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Fritz Steinacker - Zu Besuch beim letzten Nazi-Verteidiger

Der Anwalt Fritz Steinacker hat sein ganzes Leben lang Nazimörder verteidigt. Er ist der Advokat des Teufels - und der Letzte seiner Art

Autoreninfo

Constantin Magnis war bis 2017 Chefreporter bei Cicero.

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Niemand öffnet die Türe. Der Advokat ist verschwunden, wie so viele seiner Klienten im Laufe seiner Karriere. Es schien ohnehin unwirklich, so jemanden einfach in einem Frankfurter Reihenhaus aufsuchen zu können. Dann kommt er doch. Er stapft den Hügel hinauf, kurz nach dem vereinbarten Termin, weiße Haartolle, gebeugt, sicheren Schrittes.

Fritz Steinacker ist der letzte lebende, prominente Anwalt, der seinen Ruf der Verteidigung von NS-Kriegsverbrechern verdankt. Er setzt Kaffee auf und bittet höflich in die kleine Gartenlaube. 91 Jahre alt, Tommy-Hilfiger-Pullover, beige Schlaghosen. Zu seinen Mandanten gehörten der KZ-Arzt Josef Mengele, der Auschwitz-Lagerapotheker Victor Capesius, SS-Offiziere wie Viktors Arājs, dessen Kommando die Hälfte der lettischen Juden umbrachte, oder Eichmanns Stellvertreter Hermann Krumey, der den Massenmord an den ungarischen Juden orchestrierte. An mindestens 25 Nazi-Prozessen war Stein­acker beteiligt. Die Hand, die nun einen Rhabarberkuchen mit Sahne über das geblümte Tischtuch schiebt, verbindet die Bundes­republik im Jahr 2013 mit den Abertausenden Leichen in der Schlucht von Babij Jar, mit den gesäuberten Ghettos, den brennenden Synagogen, mit den Gaskammern von Auschwitz. Warum wählt ein Anwalt diesen Weg? Und wie steht er selbst zu den Verbrechern, die er sein Leben lang verteidigt hat?

Es scheint, als lägen die Antworten auf seinem Schoß: Ein Stapel schreibmaschinenbeschriebene Seiten, fleckig, mit Eselsohren, seine Memoiren, er arbeitet noch daran, sagt Steinacker und gibt sie nicht aus der Hand. Unentwegt blättert er im Laufe des Gesprächs darin, wie in Sekundärliteratur zum Verständnis einer fremden Biografie, als wüsste das Papier von Dingen, die ihm selbst unbekannt, unerklärlich sind.

Steinacker, Bauernsohn aus Oberhessen, ist elf, als Hitler an die Macht kommt. Er tritt mit 17 in die NSDAP ein, wird Bomberpilot, erhält nach über 300 Feindflügen und mehreren Verwundungen 1945 das „Deutsche Kreuz in Gold“. Er wird Rechtsanwalt und tritt schließlich in die Kanzlei des durch die Nürnberger Prozesse berüchtigten Nazi-Verteidigers Hans Laternser ein.  1955 macht sein Mentor ihn zum Juniorpartner und schult ihn in den Auschwitz-Prozessen. Als Laternser 1969 stirbt, steht Stein­acker alleine da, als Senior der Kanzlei. So beginnt seine Karriere als Koryphäe für die Verteidigung von Nazimördern.

Wenn Sie Ihre Karriere noch einmal beginnen könnten: Würden Sie dieselben Schwerpunkte setzen?
Ich glaube, ich habe es damals richtig gemacht. Und das Ergebnis aller Verfahren spricht für mich. Ich hätte es nicht besser machen können.

Seite 2:  „Wir hatten eben bald einen Ruf”

Warum kamen all die NS-Verbrecher ausgerechnet zu Ihnen?
Ja, das hat sich herumgesprochen. Wenn sie einmal in einem großen Verfahren waren … Laternser und ich hatten eben bald einen Ruf.

