- Die unsichtbaren Lieblinge
Bundeskanzlerin Angela Merkel wirbt in Vietnam für eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit. Allein in Deutschland leben 100.000 Vietnamesen, viele von ihnen schon seit Jahrzehnten. Wie geht es denen heute eigentlich? Eine Reportage
Hanoi liegt nur eine halbe Stunde mit der Tram vom Leipziger Zentrum entfernt. Nach charakterlosen Altbauvierteln muss man nur noch an Businessparks und Großmärkten vorbeilaufen und in eine unscheinbare Industrieödnis einbiegen. Dort, wo einige vietnamesische Schilder an Steinfassaden angebracht sind, beginnt eine eigene Welt. In Fabrikhallen schneiden vietnamesische Friseure die dichten Haare ihrer asiatischen Kundschaft, Reisebüros bieten Flüge nach Saigon an, vietnamesische Restaurants kochen Pho-Suppe. Daneben steht in unscheinbarem Grau das Dong Xuan Center, in dessen Inneren sich eine Welt aus geblümten Nachthemden, Plüschkatzen im Körbchen, Spitzentischdecken, Leopardenpullovern und Frotteehandtüchern mit erotischen Motiven eröffnet. In Lebensmittelgeschäften ziehen Verkäufer riesige Karpfen aus grün gefliesten Fischbecken. Andere braten sich auf den Gängen exotische Früchte in Fett oder sitzen auf Kartons und spielen Brettspiele.
Es riecht, fühlt und schmeckt: fremd. Wenn das hier die Welt ist, die sich Vietnamesen für sich selbst geschaffen haben, wie kommen sie dann jenseits dessen klar? Und sind die Lieblings-Migranten der Deutschen tatsächlich so gut integriert wie es uns die neuerliche Integrationsdebatte Glauben machen wollte? In seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ behauptet Thilo Sarrazin: „Inder und Vietnamesen wirken in Deutschland mindestens so fremdartig wie Türken oder Araber und haben doch viel größere Erfolge in unserer Gesellschaft vorzuweisen.“ Aber stimmt das wirklich? Und wenn ja: Was ist das für ein Erfolg, woher rührt er – und warum tauchen Vietnamesen dann in öffentlichen Debatten so selten mit eigener Stimme auf?
Um zu erfahren, warum die Vietnamesen zu den Lieblings-Migranten der Deutschen wurden, muss man wissen, was den etwa hunderttausend – mit und ohne Pass in Deutschland lebenden – Vietnamesen einen so guten Ruf eingebracht hat. Allen voran stehen die guten schulischen Leistungen der vietnamesischen Kinder. Verschiedene Bildungsstudien haben gezeigt, dass vietnamesische Schüler prozentual häufiger das Gymnasium besuchen als andere Migrantengruppen – und als Deutsche. Der Erziehungswissenschaftler Olaf Beuchling hat aus Zahlen des Statistischen Bundesamtes errechnet, dass bundesweit 59 Prozent der vietnamesisch-stämmigen Kinder ein Gymnasium besuchen, bei deutschen sind es nur 43 Prozent.
Olaf Beuchling sitzt in einem vietnamesischen Restaurant in der Leipziger Innenstadt, vor sich eine Schale Glasnudelsalat, hinter sich einen anstrengenden Tag an der hiesigen Universität. Der Hamburger ist hier Vertretungsprofessor an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät. Sein Fachgebiet: Vergleichende Bildungsforschung. Schon seit seiner Promotion untersucht Beuchling vietnamesische Bildungserfolge in Deutschland. Er sagt, sie seien keine reinen Integrationsanstrengungen oder -erfolge, die sich auf Deutschland zurückführen lassen. Bildung genieße in Vietnam dank der Lehren des Konfuzius seit Jahrhunderten einen hohen Stellenwert. „Der Konfuzianismus begünstigte die Herausbildung eines meritokratischen Bildungssystems, in dem das Bewusstsein vorherrscht, dass jeder unabhängig von seinem sozialen Status gesellschaftlich vorankommen kann.“
Dabei ging es im Konfuzianismus weniger um kritisches Denken als um das Auswendiglernen von Texten. Bei Konfuzius heißt es: „Lernen ohne zu denken ist sinnlos; aber denken ohne zu lernen ist gefährlich.“ Bis heute hat sich unter Vietnamesen an der Vorstellung wenig geändert, dass diszipliniertes Lernen die Voraussetzung für gesellschaftlichen Aufstieg bedeutet. Allerdings scheitert das Ideal der Leistungsgerechtigkeit im Heimatland Vietnam an der wirtschaftlichen Realität. Hier dagegen gibt es kostenlose Schulen – und damit einen Einstieg zum Aufstieg.
