- Makler des Friedens in Europa
Hans-Dietrich Genscher verkörperte jahrzehntelang Kontinuität: Kein anderer Politiker hat die Außenpolitik des geteilten und des wiedervereinigten Deutschland so geprägt wie er. Ein Nachruf
Vor wenigen Tagen erst, am 21. März, hat er seinen 89. Geburtstag gefeiert. Sein Parteifreund Gerhart Rudolf Baum, der ihn an diesem Tag anrief, erlebte ihn so aufmerksam und hellwach wie immer. Sie redeten über die Wahlergebnisse in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt, seiner alten Heimat. Genscher sei besorgt gewesen über das Anwachsen rechtspopulistischer Parteien – nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern. Auch über die Flüchtlingskrise und über Angela Merkel hätten sie gesprochen, berichtete Baum. Sie verdiene hohen Respekt, habe Genscher gesagt, „selbst wenn sie scheitert“.
Das war ein typischer Genscher-Satz: Lob und Anerkennung verteilte dieser Vollblut-Politiker nie ohne Einschränkungen. Er wusste, welche Zufälle und Konstellationen manchmal über das Gelingen oder Nichtgelingen eines epochalen Lebenswerks entscheiden. Er selbst verfolgte seine politischen Ziele deshalb nie, ohne das Risiko des Scheiterns mitzudenken. Das trug ihm gelegentlich den Vorwurf ein, sich nach allen Seiten abzusichern. „Slippery Genscher“ nannten ihn die Amerikaner in den Zeiten des Kalten Krieges, wenn sie nicht durchschauten, welche Ziele dieser unermüdlich zwischen Moskau und Washington pendelnde Deutsche aus Halle verfolgte, auf welcher Seite er wirklich stand. „Genscherismus“ war die deutsche Übersetzung dieses Vorwurfs.
Sein oberstes Ziel: ein vereinigtes Deutschland
Dabei hatte Genscher, was das betraf, immer einen festen Kompass. Er wusste genau, dass er seine Ziele ohne die Verankerung im transatlantischen Bündnis nie erreichen könnte.
Genscher hat den Krieg und zwei Diktaturen überlebt – und daraus bereits als junger FDP-Politiker Konsequenzen gezogen. Ideologien betrachtete er mit Misstrauen – er hatte selbst zu viele Ideologen erlebt.
Er wollte den Menschen helfen – auch und vor allem den Menschen in seiner alten Heimat. Das war sein Motor. Deshalb unterstützte er die Ost- und Entspannungspolitik des SPD-Kanzlers Willy Brandt von Anfang an. Deshalb trieb er an der Seite von Helmut Schmidt den Prozess der Verständigung in der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) voran. Deshalb erfand er an der Seite Helmut Kohls nach dem Fall der Mauer die „Zwei-plus-Vier-Konferenz“ die es ihm erlaubte, als Außenminister der Bundesrepublik gemeinsam mit dem Amtskollegen aus der nicht mehr von der SED regierten DDR gleichberechtigt am Verhandlungstisch der Großmächte Platz zu nehmen und die Bedingungen für ein vereintes Deutschland in einem vereinigten Europa auszuhandeln.
Denn dies war immer sein oberstes Ziel: ein vereinigtes Deutschland in einem vereinigten Europa. Nicht nur als Außenminister warb er dafür. Sondern auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt in Büchern, Reden, Fernsehauftritten.
Zu Beginn seiner Außenminister-Tätigkeit war dies alles noch eine Utopie. Damals lag nicht nur die deutsche Einheit in weiter Ferne. Auch Europa war noch in Ost und West geteilt und eine Überwindung dieser Fronten nicht in Sicht.
Immer mit, nie gegen Moskau
Anders als viele Skeptiker diesseits und jenseits des Atlantiks die davor warnten, eine Übereinkunft mit dem Ostblock werde nur die Teilung Europas zementieren, blieb Genscher immer seiner Überzeugung treu, dass die Verhältnisse in Europa letztlich nur mit, nicht aber gegen Moskau zu verändern seien – ein Grundsatz, der nicht nur in den Zeiten des Kalten Krieges richtig war, sondern bis heute gilt. Deshalb unterstützte Genscher vehement die Friedensbemühungen des SPD-Außenministers Frank-Walter Steinmeier und der CDU-Kanzlerin Angela Merkel in der Ukraine-Krise.
