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Antje Berghaeuser

NS-Opfer Coppi - Das Kind des Widerstands

Wenn sich das Attentat auf Hitler am 20. Juli zum 70. Mal jährt, gilt das Gedenken allen Widerstandskämpfern des Dritten Reiches. Auch Hans Coppi wird um seine Eltern trauern: Er wurde Waisenkind, als er noch ein Baby war. Die DDR erklärte ihn zum Heldensohn, die Bundesrepublik zum Sohn von Verrätern. Aber er wollte wissen, wer seine Eltern wirklich waren

Autoreninfo

Georg Löwisch war bis 2015 Textchef bei Cicero. Am liebsten schreibt er Reportagen und Porträts. Zu Cicero kam er von der taz, wo er das Wochenendmagazin sonntaz gründete. Dort kehrte er im Herbst 2015 als Chefredakteur zurück.

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Dreieinhalb Wochen nach Hans Coppis Geburt wird sein Vater ermordet. Nur einmal hat er den Sohn sehen dürfen, begrüßen, bestaunen, berühren.

Das Papier, in dem der Mord am Vater dokumentiert wird, ist voller Nummern und Kürzel. Geheime Kommandosache! 21 Abdrucke. Reichskriegsgericht, 2. Senat. Wegen Vorbereitung zum Hochverrat, Feindbegünstigung und Spionage wird der Mann, der gerade eben Vater geworden ist, zum Tode verurteilt. Am 19. Dezember 1942.

Acht Monate nach Hans Coppis Geburt wird seine Mutter hingerichtet. Sie hat ihn im Gefängnis noch stillen dürfen. Dann wird ihr der Sohn genommen.
Und dem Sohn die Mutter.

Der Beschluss, der dazu führt, dass der Junge ein Waisenkind wird, ist auf zwei Schreibmaschinenseiten festgehalten. Gnadensachen. 17 Verurteilte. Führerhauptquartier, 21. Juli 1943: „Ehefrau Hilda Coppi, Urteil vom 20. 1. 1943, wegen Vorbereitung zum Hochverrat in Tateinheit mit Feindbegünstigung, Spionage und Rundfunkverbrechen.“ Vor ihren Namen ist handschriftlich ein Häkchen gesetzt worden. Es stammt von Adolf Hitler, er hat das Papier selbst unterzeichnet und damit ihr Gnadengesuch abgelehnt. Systematisch hat er die Liste seiner Gegner abgehakt, Name für Name, Leben für Leben.

Hans Coppi steht in seiner Wohnküche, die Sonne scheint herein. Berlin-Mitte, ein kleiner Plattenbau, sechster Stock. An der Wand hängen Gemälde, Stillleben und eine Landschaft, die Stimmung angenehm ruhig, die Farben gedeckt, die Töne gebrochen. Seine Frau ist Galeristin.

Was ist ein Verräter?


Er ist ein schlaksiger Mann. Schwarze Jeans, kariertes Hemd, die Haare eher braun als grau. Er sieht etwas jünger aus als seine 71 Jahre, nicht nach dem Geburtsjahr 1942, in dem er in Berlin im Gefängnis zur Welt kam. Sein Gesicht hat eine gesunde Farbe, um die Augen liegen Kränze aus Lachfältchen. Er gießt Orangensaft ein.

[[{"fid":"63017","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":400,"width":345,"style":"height: 139px; width: 120px; margin: 5px 7px; float: left;","class":"media-element file-copyright"}}]]Die Eltern gehörten zu einem Freundeskreis, den Hitlers Geheime Staatspolizei zur sogenannten Roten Kapelle zählte. Es war ein Sammelbegriff der Nazis für Widerstandsgruppen in Berlin, Brüssel und Paris, teilweise waren ihre Mitglieder befreundet, teilweise standen sie gar nicht miteinander in Verbindung. Sie verfassten Flugblätter und nahmen Kontakt mit dem kommunistischen Russland auf. Wie die Weiße Rose oder die Offiziere um Claus Schenk Graf von Stauffenberg wollten sie Hitler stürzen. Mehr als 50 Menschen, die von den Nazis als Mitglieder der Roten Kapelle verhaftet wurden, starben.

Was ist ein Verräter?

