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Konfliktscheue und Kadavergehorsam - Kollaps der Debatte

Thomas de Maiziéres Standpunkt im direkt an die Köln-Vorfälle anschließenden gesellschaftlichen Diskurs war deutlich: Nichts verschweigen, alle Fakten auf den Tisch und bitte keine verrohte Debatte. Knapp vier Wochen später zeigt sich, dass sein Wunsch nicht erhört wurde. Eine Diskurskritik

Autoreninfo

Thomas Leif ist Journalist, Film- und Buchautor sowie Honorarprofessor für Politologie an der Universität Koblenz-Landau. Im SWR Fernsehen moderiert er die politische Talkshow 2+Leif.

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„Debatte ist gut, Verrohung der Debatte nicht.“ So äußerte sich Bundesinnenminister Thomas de Maizière Mitte Januar zum Diskurs über die Kölner Silvester-Übergriffe. Er warnte vor einer „Schweigespirale“ und forderte: „Alle Fakten müssen auf den Tisch – nur dann wird die Debatte auch beherrschbar bleiben.“

Nur: Nicht einmal die beiden Grundbedingungen seiner Botschaft überzeugen. Weder gibt es derzeit in Deutschland eine Schweigespirale, schon eher eine weitgehend faktenbefreite Meinungsdiarrhö. Noch ist die politische und mediale Klasse nicht bereit, der Parole „Alle Fakten müssen auf den Tisch“ zu folgen.

Politiker befeuern Verrohung der Debatte
 

Obwohl es Wochen nach den Gewalt-Exzessen in Köln und laut BKA in einem Dutzend anderer Großstädte noch immer kein annähernd klares Lagebild gibt, überbieten sich Politiker mit haltlosen Vorschlägen zur Verschärfung des Asylrechts, beschleunigten Ausweisungen und allerhand obskuren Ferndiagnosen.

Es ist das Prinzip der Eindruckserweckung: „Wir handeln entschlossen.“ Gleichzeitig aber betreiben sie die Verrohung der Debatte, die sie – wie im Fall des Innenministers – eigentlich eindämmen wollen. Überrissene Forderungen ersetzen nüchterne Analysen und münden in die Parole: „Einfach mal die Klappe halten.“ Einen härteren Beleg dafür, dass dringende Diskussionen unerwünscht sind, könnte man nicht einmal erfinden.

De Maizière und die halbe Ministerriege haben mit ihren Einwürfen nach Köln nur das Muster geliefert, wie ernsthafte, zielführende Diskurse – auf der Basis gesicherter Fakten – frühzeitig erstickt und verhindert werden sollen. Es ist ein Muster, das Paradoxien und Fehlentwicklungen in der politischen Debatte übertünchen soll und das Politik noch unbeherrschbarer macht.

Politik und Medien leiden unter Debatten-Allergie
 

Immer wieder ist von der „vitalen, argumentierenden Zivilgesellschaft“ und dem „Kraft der Argumente“ die Rede. Tatsächlich aber ist die Gesellschaft sediert: Politik und Medien leiden unter Debatten-Allergie.

In einer unveröffentlichten Studie zum Thema „Mehrheitsoptionen für linke Politik“ präsentierte die Forschungsgruppe Wahlen Ende Oktober 2015 heikle Ergebnisse. Mehr als drei Viertel der Befragten (77 Prozent) sehen zwischen CDU und SPD „geringe oder keine“ inhaltlichen Unterschiede.“ Nur 16 Prozent der Befragten sehen „sehr starke“ oder „starke“ Unterschiede.

Das Besondere: Der Befund der wahrgenommenen Verschmelzung der beiden Volksparteien erstreckt sich auffallend gleichmäßig über alle Altersgruppen, weitgehend unabhängig von Bildungsstand und Parteipräferenz. Bereits vor sechs Jahren bahnte sich diese kontrastarme Programm-Melange an. 72 Prozent erkannten im Juli 2009 „geringe oder keine“ Unterschiede zwischen Sozial- und Christdemokraten.

Wo der Positions- und Meinungsstreit im diffusen Konsens versiegt, wo der Diskurs eingeschläfert wird und Programm-Alternativen verdunsten, stehen demokratische Grundprinzipien zur Disposition. Was sind die Motive der politischen und medialen Klasse, Streit nur zu simulieren und echte Diskurse zu vermeiden?