Ohne Moskau, das blieb sein Credo bis zuletzt, lassen sich internationale Krisen nicht bewältigen. Auch aus diesem Grund unterstützte er die Bemühungen seines Amtsnachfolgers Steinmeier, zwischen den USA und Russland eine Verständigung über die Aufhebung der Sanktionen gegen den Iran und einen Frieden in Syrien zu erreichen.
In seiner Zeit als Außenminister war Genscher ständig unterwegs, um mit seinen Amtskollegen in West und Ost zu reden, ihr Vertrauen zu gewinnen. Sein Gespür für weltpolitische Veränderungen ließ ihn früher als viele andere Politiker in Deutschland und in Amerika erkennen, dass mit Michail Gorbatschow Bewegung in die starren Fronten des Kalten Krieges gekommen war.
Als 1989 die alte Nachkriegs-Weltordnung zerbröselte, als Tausende von DDR-Bürgern zuerst über Ungarn ausreisten und später in Prag die deutsche Botschaft besetzten, erntete Genscher die Früchte seiner langjährigen persönlichen Vertrauensarbeit.
„Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“
Am Rande der UN-Vollversammlung in New York, wohin er gegen den Rat seiner Ärzte nach einem lebensbedrohenden Herzinfarkt geflogen war, gewann er Eduard Schewardnadse, Moskaus damaligen Außenminister, als Verbündeten – gegen Ost-Berlin, um das Flüchtlingsdrama in der Prager Botschaft zu beenden.
Er schilderte ihm die dramatische Lage der Botschaftsflüchtlinge, die seit Wochen in Matsch, Morast und qualvoller Enge auf ihre Ausreise warteten. Schewardnadse fragte: „Sind auch Kinder dabei?“ – „Hunderte“, sagte Genscher. Und Schewardnadse, nach einer langen Minute des Schweigens: „Herr Genscher, ich helfe Ihnen.“
Der Rest ist bekannt. Schewardnadse machte Druck und Ost-Berlin musste sich beugen.
Am Abend des 30. September 1989 konnte Genscher, der 1952 selbst aus der DDR geflohen war, mit einem nie vollendeten Satz Tausenden DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft das Ende ihrer Unfreiheit verkünden: „Ich bin heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“
Der Rest ging damals im Jubel der Botschaftsflüchtlinge unter.
Der Prager Balkon wird immer mit seinem Namen verbunden bleiben. Als Genscher sich dort zeigte, war die Lage angespannt. Noch stand die Mauer, aber es war schon absehbar, dass sie fallen würde. Für ihn, den Hallenser, erfüllte sich damit ein Lebenstraum.
Der Zwangsrekrutierung der SS entgangen
Hans-Dietrich Genscher wurde am 21. März 1927 in Reideburg geboren und wuchs in Halle auf, wo sein Vater Syndikus des Landwirtschaftsverbandes war. Der Vater starb, als sein Sohn Hans-Dietrich zehn Jahre alt war. Mutter Hilde, eine Bauerstochter, holte er nach dem Krieg in den Westen, sie lebte zuletzt bis zu ihrem Tode im Jahr 1988 bei ihm in Bonn.
Als 1939 Hitler den Zweiten Weltkrieg begann, war Genscher gerade zwölf Jahre alt. Er absolvierte das Städtische Reformrealgymnasium in Halle, wurde 1943 Flakhelfer und 1944 zum Reichsarbeitsdienst ins Erzgebirge kommandiert. Im Januar 1945 meldete er sich freiwillig zur Wehrmacht, um – wie er später zu Protokoll gab – einer Zwangsrekrutierung durch die Waffen-SS zu entgehen. Er kam zu den Pionieren nach Wittenberg und gehörte später zur „Armee Wenck“, die eingesetzt werden sollte, um die eingekesselte Reichshauptstadt Berlin zu befreien. Kurzzeitig geriet er erst in amerikanische, dann in britische Kriegsgefangenschaft, wurde aber bereits im Juli 1945 entlassen.
