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Einmal westwärts – und zurück

Hildegard Dziuk war 13 Jahre alt, als sie 1945 ihre Heimat im heutigen Polen verlassen musste. Die heute 77-Jährige hat die Geschichte von Flucht und Rückkehr ihrer Tochter Bascha Mika erzählt – und die hat sie aufgeschrieben.

„Hört zu, hört doch mal zu!“ Klara bleibt stehen und packt mich am Ärmel. „Der neue Witz…“, Klara kichert. Vera, die ein paar Schritte vorgelaufen ist, kommt den Weg zurück. „Der neue Witz, er ist mir wieder eingefallen“, sagt Klara. Was für eine Nervensäge, diese Klara, warum nur musste sie uns auf dem Weg zur Schule begleiten. „Also: Hitler hat uns zu Weihnachten bei der Sonderzuteilung um drei Kilo Fleisch betrogen. Das erste Kilo von dem Bock, den er bei Stalingrad geschossen hat. Das zweite von dem Schwein, das er am 20.Juli hatte. Und das dritte Kilo von den Hammeln, die noch an den Sieg glauben.“ Ich gucke wahrscheinlich so erschrocken wie mein Lieblingshuhn, wenn ich es zu Hause über den Hof jage. Und auch Vera lächelt kein bisschen. „Bist du bekloppt?“, zischt sie leise – dabei sind wir doch ganz allein im Wald. Vera ist meine beste Freundin. Sie hat einen Onkel in Oppeln, der uns immer Lakritz und Bonbons schenkt, obwohl es doch nirgendwo sonst mehr was Süßes gibt. Der Onkel ist irgendwas Wichtiges und fände den Witz bestimmt nicht komisch. Es ist Montag, der 8.Januar 1945. Ich bin übrigens Hilde, Hildegard Dziuk, doch alle nennen mich „Sperling“, weil ich so klein und so mickrig bin. Seit drei Monaten bin ich 13 Jahre, sehe aber angeblich aus wie elf. Wir sind Schlesier, genauer gesagt Oberschlesier. Geboren bin ich in Comprachtschütz, doch 1936 wurde der Ort umbenannt und heißt jetzt Gumpertsdorf. Das klingt deutscher. Gumpertsdorf liegt an der Bahnstrecke zwischen Oppeln und Neiße, ungefähr hundert Kilometer weit weg von der polnischen Grenze. Wir wohnen in der Fabrikstraße 9, mein Vater ist Maurermeister und hat das Haus zusammen mit seinem Vater gebaut, der ist auch Maurermeister. Gumpertsdorf hat nur gut 2000 Einwohner, aber eine Zigarrenfabrik, eine Ziegelei und das Gut der Familie Wösler. Die meisten im Dorf bewirtschaften einen eigenen Hof, die anderen gehen in die Ziegelei, aufs Gut oder lernen in der Fabrik Zigarren rollen. Nur ein paar Leute fahren zur Arbeit nach Oppeln, so wie mein Vater. Der ist Polier beim Reichsbahnausbesserungswerk. Und am Sonnabend spielt er im Werksorchester die Trompete. 1939 wurde mein Vater zu den Pionieren eingezogen, doch schon einige Monate später kam er aus dem Krieg zurück, weil er schwer krank war. Und dann hat ihn sein Werk reklamiert, das heißt, sie brauchten ihn bei der Arbeit, und er musste nicht mehr an die Front. Seitdem ist er fast der einzige Mann im Dorf – außer den Alten und den Jungs, die wie mein Bruder Oswald noch nicht taugen fürs Militär. Mittwoch, der 10.Januar: Mein Vater kommt nervös und verstört aus der Arbeit zurück. Das passt nicht zu ihm. Eigentlich ist er ein ruhiger, sanfter Mann, der tut, was meine Mutter sagt. Er ist nicht in der Partei und spricht vor uns Kindern nie über Politik oder den Krieg. Nun hat ihn der Krieg eingeholt. Das Reichsbahnausbesserungswerk wird von Oppeln hundert Kilometer weiter nach Westen verlegt, nach Schweidnitz. Die Belegschaft und deren Familien sollen mit. Evakuierung. Bisher haben wir in Gumpertsdorf eigentlich nicht viel gemerkt vom Krieg. Zwar sind die Männer eingezogen und die Lebensmittel rationiert, Apfelsinen und Schokolade gibt’s nur noch zu Weihnachten. Aber wir wurden ja nie