Hans Coppi spricht behutsam. Er ist sich seiner Sache sicher, er will nur genau sein. „Edward Snowden, Bradley Manning – da haben meine Eltern etwas ganz Ähnliches gemacht: Geheimnisse weitergegeben und Dinge angeprangert.“

[[{"fid":"63018","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":417,"width":345,"style":"height: 145px; width: 120px; margin: 5px 7px; float: left;","class":"media-element file-copyright"}}]]Was für ein Vergleich. Obama hat doch nichts mit Hitler gemein. Aber es geht Coppi ja auch gar nicht um einen direkten Vergleich, sondern um Begriffe, auf die er einen besonderen Blick hat und die auch heute noch benutzt werden: Landesverräter, Kriegsverräter, Hochverräter. Wer wird wann von wem so genannt? Die Frage, was Heldentum ist und was Verrat, möchten immer und überall die Mächtigen bestimmen. Hans Coppi beschäftigen die Begriffe ein Leben lang, weil seine Eltern beides genannt wurden. In der DDR galten sie als Helden, als Verräter im Westen Deutschlands. Auch noch lange nach Kriegsende, denn der Antikommunismus beherrschte dort den Blick auf das Gestern.

Und heute werden also Snowden und Manning von den USA als Verräter verfolgt. Wenn das Wort in der Gegenwart auftaucht, sucht Coppi Anknüpfungspunkte in der Vergangenheit. Er will seine Eltern und ihre Geschichte aus jedem Blickwinkel heraus betrachten und sie verstehen: als Menschen, nicht als Figuren. Er will ihnen näher kommen. Die Geschichte von Hans Coppi ist auch eine über die Suche eines Sohnes nach Vater und Mutter. Als sie starben, war es für ihn zu früh, etwas im Gedächtnis zu behalten. Seine Erinnerung beginnt später.

Er wächst bei den Großeltern auf. Das Sagen hat Frieda, die Mutter seines Vaters, starke Arme, das Haar nach hinten gesteckt. Der Junge weiß vom Tod der Eltern. Die Großmutter erzählt Geschichten aus deren Leben: Dass sie alle in der Kleingartenkolonie Waldessaum wohnten, dass sie dort einen Eisladen führten, dass einmal die Katze etwas vom Essen stibitzte. „Aber der Schluss ihres Lebens hat immer die Erzählung überlagert“, sagt er heute.

In der ersten Klasse fragt der Religionslehrer, wer an seinem Unterricht teilnimmt. Als Hans ablehnt, erwidert der Lehrer, er werde mal mit den Eltern sprechen. „Ich habe keine Eltern mehr“, sagt der Junge. „Meine Großeltern glauben auch nicht an Gott. Weil, wenn es einen geben würde, hätte ich meine Eltern noch."

„Hans, du musst daran denken, dass deine Eltern bekannt sind“


Viele Jahrzehnte später liegt auf dem Tisch in der Wohnküche im sechsten Stock eine Schwarz-Weiß-Aufnahme. Hans Coppi sieht sie sich an. Das Foto zeigt ihn in einem Garten, Lederlatzhose, die Haare gut gekämmt. Es muss der Gedenktag für die Opfer des Faschismus im September gewesen sein. Der Junge hält einen Blumenstrauß, im Hintergrund ist eine Gedenktafel mit den Namen seiner Eltern zu sehen. Der Nachbarsjunge reicht ihm die Hand. Als ob er ihm sein Beileid ausspricht. Hans hat sich ein wenig zur Seite gedreht. Verlegen sieht er aus, fast beschämt.

Er trägt den Namen seines Vaters. Hans Coppi, der Sohn von Hilde und Hans Coppi, ihr Erbe.