In Halle holte er das Abitur nach. Im Winter 1946/47 erkrankte er lebensgefährlich an Tuberkulose, die ihn in den folgenden zehn Jahren wiederholt zu mehreren Krankenhausaufenthalten zwang. „Eigentlich hatte ich damals keine Chance zu überleben“, berichtete er später Bonner Journalisten. „Aber Totgesagte leben bekanntlich immer länger.“
Genscher studierte in Halle und Leipzig Jura, floh aber bereits 1952 über West-Berlin in die Bundesrepublik, arbeitete als Referendar in Bremen und legte in Hamburg das zweite Staatsexamen ab. Anschließend war er bis 1956 in einer Bremer Rechtsanwaltskanzlei tätig.
FDP: In Bremen begann seine Parteilaufbahn
In die LDP, wie die Liberalen in der DDR hießen, war er bereits 1946 in Halle eingetreten, 1952 wurde er nach seiner Flucht in den Westen Mitglied der FDP. In Bremen begann seine Parteilaufbahn, die ihn bereits 1956 nach Bonn führte. Dort wurde er von 1956 bis 1959 zuerst wissenschaftlicher Mitarbeiter der FDP-Bundestags-Fraktion, von 1959 bis 1965 Fraktionsgeschäftsführer und von 1962 bis 1964 gleichzeitig auch Bundesgeschäftsführer der Partei unter dem konservativen Ritterkreuzträger Erich Mende.
Es war eine politisch unruhige Zeit. Die Freien Demokraten, bis dahin immer fest an der Seite und in Regierungen mit der CDU/CSU, hatten 1966 die Koalition platzen lassen. Genscher, der 1965 das erste Mal in den Bundestag gewählt worden war, gehörte zu den konservativen Liberalen, die das Bündnis mit der Union gerne fortgesetzt hätten. Als es aber 1969 zur Bildung der ersten sozialliberalen Koalition kam, wurde er Innenminister unter SPD-Kanzler Willy Brandt. Walter Scheel, Parteichef seit 1968, hoffte mit dieser Nominierung den konservativen Flügel der FDP ruhig zu stellen.
Als palästinensische Terroristen während der Olympischen Spiele 1972 die israelische Mannschaft überfielen und als Geisel nahmen, verhandelte Genscher mit ihnen über eine mögliche Freilassung. Er bot ihnen freies Geleit an, wenn sie ihn selbst als Geisel nähmen. Die Palästinenser lehnten ab. Sie wollten mit einem Teil der Geiseln ausgeflogen werden.
Es endete in einem Blutbad. Die Terroristen, aber auch ihre Gefangenen wurden getötet, als sie bereits in den abflugbereiten Hubschraubern in Fürstenfeldbruck saßen. Die Polizei hatte zur Unzeit das Feuer auf sie eröffnet. Genscher wurde angekreidet, das Blutbad nicht verhindert zu haben. Als Konsequenz aus den Ereignissen von München wurde eine neue Einsatztruppe gebildet, die so genannte „GSG 9“. 5 Jahre später befreite diese in Mogadischu eine von Palästinensern entführte Lufthansa-Maschine.
Einer der erfolgreichsten Außenminister
Als Innenminister hatte Genscher zuletzt einen schweren Stand. Die SPD verübelte ihm, dass er 1973 empfohlen hatte, Bundeskanzler Brandt solle seinen persönlichen Referenten Günter Guillaume nicht aus seiner Umgebung entfernen, sondern dort weiter seine Arbeit tun lassen – und dies, obwohl die westdeutsche Spionageabwehr bereits Verdacht gegen den Kanzlerspion geschöpft hatte. Brandt trat im Mai 1974 wegen der Affäre zurück. Walter Scheel hatte schon vorher signalisiert, dass er das Amt des Außenministers aufgeben und Bundespräsident werden wollte.
Und beides zusammen führte dazu, dass Hans-Dietrich Genscher nicht nur FDP-Vorsitzender sondern auch einer der erfolgreichsten Außenminister wurde, der länger als alle Amtsinhaber vor und nach ihm die Geschäfte führte.
Erst diente er dem SPD-Kanzler Helmut Schmidt, dann mit der gleichen Entschiedenheit dessen Nachfolger Helmut Kohl. Die Außenpolitik war das Feld, auf dem er sich bewährte. Sie entsprach seinem stets auf Ausgleich und Balance bedachten Naturell viel eher, als die von Kontroversen geprägte Innenpolitik. Der konservative FDP-Mann betrieb eine progressive Außenpolitik. Er fand als Makler zwischen den Fronten des Kalten Krieges seine eigentliche politische Erfüllung.