bombardiert. Nur einmal gab’s einen Angriff auf unsere Bahnstrecke, aber das war vielleicht auch ein Irrtum, denn die Bombe ging zehn Meter weit daneben und riss einen riesigen Krater ins Feld. Jetzt ist der Krieg auch in Gumpertsdorf angekommen. Immer mehr Soldaten ziehen durchs Dorf, und man hört fast ständig die russischen Stalinorgeln. Weil das Land flach ist, trägt der Schall weit. Die Front rückt näher, die Russen sollen schon an der Oder stehen. Doch meine Mutter will nicht weg. „Was sollen wir in Schweidnitz? Das ganze Dorf ist doch noch da. Wir gehen nicht!“ Tatsächlich sind bisher nur ganz wenige Familien verschwunden. Als ich gestern beim Fleischer war, hat mich unser Polizist gefragt, ob ich mal mit zu ihm nach Hause komme. Und dann hat er mir ein paar sehr schöne, hohe Schnürschuhe von seiner Tochter geschenkt, der Grete Breitkopf. Ich trage seit Jahren denselben Wintermantel, er ist schon zu klein und so schäbig, dass meine Mutter sich schämte, mich damit zur Schule zu schicken. Aber Grete hatte jeden Winter ein neues Mäntelchen und neue Schuhe dazu. Grete und ich haben uns mit den anderen Dorfmädchen beim Jungmädelbund getroffen, einmal in der Woche. Das sind schöne Abende gewesen, ich bin da gern hingegangen. Wir haben gesungen oder Geländespiele gemacht. Und jetzt sind Grete und ihre Mutter seit ein paar Tagen fort aus dem Dorf. Wir bleiben – noch. Knapp zwei Wochen später, am 23.Januar quartieren sich Soldaten bei uns ein. Sie reden die ganze Nacht mit den Eltern. Ich kriege nur einen Satz mit: „Wenn die Russen kommen, nehmen die zuerst Ihren Mann und Ihren Sohn mit, die sehen Sie nie wieder.“ Früh um sechs werden Oswald und ich geweckt. Wir ziehen unsere wärmsten Sachen an, mehrere Lagen übereinander; ich trage die hohen Schuhe von Grete Breitkopf und Hosen, die mir die Mutter aus alten Anzügen genäht hat. Draußen liegt der Schnee eineinhalb Meter hoch, es ist kalt, über zwanzig Grad minus, aber es schneit nicht. Meine Eltern haben ihre Fahrräder voll bepackt mit allem, was irgendwie Platz findet auf den Gepäckträgern vorne und hinten. Wir laufen. Ich bin noch ganz benommen vom Schlaf, von der Kälte, vom Schreck. Es geht kein Zug mehr von Gumpertsdorf, aber von Tillowitz, zwölf Kilometer weiter, soll es noch einen geben, hat mein Vater gehört. Die Eltern führen die Räder, Oswald und ich helfen schieben. Immer an der Bahn entlang, da ist der Weg ziemlich frei, die Schneezäune schützen die Gleise vor Verwehungen. Am Morgen haben meine Eltern der Tante Marie und Opa Martin gesagt, dass wir gehen. Sie sollen in unser Haus einziehen, damit es bewohnt bleibt, und sich um die Tiere kümmern. Wie alle im Dorf haben wir Hühner, Gänse, Enten, ein paar Ziegen und jedes Jahr ein Schwein, das mit Milch und Gerstenkleie gefüttert und im Herbst geschlachtet wird. Wie gern bin ich die Gänse hüten gegangen, dann konnte ich stundenlang auf der Wiese liegen und lesen. Neudorf, Goldmoor, Tillowitz. In Tillowitz wohnt der Kapellmeister des Orchesters, in dem mein Vater spielt, da wollen wir hin. Er ist nicht da, nur seine Frau, aber wir dürfen bleiben und übernachten. Am nächsten Morgen lassen wir die Räder dort stehen; meiner Mutter gefällt das nicht, sie liebt ihr Rad mit den bunten Netzen über den Speichen. Mein Vater hat seine Bahnuniform angezogen und auch noch den Mantel dazu. Dadurch haben wir Glück, die Kollegen lassen uns in den Zug nach Neiße, das ist dreißig Kilometer weit weg. Von dort wollen wir weiter nach Schweidnitz. In Neiße ist die Hölle los, das ganze Land gerät aus den Fugen. Überall Soldaten, junge Frauen im Schlepptau, irgendwie scheinen sie alle noch fröhlich zu sein, aber vielleicht sind sie einfach nur aufgekratzt. Weiter im Zug nach Westen. Ich bin hungrig und völlig erschöpft. Wie die Heringe sind wir im Waggon eingepfercht. Ich bin zu klein, geh zwischen all den dicken Mänteln fast unter und krieg kaum noch Luft. „Erdrückt mir das Kind nicht!