- Die Stasi hätte sie geliebt
Aus den Erfahrungen mit der Stasi können wir eine Menge über die neue Datenbrille Google Glass lernen. Ein Essay von Roland Jahn, Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde
Dieser Artikel ist eine Kostprobe aus der Dezember-Ausgabe des Cicero. Wenn Sie keine Ausgabe des Magazins für politische Kultur mehr verpassen wollen, können Sie hier das Abonnement bestellen.
Als ich das Volkspolizeiamt verließ, drückte jemand auf den Auslöser. Klick, es war, glaube ich, das erste heimliche Foto von mir. Ich merkte nichts.
Damals, 1981, war ich Ende zwanzig. Die Stasi hatte mich auf die Volkspolizei bestellen lassen, um ein Reiseverbot auszusprechen. Helmut Schmidt besuchte die DDR, und Erich Honecker wollte ihn im mecklenburgischen Güstrow über den Weihnachtsmarkt führen. Geheimpolizisten traten als brave Bürger auf: eine heile Welt im Advent, die frei von allem Unkontrollierbaren sein sollte. Leute wie ich durften ihre Stadt nicht verlassen.
Es war das erste Bild von vielen, die ich ab 1992 in den Stasiakten über mich gefunden habe. Viele Bilder zeigten mich in Momenten, in denen ich mich unbeobachtet fühlte. Es gab Aufnahmen aus der DDR und Aufnahmen aus Westberlin, wo ich nach der gewaltsamen Ausbürgerung seit 1983 lebte. Man denkt, die Stasi ist hinter einem, aber sie ist neben einem. Fotos von meiner Wohnung in Kreuzberg, Fotos vom Briefkasten, Fotos vom Treppenhaus. Es sind auf den ersten Blick banale Details, aber sie werden nicht grundlos festgehalten. Fotos von der Wohnungstür und, ja, auch Fotos vom Schulweg meiner Tochter. Mich durchzuckte es, als ich die Bilder das erste Mal sah.
Ein Überwachungsapparat liebt Fotos, denn er will alle Menschen erkennen können. Ihre Anonymität zerstört der Apparat – durch Fotos. Er sortiert die Bilder, ordnet sie zu, er passt die Abgebildeten in seine Organigramme ein. In Vernehmungen legten Stasioffiziere gern Fotos auf den Tisch: Kennen Sie den? Welche Rolle spielt er? Wie ist das Beziehungsgeflecht um ihn herum?
Die Datenbrille
Das ist sie
Google Glass ist ein winziger Computer, den man in einem Brillengestell am Kopf trägt. Er enthält eine Digitalkamera, ein Mikrofon und ein kleines Display vor dem rechten Auge. Zunächst war ein Knochenleitungs-Lautsprecher vorgesehen, inzwischen wird auch eine Version mit einem Ohrstöpsel ausprobiert.
Das kann sie
Befehle geben die Nutzer über das Mikro mithilfe von Spracherkennung. Oder sie wischen und tippen auf ein Berührfeld an der rechten Schläfe. Mit der Brille kann man online gehen, freihändig Nachrichten austauschen, navigieren, Fotos und Videos aufnehmen oder Informationen abrufen. Brillengläser sollen integriert werden können.
Das ist der Stand
Google hat das Produkt 2012 vorgestellt. Bisher testen es 10 000 ausgewählte Kunden, die zirka 1200 Euro zahlen mussten. Anfang November kündigte der Konzern an, das Testprogramm auszuweiten. Twitter und Facebook haben schon Apps entwickelt. Anfang 2014 soll die Datenbrille auf den Markt kommen, dann soll sie aber wesentlich weniger kosten als im Testprogramm.
Die Stasi benutzte Kameras, die in Aktenkoffern versteckt waren. Sie stahl Fotos aus Wohnungen. Sie ließ Inoffizielle Mitarbeiter Fotos von ihren Freunden machen. Sie nutzte die emotionale Kraft von Bildern, um Menschen zu beeindrucken, zu kompromittieren, um – so hieß es – sie zu zersetzen. Bilder zu sammeln, war der Stasi so wichtig wie Gespräche abzuhören, sie wurde nicht umsonst Horch und Guck genannt. Die Stasi-Unterlagen-Behörde verwahrt 1,7 Millionen Bilder der DDR-Geheimpolizei: Fotos, Negative, Dias im Archiv.
Damit keine Missverständnisse entstehen: Eine Kamera ist nichts Schlechtes. Technik ist keine Bedrohung, nur ihr Missbrauch. Das gilt auch für die neuen Kameras, die in jedem Mobiltelefon stecken. Und bald auch in Google Glass, jener Brille, in der Kamera, Mikrofon und ein Minirechner enthalten sind, der online geht. Auf einem kleinen Display im Sichtfeld zeigt die Brille ihrem Träger Informationen an. Eine Tastatur ist gar nicht nötig, via Spracherkennung nimmt der Minirechner Befehle entgegen: „Brille: Mach ein Foto!“
Das ist Technik, die begeistert. Ein Ingenieur kann seinem Kollegen, der in 100 Kilometern Entfernung arbeitet, mühelos zeigen, was er gerade sieht, und ihn um Rat fragen. Man darf diese Technik nicht aufhalten.