An der Seite Helmut Schmidts erkannte er schnell, welche Chancen die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) für das gespaltene Europa bot. Zum ersten Mal saßen hier die Bundesrepublik, die DDR, USA und UdSSR, alle 15 Ostblockstaaten und sieben weitere neutrale Staaten am Konferenztisch, um über Frieden und Entspannung in Europa zu verhandeln. Die Schlussakte der Konferenz, an deren Gestaltung Genscher entscheidenden Anteil hatte, proklamierte nicht nur die friedliche Anerkennung aller bestehenden Grenzen. Sie versprach auch allen Bürgern gleiche Menschenrechte – in West wie in Ost. Und auf genau diesen Teil der Schlussakte konnten sich später die Bürgerrechtler in Polen und in der Tschechoslowakei erfolgreich berufen.
Der unter Genschers Führung vollzogene Koalitionsbruch 1982 brachte die Freien Demokraten erneut an den Rand der Spaltung. Viele sozialliberal gesinnte Mitglieder, unter ihnen der langjährige Genscher-Intimus und Generalsekretär Günter Verheugen, verließen unter Protest die Partei. Bei der Bundestagswahl 1980 hatten die Liberalen sensationelle 10,6 Prozent geholt, was vor allem auch an der Person des Kanzlerkandidaten Franz-Josef Strauß (CSU) gelegen hatte. Dass Genscher nun die Koalition verließ und Helmut Schmidt stürzte, hat seinem Ansehen allerdings nur vorübergehend geschadet.
Denn er setzte – auch unter Kohl – die unter Brandt und Schmidt begonnene Politik der Entspannung konsequent fort, nicht immer zum Vergnügen der bayerischen Schwesterpartei, die dem umtriebigen Hallenser lange misstraute. Die CSU war, ähnlich wie die Reagan-Administration in Washington, irritiert darüber, dass Genscher nie den Kontakt zum „Reich des Bösen“ abreißen ließ, als das die Amerikaner damals die Sowjetunion betrachtete.
Einer der unermüdlichsten Vorkämpfer der Europäischen Einheit
Als dann 1989 tatsächlich die Mauer fiel und der Ostblock implodierte, war es wieder Genscher, der auf eine große west-östliche Friedenskonferenz drängte. Die „Zwei-plus-Vier“-Verhandlungen besiegelten nicht nur das Ende der deutschen Teilung, sondern schufen auch die Voraussetzung für ein größeres, geeintes Europa.
Unermüdlich hat der frühere FDP-Vorsitzende, der 1992 nach insgesamt 23 Ministerjahren – davon allein 18 als Außenminister – freiwillig und ohne jeden politischen Grund alle politischen Ämter niedergelegt hatte, in den vergangenen 21 Jahren für die europäische Einigung geworben. Sie war und blieb sein Lebenswerk.
Aber er sah auch die Risiken: Die „unbestreitbaren Strukturprobleme Europas“, so diagnostizierte er in seinem erst kürzlich erschienenen letzten Buch, „lösen keine Reformdebatte aus, sondern stärken politische Kräfte, die Europa in Frage stelle – mal direkt und unverblümt, mal heuchlerisch verpackt mit den Worten: ‚Ich bin nicht gegen Europa, aber…‘. Es gebe zu viel Europa, ist zu hören, obwohl es in Wahrheit viel zu wenig Europa gibt. Oder wie soll man die Probleme der Währungsunion erklären, wenn nicht mit dem Fehlen einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik? Die Beseitigung dieses Geburtsfehlers der Währungsunion ist derzeit die dringlichste Aufgabe der EU. Es war kein Fehler der Befürworter der Währungsunion, sondern ein leider nicht vermeidbarer Erfolg ihrer Gegner. Sie verhinderten mit der Parole ‚keine Wirtschaftsregierung in Brüssel‘ die unentbehrliche Zusammenführung der Wirtschafts- und Finanzpolitik auf europäischer Ebene.“
Mit seinem Tod hat die Europäische Einheit einen ihrer unermüdlichsten Vorkämpfer verloren. Sein Rat wird fehlen.
Nachtrag: In einer früheren Version dieses Artikels hatte es fälschlicherweise geheißen, die Landshut sei 15 Jahre und nicht 5 Jahre nach der Geiselnahme der Olympischen Spiele 1972 durch die „GSG 9“ in Mogadischu befreit worden.
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