“, klagt meine Mutter. Irgendwie schaffen wir es nach Schweidnitz. Dort hören wir die Stalinorgel noch lauter als in Gumpertsdorf. Mein Vater fragt nach dem Ausbesserungswerk. Der Bahnbeamte starrt ihn an und zeigt dann auf einen Zug, zwei Gleise weiter: „Da steht der Transport mit der Belegschaft.“ Das Werk soll schon wieder verlegt werden, noch weiter in den Westen, nach Delitzsch in Sachsen. Wir laufen zum Zug, mein Vater sieht Arbeitskollegen aus Oppeln, die machen uns Platz in ihrem Waggon. Auch hier ist es furchtbar eng, aber in der Mitte steht ein bullernder runder Ofen mit einem Eisengitter rundum, und auf der Platte dampfen kleine Töpfchen mit heißem Tee. Im Wagen bekommen wir eine kleine Ecke für uns, es gibt zu essen und zu trinken. Glück? Zufall? Wären wir nur zwei Stunden später gekommen, wir hätten den Transport verpasst. In Schweidnitz sind 1945 sehr viele Menschen umgekommen. Fahren, stehen, warten, wieder fahren, schlafen, überlastete Strecken, Stunden auf Abstellgleisen – ich weiß nicht, wie lange wir nach Delitzsch brauchen. Ich hab aufgehört nachzudenken. Angst hab ich eigentlich nicht, ich habe grenzenloses Vertrauen in meinen Vater. Dann, irgendwann, kommen wir an, irgendwo zwischen Leipzig und Bitterfeld. Auch in Delitzsch gibt es ein Ausbesserungswerk, und das hat alles schon organisiert für unsere Ankunft. Mein Vater fängt wieder an zu arbeiten, Oswald und ich müssen zur Schule. Wir leben in einem Zimmer bei dem alten Herrn Schulz. Der wohnt im ersten Stock eines Hauses in der Arbeitersiedlung. Herr Schulz ist Kommunist, Witwer und ziemlich nett. Uns geht es nicht schlecht: Mein Vater bekommt Essen vom Werk, das holen wir mit dem Kochgeschirr und wenn meine Mutter es mit Kartoffeln verlängert, reicht es für alle. Das Leben läuft fast normal, hier in der Mitte von Deutschland. Nur schlafen können wir nicht. Ständig wird Alarm gegeben. Nachts kommen die Bomber, dann müssen wir in den Keller. Am Tag kommen die Flieger, dann müssen wir wie die Hasen über die Straße laufen und uns irgendwo verstecken oder an die Häuserwand drücken. Doch die Bomben fallen auf Leipzig und Bitterfeld. Zwei Monate später: Die Amerikaner sind da. Es ist April 1945. Wir hocken im Keller des Hauses in Delitzsch, als die Tür auffliegt. „Any soldiers?“ Uniformierte Männer stehen oben an der Kellertreppe, Gewehre im Anschlag. Ich hebe langsam die Hände. Sie lachen. Noch Jahre später wird mein Bruder spotten, dass ich die Einzige war, die sich den Amerikanern ergeben hat. Ist das ein Wunder, wenn einer mit dem Gewehr auf dich zielt? Jetzt gibt es keinen Fliegeralarm mehr, keine Schule und kein Ausbesserungswerk. Im Juni ziehen sich die Amerikaner zurück, Delitzsch wird der Roten Armee übergeben. Langsam wird das Essen überall knapp. Noch weiß niemand, dass die Alliierten Europa neu aufgeteilt haben. Einige junge Leute aus der Gegend von Oppeln wollen nach Hause zurück. Sie brechen auf, kommen nur bis zur Neiße, landen wieder in Delitzsch. „Die Oder-Neiße-Linie, das ist die Grenze“, erzählen sie. „Bei uns zu Hause sind jetzt die Polen.“ „Polen? Wieso die Polen?“, fragt meine Mutter. „Polen ist jottwehdeh.