- „Die Politik trägt Schuld“
Gut 3.500 Mädchen und Frauen werden in Deutschland jährlich zur Ehe gezwungen. Experten fürchten einen Anstieg der Zahlen. Dafür ist zu großen Teilen die deutsche Politik verantwortlich, meint die Sozialwissenschaftlerin Gundula Müller
Arrangierte Ehen sind in der Türkei sowie bei türkischen Migranten in Deutschland die Regel. Auf 80 Prozent schätzt Gundula Müller den Anteil. Liebesheiraten hätten sich indes bislang nur in den gebildeten Schichten etabliert. In ihrer frisch erschienen Studie „Arrangement und Zwang. Zur Reproduktion patriarchaler Strukturen durch türkische Migrantinnen in Deutschland“ untersuchte Müller, inwiefern sich zwangsverheiratete Frauen als „sprechende Subjekte“ entwickeln können. Dazu interviewte sie sechs türkische Migrantinnen im Alter zwischen 17 und 42 Jahren, die sich von ihrem Mann scheiden ließen oder sich in einem Trennungsprozess befanden.
Frau Müller, warum lebt die türkische Tradition der
arrangierten- oder Zwangsehe in Deutschland fort?
Dafür ist unter anderem die deutsche Politik der 60er Jahre
verantwortlich.
Inwiefern?
Die Gastarbeiter wurden zunächst in Baracken untergebracht. Als
klar war, dass sie bleiben, wurde nicht reagiert – ein fataler
Fehler. Die Gastarbeiter lebten weiter abgeschottet von der
deutschen Gesellschaft. Es kam zur Ghettoisierung. Langsam
entwickelte sich eine Parallelgesellschaft.
Heute scheinen sich alle damit abgefunden zu haben. Es heißt, die Migranten wollen sich nicht integrieren. Ich sehe aber auch Deutschland in der Verantwortung. Ich möchte mal behaupten, dass es der deutschen Mehrheitsbevölkerung und Politik gelungen ist, die Situation der türkischen Einwanderer über 30 Jahre hinweg effektiv zu ignorieren. Die Entfremdung voneinander nimmt stetig zu. Mittlerweile sind türkische Migranten nicht mehr auf unsere deutschen Strukturen angewiesen. Sie haben eigene Strukturen etabliert – das fängt beim Bäcker an und hört beim Arzt oder Anwalt auf. Die türkische Gemeinschaft ist nicht mehr auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft angewiesen. Dies begünstigt das Fortbestehen der Tradition der arrangierten- beziehungsweise Zwangsheirat.
Sie haben sechs türkische Frauen nach ihrer Ehebiografie
befragt. Zwei von ihnen, Jale und Ulcay, haben Sie in Ihrem Buch
näher beschrieben. Wie liefen die Gespräche ab?
Überraschenderweise haben die Frauen sehr offen gesprochen, auch
über ihr Sexualleben. Die Gespräche dauerten etwa zwei Stunden und
waren auf den offenen Dialog ausgerichtet. Wir haben uns in einem
Frauenbüro oder der Schutzwohnung verabredet.
Welche Parallelen konnten Sie in den Ehebiografien der
sechs Frauen feststellen?
Sie sagten alle, dass sie zu jung gewesen seinen, um zu heiraten.
Sie waren zwischen 14 bis 18 Jahre alt.
14 Jahre? Das gesetzliche Mindestheiratsalter in der
Türkei ist doch 15.
Das stimmt, 15 Jahre bei den Mädchen und 17 Jahre bei den Jungen.
Und wenn sie unmittelbar nach der Hochzeit nach Deutschland
auswandern, wird die Heirat hier auch anerkannt. Ulcay war jedoch
zum Zeitpunkt der standesamtlichen Eheschließung erst 14. Die
Familie hatte ihre Geburtsurkunde gefälscht.
Ansonsten sagten die Frauen, sie seien per Arrangement verheiratet worden, zumeist mit einem Bekannten der Brüder, einem weitläufigen Verwandten oder einem Cousin zweiten Grades. Im Laufe der Gespräche stellte sich jedoch heraus, dass es sich zumeist doch um Zwangsheiraten handelte.