Lesen Sie auf der zweiten Seite, was Vietnamesen in Ost- und Westdeutschland unterscheidet.
„Das Bildungsniveau zwischen vietnamesischen und deutschen Schülern gleicht sich aber besonders in den westdeutschen Bundesländern schon langsam wieder an“, sagt Beuchling. „Der Assimilationsprozess ist dort schon weiter fortgeschritten als im Osten.“ In Bundesländern wie Sachsen sticht die Quote der vietnamesischen Gymnasiasten besonders hervor: Drei Viertel von ihnen wollen dort Abitur machen. Die Gründe dafür sind zwar noch nicht wissenschaftlich erforscht. Ein Argument drängt sich aber auf: Die unterschiedlichen Migrationsgeschichten von Vietnamesen in Ost und West.
In die alte Bundesrepublik und Westberlin gelangten Vietnamesen vor allem in den siebziger Jahren als so genannte Boatpeople oder Kontingentflüchtlinge. Nachdem 1975 die siegreichen kommunistischen Truppen in Vietnam die Macht übernahmen, flüchteten 1,5 Millionen Südvietnamesen aus Angst vor Vergeltung und Repressalien auf See. Ihre Boote waren meist überfüllt und nicht hochseetauglich, kenterten während des Monsuns oder wurden von Piraten verfolgt. Hunderttausende starben. An ihrer Rettung beteiligten sich auch deutsche Schiffe, das berühmteste von ihnen ist der Frachter Cap Anamur des Menschenrechtlers Rüdiger Neudeck. Insgesamt 40 000 Südvietnamesen fanden dauerhaftes Asyl und wurden über das ganze Bundesgebiet verteilt und mit Integrationsprogrammen und Sprachkursen auf ihr neues Leben vorbereitet.
Ganz anders dagegen sieht die Migrationsgeschichte der über 60 000 Nordvietnamesen aus, die als Vertragsarbeiter in die DDR geschickt wurden. Ihr Aufenthalt war von Anfang an zeitlich auf vier bis sieben Jahre begrenzt. Sie sollten vorwiegend in der Textil-, Bau- und Metallindustrie mithelfen und danach in ihr Heimatland zurückkehren. Private Beziehungen zu Deutschen waren unerwünscht und wurden hart bestraft. Mit dem Fall der Mauer begann für die Vertragsarbeiter eine schwierige Zeit: Sie verloren ihren rechtlichen Aufenthaltsstatus und sollten großflächig wieder in ihre Heimat abgeschoben werden. Sie verloren ihre Jobs durch die Schließungen der DDR-Betriebe. Und sie verloren die Sicherheit als Anfang der Neunziger Jahre in Hoyerswerda und Rostock regelrechte Pogrome auf Ausländerheime verübt worden.
Bis heute verläuft zwischen den Migrantengruppen aus Nord- und Südvietnam eine unüberwindbare Mauer, viel stärker und höher als die zwischen Ost- und Westdeutschen. Sie kommen aus unterschiedlichen Systemen, gegensätzlichen Ideologien, fremden Welten. Wo Nordvietnamesen noch regimetreu ihrem kommunistischen Heimatland huldigen, machen Südvietnamesen eher gegen dessen Unterdrückung mobil.
Das wird an einer Szene deutlich, die man beim diesjährigen „Tet“-Fest in Leipzig beobachten konnte. Tet ist das wichtigste Fest der Vietnamesen und läutet das neue Jahr nach dem Mondkalender ein. In einem alternativen Theater haben sich die Leipziger Vietnamesen für diesen besonderen Abend eingemietet, um offiziell zu feiern. Im Eingangsbereich stehen ältere Männer und rauchen, drinnen verkaufen Frauen Süßigkeiten, Suppe und Neujahrskuchen aus klebrigem Reis. Noch weiter innen, hinter schwarzen Vorhängen, sitzen in endlosen Reihen Vietnamesen und unterhalten sich über Bankreihen hinweg. Durch die Gänge sausen spielende Kinder oder schweben Frauen in traditionellen strassbesetzten Blusenkleidern und verteilen Sekt. Auf der Bühne stellen sich die Sänger eines Chors auf. Sie wiegen sich zu den getragenen Klängen eingespielter Synthesizer-Musik. Dann schnellt ein Mann in grüner Uniform nach vorn und schwenkt wild die rote Fahne mit dem gelben Stern darauf – die Flagge der Sozialistischen Volksrepublik. Weiße Tänzerinnen umkreisen ihn wie zarte Vögelchen und verharren schließlich in einer Pose der Anbetung auf den Knien vor dem Fahnenträger. Sozialistischer Kitsch – auf einer südvietnamesischen Veranstaltung undenkbar.
