- Oligarchie der Zeithaber
Die piratische Basisdemokratie ist vordergründig zwar für jeden offen. Doch sie bevorteilt eine Gruppe von Mitgliedern, die die Geschicke und Inhalte der Partei lenken: diejenigen, die Zeit haben. Sehr viel Zeit. Und das ist nicht förderlich für die Demokratie
Mit einem Klischee kann man vor dem Parteitag in Bochum getrost aufräumen: Dass die Piraten keine Inhalte hätten. In den vergangenen Monaten prasselten massenhaft Anträge ein, ob per E-Mail oder im Piratenwiki. In der Berliner Geschäftsstelle kam sogar ein Fax an – für die Netzpartei fast schon Rohrpost-Verhältnisse. 800 Anträge sind es geworden, rund 1.400 Seiten; das ist Rekord. Beim letzten Bundesparteitag in Offenbach waren es erst 500.
Und wie basisdemokratisch das alles scheinbar zustande gekommen ist: Monatelang haben Piraten – ob allein oder in Crews, Squads und Arbeitsgemeinschaften – Ideen vorsortiert, angerichtet und in Häppchen bereitgestellt. Sogar Nicht-Mitglieder konnten Anträge einreichen. Jetzt soll der Parteitag anbeißen. Und auch hier gilt: Jedes zahlende Mitglied darf kommen und abstimmen; Delegierte wie in anderen Parteien gibt es nicht. Die Teilnehmer vor Ort entscheiden, welche Ideen verdaut, welche wieder ausgespuckt werden.
Also alles erreicht – Transparenz, Egalität, Ubiquität, Solidarität? Mitnichten. Wo die Piraten von der Intelligenz des Schwarms sprechen, meinen sie die Geschicklichkeit des Rudels, wo sie mit basisdemokratischen Prozessen werben, hadern sie mit oligarchen Strukturen.
Bei Aristoteles war eine Oligarchie eine Staatsform, in der die Reichen regieren. Bei den Piraten heißt die Währung der Macht: Zeit. Die piratischen Ideengeber, die kleine Parteielite, hat neben ihrem gewaltigen Wissensvorsprung eben vor allem diese: Zeit, all die unübersichtlichen Anträge zu sichten. Zeit, selbst welche zu erarbeiten. Zeit, die parteieigenen Nachrichten zu verfolgen. Die News-Sammelstelle „Piratenmond“ zählt 250 RSS-Feeds; daneben gibt es Hunderte von twitternden und bloggenden Abgeordneten, Amtsträgern, Wahlkandidaten und Möchtegern-Funktionären.
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Allein, sich auf den Parteitag vorzubereiten, gleicht einer Bit-und-Byte-Odyssee. Da gibt es Anträge für das Grundsatz- oder das Wahlprogramm, Positionspapiere, Satzungsänderungsanträge, sonstige Anträge. Und weil der zweitätige Parteitag keinesfalls mehr als 50 bis 100 Punkte bearbeiten kann, wird am Samstagmorgen erst über die Tagesordnung abgestimmt. Denn streiten können Piraten allein schon über die Fragen, welche der vielen Anträge in welcher Reihenfolge bearbeitet werden.
Was für ein Chaos: Nach monatelangem Hin und Her stehen in Bochum also vier Tagesordnungs-Vorschläge zur Abstimmung. Im Vorfeld mussten gewiefte Piraten sich nicht nur mit diesen Prozessen, sondern auch mit den parteieigenen Abstimmungs-Tools Liquid Feedback und LimeSurvey vertraut machen. Allein auf der zweiten Plattform liefen nach Parteiangaben 1.186 vollständige Umfragen. Der Weg zu Piraten-Beschlüssen ist wie der bürokratische Hürdenlauf, den Asterix und Obelix auf ihrer Tour nach Rom hinlegen, um den Passierschein A38 zu beantragen.
Seite 2: Das Parteiengagement wird zu nutzloser, zeitfressender Plackerei
Demokratie gab es zwar noch nie umsonst; Zeit musste immer investiert werden. Sei es, um sich in Themen einzuarbeiten, um Meinungsaustausch zu betreiben, um bei Parteien mitzumachen – oder auch nur, um sich am Sonntag im Wahlbüro anzustellen. Aber dort war es immer so, dass diejenigen, die in Antragskommissionen waren, irgendwo gewählt wurden, ob in Kreis- oder Landesverbänden. Und sie waren auch nur dorthin gewählt, für eine bestimmte Aufgabe, für einen bestimmten Zeitraum. Bei den Piraten sind die eifrigsten Ideengeber nicht legitimiert. Das kann man gut oder schlecht finden, basisdemokratisch oder nicht. Aber dieser Umstand macht über kurz oder lang jene mächtig, die Zeit haben. Und derer gibt es drei Gruppen:
- die Besitzenden, die so viele Ressourcen haben, dass sie sich Zeit kaufen können;
- die Studenten, die sich Zeit nehmen können;
- und die Arbeitslosen, die kein Geld haben, aber Zeit besitzen.
Ein Gesicht der Partei gehört tatsächlich zur dritten Gruppe: der politische Geschäftsführer Johannes Ponader, der phasenweise von Hartz IV leben muss. Und doch ist mit der Piraten-Elite der Zeithaber nicht so sehr der Bundesvorstand gemeint – denn der ist nur verwaltend tätig. So hat der stellvertretende Parteichef Sebastian Nerz mit dem Antrag PA378, den der Parteitag voraussichtlich schon am Samstagmorgen verabschieden wird, einen Vorschlag erarbeitet, wie man das Bundestagswahlprogramm strukturieren könnte. Die thematischen Inhalte dagegen kamen von anderen.
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Beispielsweise den Drahtziehern im Liquid Feedback: Dort gibt es wenige Piraten, die Dutzende, mitunter Hunderte von Stimmen auf sich vereinigen. Diese Superdelegierte haben so viel Macht, dass sie bestimmte Anträge mit nur wenigen Klicks nach ganz oben befördern können. Die Plattform ist parteiintern höchst umstritten; der im Liquid Feedback zusammengestellte Tagesordnungs-Vorschlag wird daher wohl nicht die Gnade des Parteitags finden. Parteivize Nerz etwa gehört zu den schärfsten Kritikern dieses Systems.
Wenn man das Verhältnis von fruchtbarem demokratischem Engagement und Zeit in einem Koordinatensystem darstellen würde, bekäme man eine Parabel in der Form eines umgekehrten U. Wer wenig Zeit investiert, erhält wenig Output. Mit steigendem Zeiteinsatz erhöht sich aber der inhaltliche Nutzen, bis er sich einem Optimum nähert. Irgendwann jedoch fällt die Kurve wieder: Das Parteiengagement wird zu nutzloser, zeitfressender Plackerei.
Genau da sind die Piraten jetzt angekommen.
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