Wo liegt der Unterschied?
Eine arrangierte Ehe zeichnet sich durch einen Anbahnungsprozess
aus, der über mehrere Monate hinweg verläuft und sich in
verschiedene Phasen gliedert – die Brautschau, die familiären
Vorstellungsbesuche, der Heiratsantrag, die Heiratsverhandlungen
und schließlich die Heirat.
Theoretisch ist der Verlauf ergebnisoffen. In der Praxis ist es jedoch so, dass die Frau dem Arrangement kaum mehr widersprechen kann, sobald die familiären Vorstellungsbesuche stattfinden und der Mann von der Heiratskandidatin überzeugt ist.
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Im Unterschied zum Arrangement vollzieht sich eine Zwangsehe sehr schnell. Mann und Frau sind noch sehr jung und meist verwandt. Die Familien stehen oft in einer materiellen oder finanziellen Abhängigkeit zueinander. Oftmals sehen sich Mann und Frau am Tag der Hochzeit zum ersten Mal. Das war bei Jale so.
Was sind das für Familien, die ihre Kinder
zwangsverheiraten? Sind sie streng religiös, sehr
konservativ?
In diesen Familien spielt das Ehrkonzept, das sich aus den Werten
Ansehen, Respekt und Ehre zusammensetzt, eine wichtige Rolle – auch
in der Migrationssituation. Die Familie kann bereits seit drei
Generationen in Deutschland leben und ihre Kinder trotzdem
zwangsverheiraten. Das hängt davon ab, wie patriarchalisch sie
ist.
Seite 2: Warum türkische Frauen das patriarchale System unterstützen
Inwiefern lassen sich Zwangsheiraten religiös begründen?
Der Koran sieht eine Zwangsehe nicht vor.
Das ist richtig. Zwangsheiraten lassen sich nicht islamisch
begründen. Im Koran gibt es jedoch die Sure 24, Vers 32, in der es
heißt, die Ledigen sollen verheiratet werden. Da die
Jungfräulichkeit leider – über alle Schichten hinweg – eine
außerordentliche Rolle spielt, wollen viele Väter ihre Töchter früh
verheiraten, weil sie die Jungfräulichkeit mit zunehmendem Alter
bedroht sehen. Und dann verweisen sie auf die Sure 24, Vers 32. Sie
missbrauchen den Koran, um Zwangsheiraten – im Namen Allahs – zu
rechtfertigen.
Welche Rolle spielt Gewalt in türkischen
Zwangsehen?
Die Gewaltbelastung in Ehen hängt vornehmlich von patriarchalen
Familienstrukturen ab. Sie spielt nicht nur in Zwangsehen eine
große Rolle, sondern kann genauso in den sogenannten
selbstorganisierten Ehen vorkommen. Bei den sechs Frauen, die ich
interviewte, war es ein Thema, wobei die Gewalttaten
durchschnittlich nach drei Jahren begonnen haben.
Warum „erst“ nach drei Jahren?
Die Gewalt setzte ein, sobald sich die Frauen ihrem Mann
wiedersetzt hat.
Bei Jale begann das aber schon früher. Sie hat sich von Beginn an nicht den Aufforderungen ihres Mannes untergeordnet, auch nicht im Hinblick auf die traditionellen Tätigkeiten einer Hausfrau. Auch Ulcay erhielt die erste Ohrfeige bereits sechs Monate nach der Hochzeit. Sie wollte nicht die Mutter ihres Mannes besuchen.
Nach drei Jahren Gewaltszenarien ist Jale geflohen. Was
war der Knackpunkt?
Sie ist geflohen als sie erfuhr, dass sie schwanger ist. Sie wollte
in diese Gewaltbeziehung nicht auch noch ein Kind bringen. Sie ist
zur nächsten Polizeistation geflüchtet und fand in einem Frauenhaus
Unterschlupf. Die Betreuerinnen vermittelten sie nach einem halben
Jahr nach Süddeutschland, weil sie die geografische Nähe zu ihrer
Heimat für zu riskant hielten. Diese Angst war berechtigt: Jales
Familie machte sie in Süddeutschland ausfindig und schlug sie
zweimal brutal zusammen. Die Gefahr des Mordes besteht noch
heute.
