() Friedrich Merz zieht sich aus der Politik zurück.
Ein Fazit
Friedrich Merz wird bei der nächsten Bundestagswahl nicht mehr kandidieren.
Die demokratietheoretisch interessanteste Einlassung zu meiner Entscheidung, bei der nächsten Wahl nicht wieder für den Bundestag zu kandidieren, kam vom Vorsitzenden der Grünen. Ich solle, so ließ er sich vernehmen, Nägel mit Köpfen machen und mein Bundestagsmandat sofort niederlegen. Diese Aufforderung verdient eine vertiefende Betrachtung, eine Antwort und einen Blick in die Zukunft.
Ich habe seit 1994 den Wahlkreis Hochsauerland vier Mal in Folge direkt gewonnen. Bei der letzten Bundestagswahl konnte ich mit 57,7 Prozent der Erststimmen elf Prozentpunkte mehr erzielen als meine Partei. Der Kandidat der Grünen kam auf 2,0 Prozent. Bis auf Herrn Ströbele haben die Grünen in Deutschland noch nie einen Wahlkreis gewonnen. Bei den Grünen wird man Parteivorsitzender oder Abgeordneter, wenn man sich in der Partei ordentlich hochdient und wenn man vor allem in das parteiinterne Proporz-Schema passt. Der Vorsitzende der Grünen bewegt sich in dieser Subkultur mit großer Instinktsicherheit. Nach wenigen Studiensemestern ist er ohne Abschluss in die Politik gewechselt und lebt seitdem ausschließlich aus der Schatulle seiner Partei und aus öffentlichen Kassen.
Dies alles ist für sich genommen weder verwerflich noch auf die Grünen beschränkt. Vergleichbare Karrieremuster gibt es in allen anderen Parteien auch. Aber zu Union und SPD gibt es einen Unterschied: Unsere Kandidaten bemühen sich in der Regel wenigstens ernsthaft, die Wahlkreise zu gewinnen, in denen sie aufgestellt werden. Und deshalb ist es gerade für einen Wahlkreisabgeordneten vollkommen abwegig, ein Mandat vorzeitig aufzugeben, wenn nicht außergewöhnliche Umstände dazu zwingen. Die Ankündigung, aus beruflichen und persönlichen Gründen bei der nächsten Wahl nicht noch einmal für ein Bundestagsmandat zur Verfügung zu stehen, gehört gewiss nicht zu solchen Umständen. Alle anderen Gedanken können nur in einem Kopf entstehen, der zeit seines politischen Lebens in den Kategorien reiner Partei- und Funktionskarrieren denkt. In dieser Welt wird ein Abgeordnetenmandat in erster Linie durch die Gunst der Partei zugeteilt, nicht errungen durch die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler, denen man sich in direkter Auseinandersetzung mit den Konkurrenten gestellt hat. Wer aber Parlamentsmandate als Gunstbeweise der Partei ansieht, der muss folgerichtig die Trophäe zurückfordern, wenn die Gefolgschaft verweigert oder das Maß der Übereinstimmung mit der Partei aus der Sicht ihrer Führung zu klein wird.
Und damit sind wir bei dem entscheidenden Thema, das unsere Demokratie eigentlich viel mehr beschäftigen müsste. Unser Parlament leidet unter einem dramatischen Ansehens- und Einflussverlust, der geradewegs in eine Krise der parlamentarischen Demokratie mündet, wenn nicht schnell etwas unternommen wird.