Sie wohnen in Ostberlin. Wenn der Junge Kirschen klaut, sagt die Großmutter: „Hans, du musst daran denken, dass deine Eltern bekannt sind.“

Mit 13 stößt er auf ein ihm gewidmetes Buch. Die Journalistin Elfriede Brüning hat es 1949 veröffentlicht, es heißt: „Damit du weiterlebst“. Seine Eltern sind Helden in dem Buch, es ist ein Roman und dann wieder nicht. Denn Brüning zitiert seitenweise aus Briefen, die Hans und Hilde Coppi im Gefängnis einander und ihren Eltern schrieben, sie hat sie von der Großmutter bekommen. „Werdet, soweit es angeht, glücklich mit unserem Kind, das einer großen Liebe entsprossen ist“, schreibt Hilde Coppi am Tag ihrer Hinrichtung an ihre Mutter. „Diese große Liebe, die uns vereint hat, geben wir jetzt weiter an Euch, Eure Hilde.“

Brüning arbeitet aber nicht nur mit den Briefen. Sie hat auch Zitate erfunden, die oft theatralisch klingen. An einer Stelle legt sie Hilde Coppi einen ungeheuerlichen Satz in den Mund: „Vielleicht werde ich das Kind eines Tages um unserer Sache willen opfern müssen.“

Hans Coppi sagt heute, das Buch habe ihn damals verstört. Als er es vor zwei, drei Jahren noch einmal las, habe er sich geärgert. „Da find ich meine Mutter nicht wieder. Meine Eltern wollten weiterleben.“

Heute würde man sie Whistleblower nennen


5.  August 2013, kurz nach 17 Uhr. Hans Coppi steht vor einem Mietshaus in Berlin-Kreuzberg, auf den Tag genau 70 Jahre, nachdem seine Mutter im Hinrichtungsschuppen von Plötzensee starb. In dem Mietshaus hat Ursula Götze gewohnt. Sie wurde am selben Tag ermordet, zwölf Minuten vor Hilde Coppi.

Die Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, deren Vorsitzender Coppi ist, hat zu einer Gedenkfeier eingeladen. 50 Leute versammeln sich, eine Frau hält eine blau-weiß-rote Fahne der Vereinigung, ein Fernsehteam vom Rundfunk Berlin-Brandenburg dreht Bilder. Coppis Frau Helle ist auch da, im Vorgarten blühen gelbe Blumen.

Hans Coppi steht vor einem Mikrofonständer. Er hält sein Manuskript mit beiden Händen fest. Er spricht über Ursula Götze und die anderen.

Ein Mann schiebt sein Mountainbike aus dem Hauseingang, ein junges Paar mit zwei Eistüten schlendert vorbei, eine Feuerwehr rast die Yorkstraße entlang, das Martinshorn gellt. Coppi presst die Lippen zusammen. Er wartet. Irgendwann ebbt der Lärm ab. „Heute würde man die Frauen und Männer Whistleblower nennen“, sagt er ins Mikrofon. „Das war kein Landesverrat.“

Die Begriffe Verräter und Whistleblower sind wie ungleiche Brüder. Der eine ist böse, der andere gut. Der eine verletzt das Vertrauen, ist illoyal, beschmutzt das eigene Nest. Der andere bläst die Trillerpfeife, schlägt Alarm, gibt Geheimnisse preis, um ein Verbrechen aufzudecken, um weitere zu verhindern. Für den Whistleblower gibt es im Deutschen kein präzises Wort.

Coppi, vor dem Mietshaus, nennt den Namen Edward Snowdens, dessen Enthüllungen das Ausmaß der Überwachung durch die USA zeigen. Er fordert ein dauerhaftes, sicheres Bleiberecht für ihn.

Als er fertig ist und die Lesebrille in die Brusttasche steckt, zittert seine Hand. Er müsste das nicht machen, nicht an diesem Tag. Aber er will nicht, dass andere seine Eltern und ihre Freunde erklären. Davon hat er genug.

Eine neue Art Dolchstoßlegende


Als er in Ostberlin aufwächst, ist die Rote Kapelle im Westen Deutschlands verhasst: Ihre Mitglieder gelten als kommunistische Spione, die kriegswichtige Geheimnisse von Hitler-Deutschland an Stalins Russland gefunkt haben. Ein Krieg im Äther. Eine rote Vereinigung, an der Spitze Harro Schulze-Boysen, Oberleutnant im Luftfahrtministerium, und Arvid Harnack, Oberregierungsrat im Reichswirtschaftsministerium, dirigiert von Strategen in Moskau. Die Schlachten im Osten – verloren wegen feindlicher Spione im eigenen Land. Es ist eine Art neue Dolchstoßlegende.