Von wem wurde sie verprügelt?
Bei dem ersten Überfall: von ihrem Bruder, ihrem Ehemann und ihrer
Mutter. Sie trug massive Verletzungen davon. Ihre Blase ist
geplatzt, weil man auf ihrem Bauch herumgesprungen ist – auch ihre
Mutter. Die Täter wurden zu einer achtmonatigen Bewährungsstrafe
verurteilt. Im Zuge dessen konnte Jale auch die Scheidung
durchsetzen. Ein Jahr später wurde sie erneut überfallen, von ihrem
Bruder und fünf weiteren Männern. Das zeigt, dass die
Loyalitätsbindungen zur Herkunftsfamilie stärker ausgeprägt sind
als die zur angeheirateten Familie.
Weil es die Aufgabe des Bruders war, die Ehre der
Familie wieder herzustellen?
Genau. Der Bruder als ältestes männliches Familienoberhaupt – Jales
Vater war bereits verstorben – ist dafür verantwortlich, die
verletzte Ehre, die seine Schwester über die Familie gebracht hat,
zu sühnen. Das ist auf die patriarchalen Familienstrukturen
zurückzuführen, die sich durch alters- und geschlechtsspezifische
Unterordnungsmuster auszeichnen: Alle Männer dominieren alle Frauen
und das jeweils nach Alter gestaffelt. Eine Mutter hat vielleicht
noch mehr Macht als ihr dreijähriger Sohn. Aber dieses Verhältnis
kehrt sich um, sobald der Junge in seiner Jugendphase ist.
Warum hat Jales Mutter nicht zu ihr gestanden, sondern
diese patriarchalen Machtstrukturen unterstützt?
Es handelt sich um eine Art Teufelskreis. Frauen sind für die Ehre
der Familien verantwortlich, wobei sich deren Ehre vornehmlich auf
die Sexualität bezieht. Im Gegenzug dazu bezieht sich die Ehre des
Mannes auf das Ansehen der Familie in der Öffentlichkeit. Es ist
schwierig, aus diesen Strukturen auszubrechen. Und so leisten auch
Frauen einen Beitrag dazu, dass sich das System fortsetzt.
Frauen können ihre Macht in den patriarchalen Strukturen nur dann ausweiten, wenn sie Söhne zur Welt bringen. Das bringt ihnen Ansehen. Später ist es mit ihre Aufgabe, eine Frau für den Sohn auszuwählen. Die patrilokale Wohnsitzregelung sieht vor, dass die junge Ehefrau in die Familie des Mannes einzieht. Davon profitiert wiederum die Mutter, weil die Schwiegertochter, die neue Haushaltskraft, ihr unterstellt ist. Sprich: Erst im Alter hat eine Frau die Chance, innerhalb der Familienhierarchie aufzusteigen.
Seite 3: „Türkisch muss gleichbedeutend zu Englisch und Deutsch unterrichtet werden“
Für die Männer dürfte es aber ähnlich schwierig sein,
aus diesen Strukturen auszubrechen…
Auf jeden Fall. Ihre Aufgabe ist es, das Ehrkonzept zu schützen. So
wurden sie sozialisiert. Der Druck, der auf ihnen lastet, ist nicht
zu unterschätzen. Die archaischen Männlichkeitsideale sind nur sehr
schwer mit den deutschen Geschlechterrollenbildern vereinbar.
Außerdem darf man nicht vergessen, dass auch sie oft gegen ihren
Willen verheiratet werden, auch wenn sie mehr Mitsprache haben als
die Frau.
Warum ist es Jale, im Gegensatz zu Ulcay, gelungen, sich
von ihrer Familie zu lösen? Weil sie in Deutschland geboren
wurde?
