Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

Laschet über Zuwanderung - „Eine Revolution im Denken“

Der CDU-Politiker Armin Laschet über die neue Offenheit der Deutschen gegenüber Zuwanderern – und über notwendige Strategien für das Bevölkerungswachstum

Autoreninfo

Christian Schägerl arbeitet als freier Journalist in Berlin.

So erreichen Sie Christian Schwägerl:

Dieser Artikel ist eine kostenlose Leseprobe aus der Juni-Ausgabe des Magazins Cicero, die Sie in unserem Online-Shop bestellen können.

 

 

 

Herr Laschet, Deutschland verzeichnet plötzlich wieder hohe Zuwanderungszahlen. Sehen Sie das als positive Entwicklung oder als Bedrohung?
Das sind gute Zahlen. Es zeigt, dass sich der Trend der Jahre 2008 und 2009, als mehr Menschen aus Deutschland auswanderten als einwanderten, völlig umgekehrt hat. Zudem handelt es sich heute um viele qualifizierte Facharbeiter, die kommen. Dies ist ein Beitrag, um ein wenig die demografische Entwicklung in Deutschland abzufedern.

Halten Sie die gestiegenen Zuwanderungszahlen für dauerhaft?
Zunächst einmal ist die Zuwanderung gerade von Südeuropäern eine Reaktion auf die Krise in diesen Ländern. Niemand weiß, wie lange dies anhält. Es zeigt aber sehr stark, dass Deutschland auch hier ein Gewinner der Finanz- und Schuldenkrise ist. Dieser Trend, dass Deutschland Magnet für qualifizierte Zuwanderer ist, kann mittelfristig anhalten. Ob er wirklich dauerhaft ist, muss man abwarten.

Viele Experten sagen, dass Deutschland einen dauerhaften Vorsprung als industrielles Zentrum Europas hat.
Es stimmt, dass Deutschland sehr stark dasteht. Aber es kann keine Insel in Europa sein. Das heißt, dass die Wettbewerbsfähigkeit und die Forschungs- und Entwicklungsausgaben auch im südlichen Europa wieder steigen müssen. Es muss auch mit entsprechendem EU-Geld sichergestellt werden, dass diese Länder ihre Krise überwinden und sich wieder gut entwickeln. Das ist auch für unsere Wirtschaft wichtig.

Wieso trifft die Zuwanderung heute auf so wenig Widerstand in einem Land, in dem früher eher die Ängste vor einer „Überfremdung“ geschürt wurden?
Es gibt zwei fundamentale Änderungen. Zum einen sind die Zuwanderer andere als in den neunziger Jahren, als 300 000 bis 400 000 Asylbewerber ungesteuert kamen. Dies war eine ungeordnete Zuwanderung ohne Integrationsperspektive. Heute dagegen kommen durch die EU‑Freizügigkeit viele gut ausgebildete Fachkräfte aus anderen EU‑Staaten. Es gibt für diese Neuzuwanderer selten Integrationsprobleme. Denn die Menschen haben den Willen, hier zu arbeiten, und haben die dafür nötige Qualifikation. Sehr oft haben sie die deutsche Sprache schon in ihren Heimatländern gelernt und haben hier von Anfang an alle beruflichen Chancen. Zweitens hat sich mental etwas Grundlegendes geändert. Es gibt heute eigentlich quer durch fast alle Parteien den Konsens, dass Deutschland Zuwanderung braucht.