Es ist nicht die Aufgabe von Verteidigern, ihre Mandanten moralisch zu beurteilen. Ihre Aufgabe ist es lediglich, dafür zu sorgen, dass deren Rechte gewahrt werden – selbst wenn sie Massenmörder sind. Fragen kann man allerdings, auf welche Weise Steinacker dies getan hat. Ob er wirklich – wie er in späteren Prozessen argumentierte – glaubte, die Bundesrepublik habe kein Recht, in der NS-Zeit nicht verfolgte Handlungen zu bestrafen, da 1945 „doch nur ein Regierungswechsel stattgefunden“ habe. Ob er tatsächlich der vor Gericht erklärten Überzeugung war, die Schuld für das bestialische Morden trage nur die Spitze der Befehlskette, nicht die „kleinen Gehilfen“. Der Historiker Stefan Klemp zeigt in seinem Buch über den KZ-Arzt und Steinacker-Mandanten Aribert Heim gar, wie Steinacker seine Klienten „nicht nur als Opfer der Nationalsozialisten, sondern ebenso sehr als Opfer der Juden“ inszenierte und sie per „Täter-Opfer-Umkehr und antisemitischer Invektiven“ verteidigte. Klären die Jahre den Blick?

Dezember 1964: Ortsbesichtigung in Auschwitz. Fritz Steinacker (links) mit dem ehemaligen SS-Arzt Franz Bernhard Lucas und dem Anwalt Engelhardt Joschko. (Foto: picture alliance)

Würden Sie sagen, Ihre Arbeit hat Ihr persönliches Verhältnis zur deutschen Geschichte verändert?
Nein. Gar nicht. Das kann ich nicht sagen.

Dabei haben nicht viele derart detailliert Einblick in den Apparat des Nationalsozialismus, in die Köpfe so vieler Täter bekommen wie Sie. Was gewinnt man aus dieser Zeit an Erkenntnissen dazu?
Ja, man hat natürlich auch mitbekommen, was das Dritte Reich alles zulasten unserer Bevölkerung und von uns selbst angestellt hat. Das schon. Das habe ich zur Kenntnis genommen. Ich habe das deshalb aber nicht weiterpropagiert.

Und wenn Sie Ihren Kindern und Enkeln eine Lektion mitgeben könnten, aus all Ihrer Erfahrung, was wäre die?
Ja, also ich habe drei Söhne, mit denen hatte ich schon Diskussionen darüber, das ist ja klar.

Über was genau?
Zum Beispiel über den einen oder anderen Prozess.

Recht und Gerechtigkeit sind nicht immer dasselbe. Hatten Sie Mandanten, von deren Urteil Sie im Nachhinein dachten: rein juristisch legitim, aber moralisch falsch?
Ja, bei Pery Broad zum Beispiel.

Broad, Lagergestapo in Auschwitz, wurde 1965 für seine Teilnahme an Folterungen und Exekutionen zu vier Jahren Haft verurteilt.

Der hätte höher bestraft werden müssen?
Nein, niedriger.

Seite 3: „Es ging nicht um den Holocaust, sondern um die einzelnen Mandanten”

Meine Frage war eigentlich, ob Sie nicht auch schon einmal dachten, ein Mandant hätte eine höhere Strafe verdient, als die von Ihnen erstrittene?
Nein, das nicht.

Trotzdem muss Sie die intensive Auseinandersetzung mit dem Holocaust doch zutiefst erschüttert haben.
Es ging nicht um den Holocaust, sondern um die einzelnen Mandanten, und was denen vorgeworfen wurde.

Hat Sie das nicht trotzdem immer wieder menschlich verstört?
Um es so zu sagen: Ich habe oft nachts nicht geschlafen.

Weil Sie auch Abscheu empfunden haben? Entsetzt und abgestoßen waren?
Ja, ja, natürlich.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Ja, da muss ich gerade mal gucken …

Er blättert sehr lange schweigend in seinen Memoiren.

Das war eine Vielzahl. Strippel, Meyer, Dörr, Wollenschläger, Janssen, Schnabel, Bischoff. Mit denen allen habe ich relativ guten Kontakt gehabt.

Die Frage war eher, ob es Mandanten gab, mit denen Sie nach den Prozessen keinen Kontakt mehr haben wollten, wegen ihrer Verbrechen?
Ja. Einer hatte mich schon vorher um mein Honorar betrogen.

Ich meinte …
Nein, ich sag das nur!

Aber wie verarbeitet man als Strafverteidiger menschlich die Begegnung mit den Tätern und ihren Verbrechen während der NS-Zeit?
Also, ich habe des Öfteren nicht geschlafen, nachts. Gerade während des Auschwitz-Prozesses.

Im Zuge dieser Prozesse haben Sie 1964 auch an einer Ortsbesichtigung in Auschwitz-Birkenau teilgenommen. Wie haben Sie diesen Ort erlebt?
Danach hatte ich die Nase voll. Was da alles für Schandtaten verübt wurden. Auch wenn es der eigene Mandant nicht war, sondern andere. Besonders der Raum, in dem die Häftlinge exekutiert wurden. Das hat mich erheblich beeindruckt.