Nach dem Krieg hat Hans Coppi mit seinen Großeltern noch eine kurze Zeit in Tegel gewohnt, im Westteil Berlins. Dort wird gleich nach dem Krieg die Hatzfeldt­allee in Hans‑und‑Hilde‑Coppi‑Allee umbenannt. Aber bald wird das wieder rückgängig gemacht: Nach Verrätern darf keine Straße heißen. Die Coppis ziehen in den Osten.

Das Bild von den roten Verrätern entspringt den Berichten der ehemaligen Geheimpolizisten, der Staatsanwälte und Richter. Als sie noch herrschen, haben sie ein Interesse, ihren Ermittlungserfolg so groß wie möglich erscheinen zu lassen. Als der Führer besiegt ist, wollen sie sich damit rechtfertigen.

Verrat ist Verrat


Hitlers Chefankläger Manfred ­Roeder verbreitet im Westen seine Sicht. Er ist der Mann, der Hans und Hilde Coppi angeklagt hat. 1951 druckt der Stern eine Artikelserie über die Rote Kapelle. „Rote Agenten unter uns“, lautet der Titel. Es erscheint auch ein ausführlicher Brief ­Roeders an den Herausgeber Henri Nannen. Darin klagt der Täter seine Opfer noch einmal öffentlich an.

Es ist die Zeit, als die Bundesrepublik aufgebaut wird, als sich noch deutsche Soldaten in sowjetischer Gefangenschaft befinden. Der Kalte Krieg hat längst begonnen. Bis zum ersten Auschwitz-Prozess wird es noch über zehn Jahre dauern. Die Justiz schont viele Verbrecher des Naziregimes, auch Ermittlungen gegen ­Roeder werden eingestellt.

Verrat ist Verrat, ganz gleich, ob er sich gegen ein verbrecherisches Regime richtet, so geht die Logik. So argumentiert auch ­Roeder. Im Stern schreibt er, in den USA drohe Spionen doch auch die Todesstrafe. Alle Kulturstaaten bestraften schließlich den Verrat.

„Kulturstaaten“ – er benutzt tatsächlich dieses Wort.

1952 veröffentlicht ­Roeder eine Broschüre zur Roten Kapelle, in der er schreibt: „Wie viele Witwen und Waisen des Krieges werden die Frage stellen, wurde auch dein Liebstes Opfer des Krieges im Äther?“ Die Antwort liefert er selbst: Die deutsche Abwehr sei von 200 .000 Opfern der Spione ausgegangen. Die Schuldzuweisung gehört zum Gedankenkonstrukt des Verrats: Der Blick wird auf unschuldige Opfer gelenkt, die Motive der Verräter geraten in den Hintergrund. Es ist eine Technik, die Geheimdienste bis heute anwenden.­Roeder, den Hitler vor Kriegsende zum Generalrichter befördert hatte, wird später in Glashütten im Taunus in den Gemeindevorstand gewählt. Noch bis kurz vor seinem Tod 1971 unterzeichnete er mit „Generalrichter a. D.“

Der Heldensohn


Erst 2009 wird der Bundestag alle Urteile der NS-Justiz wegen Kriegsverrats aufheben. 64 Jahre nach dem Ende des Krieges werden die Menschen, die sich gegen Hitler auflehnten, endlich doch rehabilitiert.

Als Hans Coppi aufwächst, hört er, dass ­Roeder unbehelligt im Westen lebt. Greta Kuckhoff, für die der Jurist das Todesurteil gefordert hatte, erzählt ihm davon. Ihr Mann, der Dichter Adam Kuckhoff, starb in Plötzensee ebenfalls am 5. August 1943, 18 Minuten vor Hilde Coppi.

Greta Kuckhoff kannte die Coppis gar nicht. „Sie hat ja meine Mutter nur einmal gesehen“, sagt der Sohn in seiner Wohnung in Berlin. „Als sie vom Alexanderplatz zur ersten Vernehmung mit dem ­Roeder gefahren sind.“

Er spricht noch behutsamer, wenn er so etwas erzählt. Mal macht er lange Pausen, dann zieht er das Sprechtempo an, als wolle er rasch ein anderes Thema erreichen. Er wirkt, als liege ein frischer Schmerz unter einer sehr dünnen Schicht. Er weiß das. „Eine Hornhaut ist nicht gewachsen“, sagt er. „Gut, ich habe ja schon oft über sie gesprochen. Aber es berührt mich immer noch. Stärker als früher.“