“ Wir wollen es einfach nicht glauben: Oberschlesien steht seit Kriegsende unter polnischer Verwaltung. Bis jetzt hatten wir so viel Glück. So viel mehr als andere Füchtlinge. Und nun? Weiter nach Westen? In Delitzsch bleiben? Meine Eltern sind ratlos. Oswald und ich werden nicht gefragt. Am 4.August, es ist Oswalds Geburtstag, packen wir unsere Sachen. Es geht wieder los. Nicht in den Westen – zurück nach Osten. Wer macht 1945 so was? Nicht viele, außer uns. Flucht andersherum. „Auch wenn bei uns die Polen sind“, sagen meine Eltern, „wir haben doch unser Haus, unseren Garten und das Feld.“ Es gibt einen Zug, der polnische Zwangsarbeiter in die Heimat zurückbringt. Sie lassen uns mitfahren. Als wir die Elbe auf einer Pontonbrücke überqueren, schaukelt und schwankt der Zug, ich sehe nur noch Wasser und sterbe vor Angst. Versteckt zwischen ehemaligen Zwangsarbeitern passieren wir die Grenze an der Neiße. Die Bahn hält bei einer kleinen Siedlung mitten im Wald. Russische Soldaten mit Gewehren. Sie haben ein Munitionslager der deutschen Wehrmacht entdeckt. Wir alle müssen raus aus dem Zug, zwei Tage lang Munition schleppen und in Güterwaggons verladen. In den verlassenen, verwüsteten Häusern kochen die Frauen uns was zu essen. Abends fangen die Russen an zu singen, immer mehrstimmig; das hallt so wunderbar zwischen den Bäumen und klingt so schön melancholisch, dass uns die Tränen kommen. In den Nächten legen wir uns ganz dicht aneinander. Die Soldaten sehen in die Zimmer. Sie suchen junge Frauen. Mit dem Zug kommen wir bis nach Lignitz, westlich von Breslau, und dürfen in einem Nonnenkloster übernachten. Nur die Männer müssen draußen im Klosterhof bleiben. Nachts werden ihnen die Schuhe geklaut, die sie zum Schlafen ausgezogen hatten. Auf Socken und barfuß geht es weiter. Endlich landen wir in Neiße. Hier wird es gefährlich, marodierende polnische Banden ziehen umher und suchen nach Deutschen. Wir verstecken uns in einem Viehwaggon hinter einem Stapel Kisten und haben wieder Glück. Niemand entdeckt uns. Von jetzt an laufen wir nur noch, über Dörfer, die aussehen, als wäre nie Krieg gewesen. Ich will nur noch nach Hause. Seit Tagen träume ich davon, in den Hühnerstall zu laufen und mir ein Ei aus dem Nest zu holen. In Tillowitz können wir wieder bei der Frau des Kapellmeisters übernachten, aber unsere Fahrräder sind futsch. Gumpertsdorf. Unser Feld. Kartoffeln. Wir buddeln einige aus und stecken sie ein. Vorsichtig nähern wir uns unserem Haus von hinten. Die Gemüsebeete, die Obstbäume, der Blumengarten. Nur auf wenigen Dächern sehen wir polnische Fahnen. Das ganze Dorf ist noch da! Plötzlich taucht mein kleiner Cousin Viktor vor uns auf. Starrt, dreht sich um und rennt weg. Und dann stehen sie alle schon vor unserem Tor: die Tante Marie, Opa Martin, Tante Hedel mit Viktor, Helmut und Erich. Wir sind wieder zu Hause. Am Abend gibt es Kaninchenbraten. Wir heißen jetzt nicht mehr Schlesier, sondern S´lasaki. Und Gumpertsdorf heißt Komprachcice. Erst 1959 habe ich mich wieder auf den Weg in den Westen gemacht. Mit meinem Mann und meinen Kindern haben wir Oberschlesien verlassen. Die meisten Schlesier flohen 1945 vor der anrückenden Roten Armee oder wurden später von polnischer Seite vertrieben. Rund um Oppeln, zum Beispiel in Gumpertsdorf, entgingen viele Dörfer diesem Schicksal, weil die dort lebenden Menschen eine uneindeutige nationale Identität hatten. Viele waren zweisprachig aufgewachsen – mit dem sogenannten Wasserpolnisch. Sie galten in Polen als Autochthone, als slawische Ureinwohner und wurden in Ruhe gelassen.

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