- Die neue C-Partei
Katrin Göring Eckardt steht weniger für einen Rechtsruck der Grünen als vielmehr für eine Veränderung gesellschaftlicher Werte. Dieter Rulff über kirchliche Wurzeln der Grünen
Als die Abgeordnete Katrin Göring-Eckardt als Siegerin aus der Urwahl der Grünen hervorging, hatte augenscheinlich noch nicht einmal die Führung der Partei eine annähernde Vorstellung davon gehabt, was ihre Basis so umtrieb. Ihre Wahrnehmung der Partei, wie auch die der meisten professionellen Beobachter, war geprägt von zwei Strömungen: Darin manifestieren sich basisorientierter Beginn und machtorientierter Status quo, sozialpolitisches Links und marktpolitisches Rechts – und deren jeweilige Stärke, Rückschlüsse auf Wahlkampfführung und Bündnisoptionen zulassen.
Nun ist dieses Bild schon mehr als zwei Jahrzehnte alt und spiegelt eher die Selbstverortung und die taktischen Vorstellungen einer tonangebenden mittleren Funktionärsschicht wider, die ihre Basis nicht mehr abbildet. Gleichwohl liefert es nach wie vor den Stoff, aus dem die Entwicklungsgeschichten und Titelstorys der Grünen gewebt werden. Und der wurde auch nach der Wahl Göring-Eckardts wieder strapaziert, als den Grünen (zum wievielten Mal eigentlich?) attestiert wurde, nunmehr etabliert, bürgerlich, realpolitisch geworden zu seien. „Wie schwarz sind die Grünen?“ spitzte Spiegel Online die allgemeine Orientierungslosigkeit zu, um mit Kretschmann (seit Anfang der 90er Jahre schwarz-grün-verdächtig) und Pizza-Connection (wird seit Mitte der neunziger Jahre serviert) die immergrünen Antworten zu geben.
Weitgehend unbemerkt aber womöglich erkenntnisträchtiger war da schon die Frage, die bereits kurz vor der Urwahl die Zeitung der evangelischen-lutherischen Kirche Sachsen „Der Sonntag“ aufwarf: „Ist die Kirche Grün?“ betitelte sie einen Artikel über die politische Ausrichtung der Glaubensgemeinschaft. Bebildert war er passenderweise mit einer Aufnahme von der Dresdner EKD-Synode 2011, auf der, neben der Ratsvorsitzenden Göring-Eckardt, der sächsische Landesbischof Jochen Bohl zu sehen ist – in seinen früheren Jahren ein Führungsmann bei den saarländischen Grünen. Man muss nicht gleich so weit gehen wie der Pfarrer der lippischen Landeskirche Hans-Immanuel Herbers, der die Antwort auf die titelgebende Frage auf die knappe Formel brachte: „Die evangelische Kirche ist die kirchliche Organisationsform von Rot-Grün“. Man kann aber in Göring-Eckardt die Personifizierung einer gesellschaftlichen Veränderung sehen, die sehr viel tiefer geht, als die zeitweise Spitzenkandidatur für ein Amt, das sie sowieso nicht einnehmen wird.
Natürlich formiert sich in der evangelischen Kirche nicht die Fünfte Kolonne von Rot-Grün. Auch wäre es nicht angemessen, die größere Präsenz grüner Politiker hier wie auch im Zentralkomitee der Katholiken als das Ergebnis eines Marsches durch die religiösen Institutionen zu interpretieren. Vielmehr hat sich, seit Ende der achtziger Jahre der damalige Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Höffner im Streit um die Abtreibung erklärte, das Tischtuch mit den Grünen sei „zerschnitten“ und diese Partei nicht wählbar, das Verhältnis zwischen den Grünen und den Kirchen spürbar angenähert.
Zu dieser Annäherung hat der konservative Gleichklang in bioethischen Entscheidungen beigetragen, in den die Grünen unter Inkaufnahme erheblicher Wertungswidersprüche eingestimmt sind. Noch prägender als die programmatischen Schnittmengen war die habituelle Anpassung. Grüne lassen es sich mittlerweile zur biografischen Zierde gereichen, auf kindliche Prägungen durch die Kirche zu verweisen, auch wenn sie diese zwischenzeitlich als Pression erinnert haben. So plaudert Claudia Roth ebenso gerne von der Faszination katholischer Riten, wie Renate Künast auf ihr protestantisches Wertefundament baut. Die Grünen sind reich an Saulus-Paulus-Erzählungen und erscheinen gerade darum zu einer Kirche zu passen, die ihre eigenen moralischen Standards häufig genug unterläuft. Dass die grüne Ex-Bundesgesundheitsministerin und wieder gläubige Katholikin Andrea Fischer mit der Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche betraut wurde, hat mehr zu dessen vorläufiger Beilegung beigetragen, als alle Bekundungen der Bischöfe.