Aber hat nicht gerade die Union früher von einer deutschen Leitkultur gesprochen und die Zuwanderung kritisch gesehen?
Die Union hat sich sicher verändert. Unter Leitkultur versteht man heute den gemeinsamen Grundkonsens unserer Gesellschaft. Jeder muss die Werte des Grundgesetzes akzeptieren. Aber in der parteiübergreifenden Konsensgruppe Fachkräftebedarf und Zuwanderung im Jahr 2011 habe ich gemerkt, dass es auch bei den Gewerkschaften und dem linken Teil der SPD erhebliche Vorbehalte gab. Unter dem Schlagwort „billig und willig“ wurde die Anwerbung ausländischer Fachkräfte als Wunsch der Wirtschaft verdammt. Damals galt noch, dass es keine Zuwanderung geben sollte, bevor nicht der letzte Arbeitslose vermittelt ist. Jetzt haben sich alle aufeinanderzubewegt, übrigens auch die Grünen. Dort ist die frühere Einstellung verschwunden, dass jede Form der Zuwanderung ohne jede Anforderung an die Migranten und ohne Deutschkenntnisse wünschenswert sei. Alle Parteien haben sich geändert – die Union sicher ein Stückchen mehr.

Also kann Deutschland zum Schmelztiegel verschiedener Kulturen werden?
Ich würde das Wort für Deutschland nicht verwenden, es passt nach wie vor eher für die USA. Für die Bundesrepublik war zumindest bisher eher typisch, dass es unterschiedliche Wellen und Arten der Zuwanderung gab, von den Polen in die Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts, der Aufnahme von zwölf Millionen Vertriebenen, über die sogenannten Gastarbeiter bis zu den Spätaussiedlern nach dem Zerfall der Sowjetunion. Aber es stimmt schon, dass in den großen Städten auch hier 50 Prozent der Kinder mittlerweile eine Zuwanderungsgeschichte haben. Jetzt gilt, dass der, der kommt, von vorneherein weiß, dass seine Arbeit und sein Leben hier ein dauerhafter Zustand sein können.

Gibt es eine Grenze der Aufnahmefähigkeit des neuen Zuwanderungslands Deutschland?
Die Einwanderung aus den südlichen EU‑Staaten wird sicher als unproblematisch angesehen. Was Osteuropa angeht, haben wir 2004 den Fehler gemacht, Übergangsregeln für die Freizügigkeit anzuwenden. Die hoch qualifizierten Polen, Tschechen und Ungarn sind deshalb nach Frankreich oder Großbritannien gegangen. Dadurch haben wir eine ganze Generation von mitteleuropäischen Zuwanderern verloren. Jetzt korrigiert sich das etwas. Sicher wird es wieder einige Diskussionen geben, sollte es künftig mehr Zuwanderer aus Asien oder Afrika geben. Aber in den Köpfen ist nun verankert, dass Zuwanderung keine Bedrohung, sondern eine Chance ist. Wir müssen künftig um die klügsten Köpfe weltweit werben. Botschaften, Goethe-Institute und Auslandshandelskammern sollten sich darauf einstellen und ihre Arbeit weltweit verstärken.

Das klingt eindeutig anders als früher.
Es ist wirklich eine Revolution im Denken. Über 50 Jahre war die deutsche Politik darauf ausgelegt, Menschen aus anderen Teilen der Welt abzuschrecken. Jetzt entwickeln wir eine Willkommenskultur und ändern unsere kollektive Körpersprache. Mein Lieblingsbeispiel für das alte Denken war die „Anwerbestopp-Ausnahmeverordnung“. Das beschrieb die ganze Philosophie, weil nur Ausnahmen von dem 1973 verhängten Anwerbestopp definiert wurden. Heute muss das Werben um qualifizierte Zuwanderer die Regel sein.

Kann die Zuwanderung die kommende „Baby-Delle“ ausgleichen?
Das bezweifele ich eher. Allerdings hätte ich vor zwei Jahren auch nicht für möglich gehalten, wie stark die Zuwanderungszahlen tatsächlich ansteigen würden. Wir müssen abwarten, ob der Trend anhält. Wir müssen auf jeden Fall auch etwas im Inland tun, um den kommenden Arbeitskräftemangel zu beheben. Wir müssen länger arbeiten, es müssen mehr Frauen ins Erwerbsleben kommen, Schüler ohne Schulabschluss können wir uns nicht mehr erlauben. Und wir müssen etwas dafür tun, damit die Geburtenrate wieder steigt.

 

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.