Angela Merkels Konzept der asymmetrischen Demobilisierung
 

Angela Merkel personifiziert mit ihrem Stil, Konfliktthemen zu entsaften, einzuhegen, zu verlagern oder auszuklammern, eine diskursfreie Politik. Nach außen regelt sie Sachzwänge, verschont die Bürgerinnen und Bürger vom Zwang, einfache Fakten zur Kenntnis zu nehmen, Haltung zu zeigen oder sich zu Positionen zu bekennen. Ihre Politik besteht in der kalkulierten Nicht-Inszenierung im administrativen Sachwalter-Stil. Argumente und Debatten gelten als Störfaktoren.

Sie ist Meisterin der kontrollierten Kommunikation, nicht nur in vermeintlich offenen Bürgerdialogen oder vor der staunenden Bundespressekonferenz. Nach innen erstickt sie in ähnlicher Konsequenz jeden Meinungsstreit. Selbst arglose Kritiker, die in homöopathischen Dosen Widerspruch anmelden oder andere Sichtweisen einbringen, werden kaltgestellt.

Überlagert wird dieses Führungskonzept von der Idee der asymmetrischen Demobilisierung. Konfliktthemen, mit der die politische Konkurrenz sich abzugrenzen sucht, werden – möglichst bereits im Vorfeld – durch vorsichtige Zustimmung, Annäherung oder ähnlich klingende Programm-Ideen „abgeräumt“ oder aufgesogen. Durch diese gezielte Eindruckserweckung sollen die letzten Kontraste zwischen den politischen Lagern, zumindest semantisch, verschwimmen.

Versäumnisse in Einwanderungspolitik vernichten Vertrauen
 

Das politische Ziel: Bestimmten Wählergruppen soll der Ansporn genommen werden, sich an Debatten zu beteiligen und oder gar einen Sinn in Wahlen zu sehen. Allzu viele Präzisierungen werden vermieden, Programmdebatten immer wieder verschoben und Parteitage auf das demokratische Minimum reduziert.

Nicht nur Spitzenpolitiker „bewundern“ die Methode Merkel. Die Kanzlerin verschont ihre Wähler auch von der Last der Mitwirkung am Gemeinwesen und steigert so ihre Popularität. Diese Grunderkenntnis treibt die Spirale der „diskussionslosen Geschlossenheit“ in allen Parteien weiter an.

Die versäumte Einwanderungs-Politik ist absehbar ein langsam wirkendes Vertrauens-Vernichtungsprogramm. Nicht nur mit Blick auf Tauglichkeit und „Fairness“. Sie treibt auch einen Keil zwischen die schon heute „Abgehängten“ und dem neuen Prekariat, von dem viele Unternehmer hoffen, die Lohngrenzen nach unten zu drücken. Die paradoxe Flüchtlingspolitik zwischen sonntäglichem Willkommen und werktäglicher Repression steht nur als „Platzhalter“ für weitere ungelöste Großthemen – von der notleidenden Bildung bis zur Chancengleichheit, von Verteilungsgerechtigkeit bis zur Mobilität.

Wenige Ausnahmefiguren
 

Es sind wenige Ausnahmefiguren, die den Aufstand gegen Merkel wagen. Von 25 Aufsteigern im Bundestag – 21 davon sind neu im Parlament – haben sich in den vergangenen Jahren nur zwei aus der Deckung getraut: Carsten Linnemann, Vorsitzender der Mittelstandsvereinigung, und Jens Spahn, Staatssekretär im Finanzministerium.

Die beiden präsentierten Mitte 2014 – da war Spahn noch ambitionierter Gesundheitspolitiker – Alternativen zur Rentenpolitik. Es waren wachsweiche Thesen für eine ausbalancierte Politik der Generationen-Gerechtigkeit, die sie in der gesamten Union bereits zu Ausnahmeerscheinungen machten. Doch damit war ihre Konfliktbereitschaft zur scheinbar allmächtigen Kanzlerin bereits ausgereizt.

Sie wollen nur „kontrolliert anecken, ohne sich in einer rituellen Fundamentalopposition zu vernörgeln“, schrieb Die Zeit. Das klingt nach freiwilliger Kapitulation aus Angst vor der persönlichen Entsorgung.

Ähnlich denken die Leisetreter des konservativen „Berliner Kreises“ in der CDU, aber auch die versprengt-verfeindeten Mitglieder sozialdemokratischer Subgruppen oder selbst führende Flügelfiguren der Grünen.

Fast niemand kannte Johanna Ueckermann, bevor sie es auf dem Dezember-Parteitag der SPD wagte, die Widersprüche des SPD-Vorsitzenden mit Zensuren zu belegen. Sigmar Gabriel begründete seine Abwesenheit auf dem jüngsten Juso-Kongress ernsthaft damit, dass er ARD und ZDF keine Vorlage für Berichte zu Streit in der SPD habe liefern wollen.

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