Lesen Sie auf der dritten Seite, wie sich die Vietnamesen wirtschaftlich integrieren.
Zu den Kontingentflüchtlingen und Vertragsarbeitern von damals, kommt heute noch eine unübersichtlich große Zahl von nachgezogenen Familienmitgliedern, Asylbewerbern, Studenten und illegalen Einwanderern. Eine bunt gemischte Gruppe also, die in Integrationsdebatten keine einheitliche Stimme haben kann – und will. Das erklärt aber noch nicht, warum es überhaupt keine Stimmen gibt, die auf Probleme in vietnamesischen Gemeinschaften aufmerksam machen. Warum überhaupt nichts nach außen dringt.
Um diese Frage zu beantworten, muss man wieder raus aus der Stadt – hinein in die vietnamesische Kolonie mit ihren Markthallen und Kulturzentren. Dort sitzt der „Verein der Vietnamesen in Leipzig“. Er bildet den Kern des Vietnamesischen Kulturlebens. In den holzvertäfelten Vereinsräumen stehen noch die letzten Vokabeln vom Vietnamesisch-Sprachkurs an der Tafel. Über den Schulbänken hängen metallisch bunte Girlanden, an den Wänden bezeugen Fotos die öffentlichen Auftritte der Tanz- und Sportgruppen. Nguyen Long trägt seine Haare sorgfältig gescheitelt, vor ihm dampft eine kleine Schale Tee. Er ist seit über zwanzig Jahren in Leipzig und engagiert sich im Verein dafür, dass sich seine Landsleute in Deutschland gut einfinden. „Wir wollen gute Nachbarn sein“, sagt Nguyen, „wir wollen hier gute Arbeit machen und keinen Stress haben.“
Von den etwa 3000 gemeldeten Vietnamesen ist jeder Fünfte in Leipzig selbstständig – das bedeutet, dass fast jede Familie hier ihren eigenen Gemüse-, Textilwaren- oder Blumenladen führt oder einen Imbiss besitzt. Dadurch tauchen Vietnamesen zwar im Alltag von Deutschen häufig auf, sie bleiben aber fast ausschließlich durch eine Ladentheke von ihnen getrennt. In einer Studie aus dem Jahr 2004 stellt die Soziologin Anja Steinbach fest, dass deswegen Deutsche den Vietnamesen eine große soziale Distanz entgegenbringen. Weil sie sich fast ausschließlich in die Selbständigkeit zurückgezogen hätten, tauchen Vietnamesen selten auf dem regulären Arbeitsmarkt auf. In Behörden, Werbeagenturen oder Bankfilialen sind sie so gut wie nie zu sehen.
Wie sich Vietnamesen hier in Deutschland fühlen, bleibt vielen Deutschen deshalb verborgen. Und es gibt auch keine anderen Quellen, die sie für solche Informationen anzapfen könnten. Auf die Frage, warum Vietnamesen so wenig über sich preisgeben, zieht Nguyen Long die Augenbrauen hoch, zuckt mit den Schultern und lässt sie langsam wieder sinken. „Wir sind hierher gekommen“, sagt er, „und wir akzeptieren das Leben so wie es ist. Wir haben kein Interesse daran, unsere Anliegen zu kommunizieren.“ Noch nie habe man in der Gemeinde darüber nachgedacht, über die eigenen Probleme öffentlich zu debattieren. „Das ist doch nicht nötig“, sagt Nguyen.
Von den Migrantenvereinen ist also nicht viel zu erwarten, wenn es um öffentliche Wahrnehmung geht. Aber auch in der Kunst bleibt jene Gruppe erstaunlich ruhig, die allein durch ihre Migrationsgeschichte voll von Traumata und Schicksalsschlägen steckten dürfte. Im vergangenen Jahr fand in Berlin das „Dong Xuan Festival“ statt – eine mehrtägige Veranstaltung mit vietnamesischem Ballett, Filmen, Diskussionen, Performances. Veranstaltet wurde es vom Theater „Hebbel am Ufer“ und ein Großteil der Mitwirkenden war aus Amerika oder Frankreich eingeflogen worden. Da zeigte der vietnamesisch-amerikanische Filmemacher in zerhackten, verstockten Low-Budget-Videos die Alpträume seiner Bootsflucht übersetzt in homoerotische Pornosequenzen. Da hinterfragt die französisch-vietnamesische Choreografin Ea Sola tänzerisch das Diktat des Konsums. Und da lässt der dänisch-vietnamesische Künstler Danh Vo seinen Vater einen Abschiedsbrief abmalen, der zwar die lateinischen Buchstaben beherrscht, nicht aber den Sinn des Geschriebenen versteht. Im Brief stehen die letzten Worte eines christlichen Missionars, der im 19. Jahrhundert das Alphabet nach Vietnam brachte – und hingerichtet wurde.
