismus eine Basis, indem sie sich in eine Opferrolle begeben, patriarchalische Strukturen festigen und an der Geschlechtertrennung festhalten. Der Islam dürfe nicht mehr nur buchstäblich verstanden werden: „Die Muslime müssen ihre Religion reformieren und neue Vorbilder für die Jugendlichen schaffen, die mit den autoritären Inhalten von heute nichts mehr zu tun haben.“

Zu sehen ist von dieser Entwicklung bei den muslimischen Verbänden noch nichts. Auch die Mehrheitsgesellschaft ist gerade erst dabei, das Problem zu erkennen. Sie sieht mit Schrecken junge Menschen in den Kampf ziehen. Nach einem Abbau von Grenzen in den Köpfen und Debatten sieht es schon gar nicht aus. Antworten zu finden, wird Zeit brauchen.


 

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