In den fünfziger Jahren ist Greta Kuckhoff Präsidentin der Notenbank der DDR. Sie wird Hans Coppis Vormund. Die Wochenenden mit ihr bedeuten ihm neue Horizonte, sie liest ihm Homer und Boccaccio vor. Wenn sie über Harro und Libertas Schulze-Boysen spricht, über Arvid und Mildred Harnack, über seine Eltern, dann klingt das menschlich. Dann sind sie für den Moment keine unerreichbaren Helden.
Aber er ist der Heldensohn. Das System macht ihn dazu. In der DDR sind Antifaschisten Märtyrer, ihrer wird mit ­Fackeln gedacht, mit Fahnenappellen und flammenden Opferschalen. Als er 25 ist, schreibt Hans Coppi einen Artikel in der Jungen Welt, der auflagenstarken Zeitung der FDJ.

Er berichtet, sein Vater sei 1,96 Meter groß gewesen. „Den Langen möchte ich euch vorstellen. Es ist Hans Coppi, mein Vater.“

Er schreibt, wie der Vater auf der Berliner Schulfarm Scharfenberg eine Gruppe des Kommunistischen Jugendverbands gründete, wie ihn ein Schulfreund mit Harro Schulze-Boysen bekannt machte, wie er der Funker der Widerstandsgruppe wurde.

Auch der Sohn gibt den Eltern eine wichtige Rolle im Krieg. „Sie halfen der Roten Armee, sich besser auf den Aggressor einzustellen und den Vormarsch der Faschisten zu stoppen.“

Er wiederholt in dieser Zeit, was andere über seine Eltern sagen. Er übernimmt das fremde Bild und zieht eine gerade Linie von den Kommunisteneltern zum Sozialistensohn. Natürlich wird er SED-Mitglied.

In den sechziger Jahren darf er nach Westberlin zu einer Gedenkveranstaltung fahren. Er nutzt die Gelegenheit, um Harald Poelchau in Zehlendorf zu treffen, den Gefängnispfarrer, der vor der Hinrichtung für seine Eltern da war. Poelchau erinnert sich nicht an Details. Er hat so viele Menschen in den Schuppen in Plötzensee begleitet.

[[{"fid":"63020","view_mode":"copyright","type":"media","attributes":{"height":491,"width":345,"style":"height: 199px; width: 140px; margin: 5px 7px; float: left;","class":"media-element file-copyright"}}]]Mit Ende zwanzig begegnet Hans Coppi Vater und Mutter im Kino. Ein Defa-Spielfilm in Starbesetzung, Premiere im Kosmos an der Karl-Marx-Allee. Der Film heißt „KLK an PTX“, das sollen die Rufzeichen gewesen sein, mit denen sich die Rote Kapelle bei ihren Agentenführern meldete. Der Funker im Film, das ist sein Vater Hans Coppi, treu und zuverlässig, Stimme und Ohr der Berliner Kommunisten. Seine Eltern küssen sich in einer verschneiten Landschaft. In der gemeinsamen Wohnung sitzt der Vater mit Kopfhörern. Er tippt die Morsetaste, unablässig, der rote Pianist in der Roten Kapelle. Sein Gerät blinkt und piept und sendet und blinkt. Die Informationen fließen nach Moskau. „Das Ausmaß ist unvorstellbar, die Wirkung ist verheerend“, sagt ein Mann von der Gestapo.

In der DDR-Darstellung ist die Rote Kapelle so mächtig wie im Westen, nur nicht böse, sondern gut. Verräter und Helden. In beiden Begriffen steckt die Vorstellung, dass ein Mensch einem Land gehört, einer Regierung oder einer Sache.
Mitte der achtziger Jahre ist Hans Coppi selbst Vater, er hat drei Töchter. Aus dem Außenhandel ist er in die SED-Bezirksleitung gewechselt. Er soll in Betrieben herausfinden, was die Arbeiterschaft denkt, um daraus Argumentationen abzuleiten. Doch er stellt fest, dass die Oberen gar keine Meinungen von unten hören wollen. Er hadert.

Auf der Suche nach den Spuren seiner Eltern


Ein Freund seines Vaters spricht ihn an, Heinrich Scheel, Historiker und Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften der DDR. Ob er nicht nachforschen will, wie das mit der Roten Kapelle im Detail war? Scheel richtet eine Forschungsstelle ein. Dort fängt Coppi an.