Da sehe ich einen deutlichen Zusammenhang. Jale ist in Deutschland
geboren und ihr Mann ist nach der Hochzeit aus der Türkei zu ihr
nach Norddeutschland gezogen. Sie ist auf die Realschule gegangen
und hat nach der Ehe mit ihrem Mann den Realschulabschluss
nachgeholt. Bei Ulcay war es umgekehrt: Sie ist eine „typische
Importbraut“ (Kelek 2005: 171).
Was kann und muss die deutsche Politik tun, um den
Zwangsehen entgegenzuwirken?
Der Paragraf 237 StGB vom Juli 2011, nach dem die Zwangsheirat
sowie deren Androhung als gesonderter Strafbestand geahndet werden
kann, war ein wichtiger Schritt.
Aber wie das Beispiel Jale zeigt, kann das deutsche
Gesetz leicht umgangen werden: Jale wurde einfach in der Türkei
zwangsverheiratet.
Das stimmt. Wir müssen die Souveränität der Türkei berücksichtigen.
In Zusammenhang mit EU-Beitrittsverhandlungen wäre es wichtig,
Datenabgleiche durchzuführen – damit etwa so etwas wie bei Ulcay,
die ja erst 14 war, nicht passieren kann. Weil sie älter gemacht
wurde, konnte sie in Deutschland die Schulpflicht umgehen.
Nachdem Familienministerin Kristina Schröder im November
2011 eine Studie zur Zwangsverheiratung vorgestellt hatte, kündigte
sie an, ein Frauenhilfetelefon einrichten zu wollen. Eine
zielführende Maßnahme?
Ich denke schon. Viele türkische Frauen besitzen Handys, selbst
wenn sie abgeschottet leben. Es ist aber nicht ausreichend. Wir
brauchen aber auch Nachsorgen im Anschluss an die
Integrationskurse. Nur so kann das erlernte Deutsch auch kultiviert
werden.
Die Bildung gilt als deutsches Allheilmittel. Ist das in
diesem Fall nicht zu kurz gedacht?
Bildung ist natürlich wichtig, es gibt aber nur wenig türkische
Migranten, die bildungserfolgreich sind, vornehmlich sind es
Frauen. Deshalb müssen wir ein Augenmerk auf Integrationskonzepte
legen, welche die Rolle der Frau über andere Wege stärken.
Beispielsweise?
Ich denke an ministeriale Aufklärungskampagnen, die die
türkischsprachigen Medien einbeziehen. Fernsehen etwa spielt in
türkischen Familien eine große Rolle. Aufklärungsspots, die auf
Frauennetzwerke verweisen und Hilfe-Nummer einblenden, wären ein
Weg. Außerdem müssen wir auf Mund zu Mund-Propaganda setzen:
Türkische Frauen verständigen sich untereinander, selbst über das
Fenster hinweg mit der Nachbarswohnung, wenn sie eingesperrt sind.
Wir müssen die Frauen aus den eigenen vier Wänden holen. Nur so
können wir Impulse setzen. Deswegen war auch die Einführung des
Betreuungsgeldes ein ganz großer Fehler. Außerdem sollte die
türkische Sprache im gesamtdeutschen Raum eine größere Bedeutung
erhalten.
Inwiefern?
Wir haben hier einen großen Anteil türkischsprachiger Menschen. In
einer interkulturellen Gesellschaft sollten sich die Kulturen
gegenseitig befruchten. Deshalb würde ich mir wünschen, dass
Türkisch gleichbedeutend zu Englisch und Deutsch unterrichtet und
gesprochen wird.
Frau Müller, vielen Dank für das Gespräch!
Gundula Müller ist akademische Mitarbeiterin an der pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Sie hat Soziologie und Geschlechterforschung studiert. In ihrer Studie „Arrangement und Zwang. Zur Reproduktion patriarchaler Strukturen durch türkische Migrantinnen in Deutschland“ (2013; Bielefeld: transcript Verlag) untersucht sie die Subjektbildungsprozesse türkischer Migrantinnen, die per Arrangement verheiratet wurden.
Das Interview führte Jana Illhardt
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