- Wecke den Dichter in dir!
Warum empören sich eigentlich alle über Günter Grass? Er sollte noch viel öfter die politische Lage in seinen Gedichten kommentieren. Es wird überhaupt zu wenig gereimt in diesem Land, dachte sich Alexander Marguier und griff gleich selbst zur Feder
Warum regen sich eigentlich alle über Günter Grass auf? Ich finde, der Mann sollte noch viel öfter die politische Lage mit seinen Gedichten kommentieren. Am besten täglich, jeden Morgen einen neuen Vers. Gern auch über das Wetter, die Lottozahlen oder Fußballergebnisse. Es wird überhaupt zu wenig gereimt in diesem Land, das sich ja immerhin zu Gute hält, jenes der Dichter und Denker zu sein.
Okay, beim Denken könnte unser Nobelpreisträger noch ein bisschen nachlegen, aber er schreibt sich ja im Moment mit letzter Tinte erst noch warm. Was böte sich also heute an, um von dem wortmächtigen Mahner als kleines Poem unters Volk gebracht zu werden? Vielleicht die Meldung in der FAZ, dass der Netzausbau 32 Milliarden Euro kostet? Schon klar, für eine dichterische Verhackstückung ist das ein reichlich sperriges Thema, aber hey: Man wächst an den Herausforderungen.
Versuchen Sie mal, das Wort „Netzentwicklungsplan“ in einem bescheidenen Dreizeiler unterzubringen, das ist gar nicht so einfach. Mit etwas gutem Willen reimt sich „Plan“ auf „Scham“, da hätten wir dann auch gleich die moralische Komponente mit drin. Zum Beispiel so: „Erhobnen Hauptes und ohne jede Scham / ersinnt das Volk der Mörder / den Netzentwicklungsplan“. Geht doch. Macht sogar richtig Spaß.
Jetzt kommt Schwierigkeitsstufe zwei, eine Verversung aus dem druckfrischen Finanzteil der FAZ. Die zweite Meldung am Fuß der ersten Seite ist wirklich ein ziemlich harter Brocken: „Hohe Kapitalzuflüsse in Gold-ETC“ heißt es da, die Schlagwörter lauten „börsennotierte Rohstoffprodukte“ und „Krisenwährung“. In diesem Fall könnte man die zusammengesetzten Nomina nach Hedgefond-Manier in ihre einzelnen Bestandteile zerlegen, gewinnbringend umformulieren und auf diese Weise ganz nebenbei den technokratisch-entmenschlichten Charakter der Finanzmärkte entlarven: „Roher Stoff, von Menschenhand gegraben / dem Krösus dargebracht / gehandelt an der Börse / bis sie zusammenkracht / die Krise währet ewig / Produkt der Judenmacht“. Ein bisschen Antisemitismus sollte übrigens ab und zu schon dabei sein, das verkauft sich einfach besser und erhöht die Debattenwahrscheinlichkeit.
Jetzt zur Abwechslung mal zum Sport, auch da tun sich unerhörte Dinge. Zum Beispiel hat der VfL Wolfsburg den Vertrag mit Trainer Felix Magath um zwei Jahre verlängert. Fußball interessiert mich zwar nur am Rande, doch als ambitionierter Hobbydichter sollte man sich von den Fakten tunlichst nicht den Takt verderben lassen: „Zwei Jahre, Felix, quälst du noch / zum Sold der Sklaventreiber / Heloten sind wir alle, doch / auch Herren unsrer Leiber / Wenn Muskel fest an Muskel steht / von Sehnen zart umschlungen / es Dir bald an den Kragen geht / wie einst den Nibelungen“. Puh, das klingt zugegebenermaßen etwas völkisch-schwülstig, irgendwie nach Leni Riefenstahl oder Will Vesper.
Vielleicht können wir dem bösen Eindruck, wir seien in Wahrheit bloß ein deutschtümelder Sprücheklopfer, mit einem experimentellen Poetry-Slam-Duktus entgegenwirken. Und gleichzeitig noch Informationswert generieren, etwa durch die Bekanntgabe des aktuellen Fernsehprogramms: „9.05 Rote Rosen / 10.15 Lanz kocht / 14.15 Die Küchenschlacht / 16.35 Der Fleck / 19.40 Gute Zeiten, schlechte Zeiten /22.25 Das Schaf“. Man muss das Ganze nur schnell genug fünf Mal hintereinander laut vorlesen und sich dabei im Kreis drehen, dann ergibt sich der tiefere Sinn dieser kunstvollen Kompilation wie von selbst.
Probieren Sie es einfach mal aus. Oder besser noch: Greifen Sie selbst zur Feder und lassen Sie Ihren Gedanken freien Lauf, gern auch in Form eines Leserkommentars zu dieser Kolumne. Nur reimen sollte es sich. So wie jetzt: „Und die Moral von der Geschicht‘ / Nicht jeder Vers ist ein Gedicht“.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.