Natürlich hätte die Stasi so eine Brille sehr gut einsetzen können: Ein Führungsoffizier verfolgt die Protestaktion, an der sein IM teilnimmt. Der IM wird in Echtzeit geführt, der Offizier gibt Anweisungen über einen kleinen Kopfhörer, der an der Brille angeschlossen ist. Die gesammelten Informationen können umgehend analysiert und an andere Stellen weitergegeben werden. Braucht der IM ergänzende Informationen zu einem Menschen? Kein Problem. Ein hervorragendes Instrumentarium.
Soll Google Glass deswegen schlecht sein? Die Frage ist, wer welche technischen Entwicklungen benutzen kann und zu welchem Zweck. Die Gefahren sind zahlreich. Man kann sich den kleinen Erpresser denken, der jemanden in einer unvorteilhaften Situation fotografiert und vom Opfer in einer schnellen Mail Geld verlangt. Der Gefilmte: identifiziert. Der Erpresser: anonymisiert.
Man kann sich auch die Datensammler aus der Industrie vorstellen, die über die Brille das Konsumverhalten eines Menschen mitverfolgen und auswerten. Oder den Staat, der seine Bürger vor Gefahren schützen möchte und sich der Träger von Datenbrillen bedient, als wären sie Masten mit Überwachungskameras.
Die Gesellschaft braucht Regeln, damit die neue Technik die Rechte der Bürger nicht beschädigt. Technik auf niedrigem Niveau lässt sich vergleichsweise einfach regeln. Wir haben das Recht am eigenen Bild, durch das jeder Mensch grundsätzlich selbst bestimmen kann, welche Aufnahmen von ihm veröffentlicht werden. Wir haben das Verbot unerlaubter Tonaufnahmen, das Persönlichkeitsrecht, den Datenschutz. Aber für die neue, verbundene und vernetzte Technik bedarf es neuer Regeln. Bilder und Töne, die aufgenommen werden, können schon jetzt sofort an andere übertragen werden. Wir müssen darüber reden, welche Grenzen wir ziehen möchten.
Die Frage ist dabei immer: Wie viel Freiheit darf eingeschränkt werden, um Freiheit zu schützen? Wie stark darf der Staat eingreifen in eine technische Entwicklung? Darf er den Bürgern verbieten, mit einer bestimmten Brille rumzulaufen?
Die neue Dimension besteht darin, dass die Technik praktisch für jeden zugänglich sein wird. Schon jetzt nutzen Journalisten versteckte Kameras. Polizisten hören Verdächtige ab. Der Journalist mit der versteckten Kamera muss notfalls vor Gericht gute Gründe für sein Vorgehen haben, sonst wird es teuer. Auch für Abhöraktionen von Ermittlern gelten hohe Hürden. Das öffentliche Interesse wird gegen das Recht des Einzelnen abgewogen. Kann so eine Abwägung noch stattfinden, wenn Tausende oder Millionen Menschen eine Brillenkamera haben?
Eine Option sind Freiräume. Schon jetzt steht am Eingang mancher Museen: „Bitte keine Foto- und Filmaufnahmen“. Das Urheberrecht an den Ausstellungsstücken soll gewahrt bleiben. Ist das Anliegen, für seine Umgebung ein Fremder zu bleiben, nicht mindestens so wichtig?
Wenn der Träger einer Datenbrille zur lebenden Überwachungskamera wird, wenn er sich irgendwann via Gesichtserkennung zu jedem Gesicht eine kleine Datensammlung aufs Display holt, wenn er seine ihm eigentlich fremde Umgebung einordnen, sortieren, durchleuchten kann – dann werden Schutzzonen nötig. Allerdings wünsche ich mir, dass die Schutzsuchenden in der Mehrzahl sind und nicht wie Raucher in den Raucherkabinen auf Flughäfen ausharren müssen.
Fantasien? Wir müssen uns die Zukunft ausmalen, denn die Entwicklung verläuft rasant. Technisch ist mehr möglich, als wir uns vorstellen können. Dass die Mobiltelefone von Regierungschefs einfach abgehört werden, haben bis vor kurzem auch viele nicht geglaubt.
Und die Stasi? Hätte sie den DDR-Bürgern Google Glass erlaubt? Nur wenn Datenbrillen etwas Normales gewesen wären, wäre der filmende IM nicht weiter aufgefallen. Andererseits: Die Macht des Geheimdiensts beruhte auch auf technischer Überlegenheit gegenüber der Bevölkerung. Dass ausgefeilte, neue Technik prinzipiell jeder Bürger haben kann, ist eine demokratische Konstellation, die die Staatsmacht infrage stellt.
Technik hat mir geholfen im Kampf gegen die Diktatur. Ich habe die Stasileute in Jena heimlich fotografiert, als sie eine Gedenkplastik abtransportierten. Sie erinnerte an einen Freund, der in der U-Haft umgekommen war. Ich stand in einem Altersheim am Fenster und fotografierte. Die Bilder der Stasiaktion druckte der Spiegel.
Später, von Westberlin aus, habe ich damals Kameras in die DDR eingeschmuggelt. Sie waren groß und schwer, VHS-Standard; Diplomaten und akkreditierte Journalisten brachten sie rüber. Freunde drehten Bilder von Protestaktionen. Am 9. Oktober 1989 demonstrierten Bürger in Leipzig gegen das Regime. Die Aufnahmen mit der eingeschmuggelten Kamera brachte ein Korrespondent in der Unterhose in den Westen. Mit einer Datenbrille hätten es meine Freunde leichter gehabt.
[[nid:55424]]
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.