Fangen wir bei uns selbst an: Der Bundestagspräsident hat über den Jahreswechsel den Brief einer Lehrerin erhalten, in dem diese die Fragen und Eindrücke schildert, die ihre Schüler nach dem Besuch einer Plenarsitzung des Deutschen Bundestages hatten. Unser Präsident hat den Brief allen 614 Abgeordneten des Bundestages in Kopie zur Verfügung gestellt, um uns bei der Formulierung von guten Vorsätzen für das neue Jahr einige Anregungen zu geben. Ich gebe zu, bei der Lektüre dieses Briefes habe ich ein schlechtes Gewissen bekommen. Das Bild, das wir einem Betrachter auf der Besuchertribüne geben, ist in vielerlei Hinsicht kritikwürdig. Den interessierten Besuchern fällt vor allem auf, dass wir uns gegenseitig nicht zuhören, dass alle möglichen Dinge erledigt werden, vom Zeitung-lesen über angeregte Unterhaltungen mit Kollegen bis hin zu intensiven Telefonaten in den ersten beiden Reihen, nur die stattfindende Parlamentsdebatte erregt im Saal praktisch keine Aufmerksamkeit, sie scheint rein dekorativen Charakter zu haben. Eine politische Meinungsbildung kann weder ein Besucher noch ein Fernsehzuschauer erkennen. Dürfen wir uns über den voranschreitenden Ansehensverlust des Parlaments und der Abgeordneten da wirklich wundern?
Aber vielleicht verhalten wir uns so, weil wir wissen, dass unser Einfluss auf das, was politisch in diesem Land passiert, viel geringer ist als wir zugeben. Die Gesundheitsreform und ihr Zustandekommen waren ein besonders augenfälliges Beispiel für eine Machtverschiebung vom Parlament hin zur Regierung, die mit den Regeln einer parlamentarischen Demokratie nur noch schwerlich in Übereinstimmung zu bringen ist.
Außer einigen wenigen Fachpolitikern haben die allermeisten Abgeordneten bei der Abstimmung über die Gesundheitsreform nicht gewusst, worüber sie abstimmen, noch konnten sie es jemals in Erfahrung bringen. Dieses Konvolut von mehr als 500 Seiten, das aus sich selbst heraus weder lesbar noch verständlich war, dazu auf weit mehr als 100 Seiten Änderungsanträge am Tag vor der Abstimmung, hat uns zur Gesetzgebung im Blindflug gezwungen. Und was noch schwerer wiegt: Selten zuvor hat sich eine solche Vielzahl insbesondere von jüngeren Kolleginnen und Kollegen in beiden Koalitionsfraktionen von ihrer Regierung und ihren Fraktionsführungen so massiv unter Druck gesetzt gesehen wie bei dieser Abstimmung. Einzelnen Abgeordneten ist massiv gedroht worden mit dem Ende ihrer Karriere, die SPD erwägt den Austausch gleich mehrerer kritischer Abgeordneter im Gesundheitsausschuss. Bei allem Verständnis für die notwendige Funktionsfähigkeit der Arbeit im Parlament, der Fraktionen und vor allem der Regierungsmehrheit: Das war zu viel.
Und deshalb muss jetzt über diesen Einzelfall hinaus über Konsequenzen ernsthaft nachgedacht und öffentlich gesprochen werden. Wer diesen Diskurs jetzt noch verweigert, der lässt mit zu, dass das deutsche Parlament erneut vor die Hunde geht.
Welche Veränderungen könnten möglich und sinnvoll sein? Neben der Verbesserung unserer rein äußerlichen Selbstdarstellung bei Debatten im Parlament und bei der täglichen Arbeit könnten zwei grundsätzliche Regeländerungen Erfolg versprechen: Die eine dient der größeren Unabhängigkeit der Abgeordneten von ihren politischen Parteien, die andere dem größeren Selbstbewusstsein der Abgeordneten gegenüber der Regierung.