Lesen Sie auf der letzten Seite, wie Vietnamesen auf Diskriminierungen reagieren.
Wo aber bleiben die deutsch-vietnamesischen Stellungnahmen? Eine der wenigen, die sich äußert, ist die Schriftstellerin Pham Thi Hoai. Ihre Bücher sind in Vietnam verboten, seit sieben Jahren darf sie nicht mehr ins Land einreisen. In Berlin hat sie sich als Dolmetscherin und Journalistin niedergelassen und von dort über viele Jahre die regimekritische Seite talawas.org geleitet. Wenn Pham Thi Hoai spricht, ist sie wie eine Bogenschützin: Ihre Worte sind angespitzte Pfeile, die sie mit großer Ruhe abfeuert. „Die Vietnamesen sind seit der Sarazzin-Debatte zwar ein bisschen ins Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit gerückt“, sagt sie, „aber nicht, weil sie an uns interessiert ist, sondern weil wir keine Kopftücher tragen und besser in der Schule sind.“ Es gebe kein ernsthaftes Interesse von Deutschen an Vietnamesen, auch deshalb, weil es zu wenig reale Vietnam-Vergangenheit gäbe. Frankreich zum Beispiel teilt mit dem Land gemeinsame Geschichte seit den Anfängen des 19. Jahrhunderts bis heute, die BRD kann sich nur weniger Monate Hilfseinsatz für die Bootsflüchtlinge erinnern. Außerdem sei die vietnamesische Gemeinschaft hier zahlenmäßig relativ klein. In den USA leben beispielsweise etwa 1,6 Millionen vietnamesisch-stämmige Amerikaner, in Deutschland sind gerade mal 85 000 Vietnamesen offiziell gemeldet.
Die deutsche Ignoranz gegenüber den Vietnamesen erklärt aber immer noch nicht, warum die Gruppe sich selbst totschweigt. Warum sie sich nicht echauffiert, wenn sie diskriminiert oder angegriffen wird. Da sagt Pham Thi Hoai etwas Überraschendes: „Wenn so etwas passiert, dann gibt es fast schon erschreckend viele deutsche Vereine und Organisation, die sich sofort der Sache annehmen.“ Die seien so gut organisiert und finanziell ausgestattet, dass die Vietnamesen sich lieber in deren Strukturen bewegen als eigene aufzubauen. Überhaupt sei es die deutsche Gründlichkeit, die es für die Vietnamesen überflüssig erscheinen lässt, sich selbst zu engagieren. Alles ist so genau geregelt, dass es kaum einen Grund gibt, sich dagegen aufzubäumen. „Es ist einfacher, sich in eine Ordnung einzufügen als in ein Chaos.“
Im Leipziger Hanoi sind die Händler unruhig. Sie wurden in den vergangenen Wochen häufig von Polizeirazzien überrascht. Ihr Kulturzentrum wurde wegen Brandschutzmaßnahmen nicht mehr für Festivals zugelassen – es hingen zu viele Fahnen und Tücher an den Wänden. Friseure mussten schließen, weil sie keine Lizenz besaßen. Es ist, als habe sich die vietnamesische Gemeinschaft ein Stück Unordnung bewahrt, ihre eigene „ethnische Kolonie“ mit eigenen Regeln erhalten. Der Ausdruck stammt von dem Soziologen Friedrich Heckmann und meint all die Strukturen, die Migranten in einem Land ausbilden, um die Verpflanzung in die Fremde zu überstehen: Zeitungen in der Landessprache, Läden mit heimischen Produkten, religiöse Stätten, Sportclubs. Wenn so eine ethnische Kolonie freiwillig gebildet werde, sei das positiv für die gesamte Integration der Gruppe, heißt es bei Heckmann. Denn die Nähe zur eigenen Kultur ist die Vorbedingung und damit der erste Schritt zur allmählichen Eingliederung. Nur weil etwas wie Parallelwelt aussieht, kann es also auch das Gegenteil sein.
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