Seite 4: „Ich habe nachts oft genug nicht geschlafen”

Stellt man sich in Ihrem Beruf eigentlich die Frage nach dem Ursprung des Bösen? Bei Klienten wie Rolf-Joachim Buchs, der mit seiner Kompanie eine Synagoge mit 700 Menschen absperren und anzünden ließ, um dann zuzuschauen, wie diese lebendig verbrannten? Fragt man sich da nicht, was genau Menschen zu derartigen Abscheulichkeiten treibt?
Ich habe vor dieser Frage meiner Meinung nach noch nicht gestanden.

Nachdem Sie sich über Jahre immer und immer wieder in allen Details mit Massenmördern auseinandersetzen mussten?
Nun, ich habe nachts oft genug nicht geschlafen.

Und warum haben Sie nachts nicht geschlafen?
Ja, weil dem Mandanten etwas Bestimmtes vorgeworfen wurde, und er sagte: Nein, das war nicht so. Und dann wird das von anderen Zeugen natürlich noch bestätigt. Und dann denke ich: Hat der mich auch belogen. Das hätte er mir doch auch vorher sagen können.

Vielleicht ist es doch das Gehör, das ihm zu schaffen macht. Vielleicht kann man das eigene Leben mit 91 Jahren nicht mehr so reflektieren, wie man es mit 30 getan hätte. Noch dazu öffentlich. Vielleicht will er es auch nicht. Muss er überhaupt? Der Wind rüttelt die nassen Heckenzweige, hebt Steinackers Scheitel, lässt die Memoiren wild flattern und reißt schließlich den Blumentopf vom Tisch. Steinacker winkt ab. Liegen lassen, einfach liegen lassen.

Passiert es einem eigentlich, dass man sich mit Mandanten ein Stück weit identifiziert?
Natürlich. Aber natürlich nicht bei denen, bei denen man den Eindruck gewonnen hat, sie sind Verbrecher.

Welche Ihrer Mandanten haben Sie denn für Verbrecher gehalten?
Ja, Moment.

Er blättert schweigend und konzentriert in seinen Memoiren.
Tja. Das ist schwierig.

Er blättert und blättert.

Also, ich gucke gerade die Namen. Dörr, Janssen, Schnabel, Bischoff, das waren alles Fragezeichen.

Und Aribert Heim? War der ein Verbrecher?
Nach seiner Darstellung mir gegenüber, nein.

Das sagen Sie auch im Rückblick?
Wenn da einer dabei ist, der zum Beispiel die Kranken einfach durch Spritzen getötet hat, das ist besonders, das ist schon selten. Da gehört natürlich der Doktor Heim dazu. Keine Frage.

Im Laufe der Jahre sind Steinackers Klienten einer nach dem anderen gestorben. Seit dem vergangenen Herbst kann er nun auch die letzte Akte, die von Aribert Heim, schließen. Der SS-Lagerarzt soll Hunderte seiner Häftlinge lebendig aufgeschnitten und mit Benzin zu Tode gespritzt haben. In einem späteren Verfahren bilanzierte die Berliner Spruchkammer, Heim habe „reihenweise aus Mordlust Menschen getötet“, er „weidete sich an der Todesangst seiner Opfer“.

Aribert Heim tauchte 1962 unangekündigt in Steinackers Kanzlei auf und hinterließ eine Generalvollmacht, bevor er einem Haftbefehl durch eine Flucht ins Ausland entkam. Steinacker sucht die Vollmacht heraus, vergilbtes, 50 Jahre altes, tintenbeschriebenes Papier, legt es vor sich auf den Gartentisch und streicht mit dem Finger darüber. Heim war zwischendurch der weltweit meistgesuchte Naziverbrecher. Das Landgericht Baden-Baden hat ihn jetzt offiziell für tot erklärt. „Die jüdische Seite hat auf der ganzen Welt nach ihm gesucht, nur nicht da, wo er war“, sagt Steinacker. Der Anwalt wusste, wo er war, in Kairo, dort ist er 1992 unter falschem Namen gestorben. Steinacker hat ihn zweimal besucht, sie duzten sich. Bei seinem letzten Besuch packten die beiden die Badehosen aus und gingen schwimmen. Im Mittelmeer. Es war, sagt Steinacker, ein schöner Tag. 
 

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