Über die ausufernde Herrschaft der politischen Parteien wird seit langem und zu Recht geklagt. Das deutsche Wahlrecht begünstigt die Herrschaft der Parteien auch über die Personen der Abgeordneten. Rein formal ist zwar nur die Hälfte der Abgeordneten über die Landeslisten gewählt. Aber auch die meisten direkt gewählten Abgeordneten sind auf den Landeslisten „abgesichert“. Für die Wähler bedeutet dies: In den meisten Fällen ist es ganz gleichgültig, wer das Wahlkreismandat erringt, zumindest bei den beiden Volksparteien zieht der unterlegene Kandidat eben über die Liste in den Bundestag ein. In den Wahlkreisen ist die Wahl deshalb selten wirklich spannend. Und genau das sollte anders sein. Wenn wir das Interesse für die Wahlen wieder steigern wollen, dann muss das Wahlrecht – übrigens nicht nur bei den Abgeordneten! – stärker persönlichkeitsbezogen werden. Es ist kein Zufall, dass Wahlen in Ländern mit Mehrheitswahlrecht einerseits spannender sind und andererseits für klare Verhältnisse sorgen.
Die USA, Großbritannien, Frankreich und viele andere Länder haben diese Erfahrung gemacht. Das Mehrheitswahlrecht stärkt die Bindung der Abgeordneten an ihre Wahlkreise, und es macht die Abgeordneten unabhängiger von ihren politischen Parteien.
Darüber hinaus zeigen die Erfahrungen mit einer großen Koalition erneut, wie die Machtbalance zwischen Parlament und Regierung einseitig zugunsten der Regierung verschoben wird. Wenn die Regierung eine Zweidrittelmehrheit im Parlament hat, dann kommt es auf den Einzelnen nicht mehr an. Und wenn gleichzeitig rund ein Drittel der Abgeordneten Mitglieder der Regierung sind oder in regierungsnahen Parlamentsfunktionen und ein weiteres Drittel der Abgeordneten möglichst schnell genau dahin will, dann darf sich niemand darüber wundern, dass die Abgeordneten das notwendige Selbstbewusstsein gegenüber der Regierung nicht mehr aufbringen. Da zudem die Zahl derer steigt, die auf Dauer wirtschaftlich von der Politik abhängig sind, wird Anpassung zur Existenzfrage. Deshalb sollten wir die Gewaltenteilung nicht nur rhetorisch, sondern institutionell wieder ernst nehmen: Wer Mitglied der Regierung ist, der sollte nicht gleichzeitig Abgeordneter sein. Und wer Abgeordneter sein will, also der ersten Gewalt im Staate angehören möchte, der kann nicht gleichzeitig Mitglied der Regierung sein. In den USA steht es so in der Verfassung, Österreichs Regierung ist diesen Weg freiwillig gegangen. Bei uns hat die „Gewaltenverschränkung“, wie das Verfassungsgericht sie nennt, dagegen ein Ausmaß angenommen, das dem Parlament in seiner ureigenen Funktion, nämlich die Regierung zu kontrollieren und die Verantwortung vor den Wählern zu tragen, schweren Schaden zufügt. Ein solches Parlament kann objektiv seine Kernaufgabe nicht mehr wahrnehmen. Die zweite große Koalition in der Geschichte des Grundgesetzes ist dafür nicht die Ursache; sie macht das Problem nur deutlicher sichtbar als je zuvor.
Natürlich gibt es gegen das Mehrheitswahlrecht und gegen die strikte Gewaltentrennung gewichtige Gegenargumente. Aber die Zeit ist reif für eine Grundsatzdebatte über die Zukunft unseres Parlamentarismus. In einem solchen Diskussionsprozess kann es eigentlich nur Gewinner geben – die Bürger, die Abgeordneten, die Regierung, die parlamentarische Demokratie. Aber erfolgreich kann diese Debatte nur sein, wenn sie mit der notwendigen Veränderungsbereitschaft geführt wird. Und die darf nicht Halt machen vor den institutionellen Regeln unseres Grundgesetzes, die angepasst werden müssen an den berechtigten Wunsch der meisten Bürger unseres Landes, mehr Einfluss zu gewinnen auf die Politik und das Personal, das für diese Politik steht.
Friedrich Merz war von 2000 bis 2002 Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
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