Es ist der Beginn einer systematischen Suche nach den Spuren seiner Eltern.

Er sichtet Dokumente, gleicht Daten ab, betrachtet Fotos. Die DDR geht unter, Coppi macht weiter. Er promoviert an der Technischen Universität in Westberlin mit einer biografischen Studie über den Widerstandskämpfer Harro Schulze-Boysen.

Er stößt auf Widersprüche. Das Funkgerät seines Vaters soll auf eine Empfangsstation in Minsk ausgerichtet gewesen sein. Aber Minsk hatten die Deutschen schon Tage nach dem Überfall auf die Sowjetunion erobert. Er fährt nach Moskau, er sucht die Funksprüche des Vaters. Es gibt andere, aus Brüssel, aus der Schweiz, aber nicht aus Berlin. Ein Mann vom Geheimdienst in Moskau schaut für ihn nach, aber da ist nichts. Nur eine Testmeldung vom 26. Juni 1941: „Tausend Grüße allen Freunden!“

Kann das stimmen? Aber warum sollten die Russen den Erfolg ihrer Verbündeten in Berlin kleinreden? Ein erfolgreiches Spionagenetz in Hitlers Hauptstadt, das wäre doch die ruhmreichere Geschichte in den Annalen des Geheimdiensts.
Coppi sucht immer weiter. Er findet Fotos von Ausflügen, vom Zeltplatz, von Touren mit dem Faltboot. Er sieht ein glückliches Leben, nicht nur einen schrecklichen Tod. Endlich sind sie nicht mehr nur die Ikonen, deren Gesichter die DDR auf Briefmarken druckte.

Keine von Moskau gesteuerte Agenten


In einer Karteikarte des Naziapparats ist die Körpergröße seines Vaters vermerkt. Der Lange maß gar nicht 1,96, sondern bloß 1,86 Meter. Hans, der Vater, war nur so groß wie Hans, der Sohn. Er kommt ihm auch dadurch näher, fast auf Augenhöhe.

Er recherchiert Details, veröffentlicht Studien. Seine Arbeit bringt ihn in die Gedenkstätte Deutscher Widerstand, in der die Rote Kapelle seit 1987 behandelt wird und zu einem Forschungsschwerpunkt geworden ist. Er gewinnt den Eindruck, dass seine Eltern nicht von Aufträgen aus Moskau lebten, sondern dass sie von ihren eigenen Gedanken und Gefühlen angetrieben wurden.

Er findet einen Zettel, den die Widerstandsgruppe an Hauswände klebte. Die Nazis hatten in der Ausstellung „Das Sowjetparadies“ im Berliner Lustgarten den Feind verächtlich gemacht. Auf dem Klebezettel stand: „Das Nazi-Paradies – Krieg – Hunger – Lüge – Gestapo. Wie lange noch?“

Nur eine Zettelaktion, aber kein Mythos, kein Gerücht. Und eine Zettelaktion gegen Hitler ist 1942 sehr viel.

Das Geschichtsbild hat sich verändert. Die Verräter sind Menschen, die sich von der Mehrheit in Nazideutschland unterschieden. Sie waren anders. Hans Coppi hat Anteil an dem neuen Bild. Er spricht an Schulen und erzählt den Schülern von seinen Eltern. Er macht das gern, vor Kindern fällt es ihm leichter als sonst.

Hans Coppi sitzt an seinem Küchentisch, auf dem Tisch das Foto von dem Jungen mit dem Blumenstrauß in der Hand. Wenn seine Eltern nicht mehr als Verräter verunglimpft werden, bleibt dann das Heldenbild? „Als Helden und Märtyrer waren sie mir immer sehr entrückt“, sagt er.

Jetzt sind sie einfach seine Eltern geworden, Vater und Mutter.

Zum Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Hitler zeigt das ZDF die sehenswerte Dokumentation „Die Kinder des 20. Juli“. Darin reden die Kinder und Enkelkinder der Widerstandskämpfer erstmals über ihre traumatischen Erlebnisse. ZDF, Sonntag, 20. Juli 2014, 23.25 Uhr. Weitere Infos hier

 

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