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Neben dem hohen Bildungsstand und dem hohen Einkommen ihrer Anhängerschaft ist es vor allem das kirchliche Engagement, das als Ausweis bürgerlicher Etabliertheit der Grünen genommen wird. Zwar sind auch Sozialdemokraten in den Kirchen engagiert, doch waren ihr eigentliches gesellschaftliches Vorfeld immer schon die Gewerkschaften. In der Arbeitsgesellschaft der Bundesrepublik war sie die Partei der Arbeiterschaft, das bürgerliche Lager mit den Kirchen als sozialen Vorfeldorganisationen war die Domäne der Union. In diesem Lager tauchten die Grünen zunächst als die rebellischen Kinder auf, antistaatlich und teils auch frauenbewegt antiklerikal. Bürger wollten sie nur noch sein, wenn es galt Bürgerrechte einzuklagen. Eine entscheidende Wende brachte der Umbruch in der DDR, in welchem sich Restbestände bürgerlicher Lebenswelt, evangelische Kirche und Oppositionsbewegung gegen eine weitgehend agnostische realsozialistische Parteigesellschaft behaupteten.
Diese Melange aus oppositionellen Kleingruppen und rudimentärem Bürgertum weitete sich im vereinten Deutschland zum Begriff der Zivilgesellschaft. Daraus schöpften vor allem die seinerzeit an ihrem Anti-Etatismus fast zerbrochene Grünen neue programmatische Kraft, während es die Union versäumte, diese Modernisierungsimpulse aufzunehmen. Der in ihr vorherrschende Begriff von Bürgerlichkeit ist altbacken westdeutsch geblieben und wenn sie von ihrem Wertefundament redet, schwingt im Weihrauch noch immer die Gottgewolltheit patriarchaler Ordnung inklusive all ihrer Bigotterie mit. Beim Wandel der Kirchen schlug sich die Union selten auf die Seite der Modernisierer.
Die Grünen bewältigen hingegen den erstaunlichen Spagat zwischen kirchenkritischem Feminismus und wertegebundenem Katholizismus, zwischen digitaler Boheme und Kleinfamilie, ohne dass es in ihren Reihen merklich knirscht. Dass ihnen das –quasi auch stellvertretend für die Gesellschaft – gelingt, hat mit einer Sinnressource zu tun, auf die sich alle gleichermaßen beziehen können und die den Grünen im Wettbewerb der Parteien einen entscheidenden Vorteil verschafft. Sie sind die Partei der Ökologie. Die Natur ist ihre Sinnressource, mit der sie gleichermaßen für Katholiken wie Marxisten, für Romantiker wie Fortschrittliche anschlussfähig sind. Was dem einen die Bewahrung der Schöpfung ist dem anderen die ökologisch-sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft, wo der eine „Zurück zur Natur“ ruft, erkennt der andere in ihr die größte Zukunftsaufgabe. Nachhaltigkeit lässt sich als Tugendkatalog wie auch als Gesellschaftsreform buchstabieren. Nachdem sich mit der Atomkraft das gewaltigste Fortschrittsprojekt der menschlichen Gesellschaft diskreditiert hat, kehrt der Fortschritt mit der Nachhaltigkeit auf deren Agenda zurück – inklusive industriellem Umbau. Wurde einst mit „Made in Germany“ um eine Spitzenposition in der Welt gerungen, geschieht dies nun mit Energiewende und ökologischer Erneuerung.
Als die Grünen sich Anfang der achtziger Jahre gründeten, sah der Politikwissenschaftler Claus Offe in den von ihnen propagierten Politikkonzepten des Bewirkens und Bewahrens noch einen Widerspruch. Er irrte, es ist die wohl größte programmatische Leistung der Grünen, das eine zur Grundlage des anderen gemacht zu haben. Sie haben damit eine Achse in die politische Landschaft gefügt, die quer zu den gängigen der sozialen Gerechtigkeit und des gesellschaftlichen Fortschritts liegt.
Mittlerweile haben sie den rousseauschen Überschwang, mit dem sie anfänglich diese Weitung des gesellschaftlichen Sinnhorizontes betrieben, weitgehend hinter sich gelassen. Ab und zu erwecken sie dennoch den Eindruck, eher Menschheits- denn Bürgerpolitik zu betreiben und die Volonté générale der Nachhaltigkeit zu proklamieren, wo die Volksparteien mühevoll die Volonté de tous zwischen den verschiedenen sozialen Interessensgruppen austarieren. Ihrer Attraktivität tut das keinen Abbruch, wie man an der Zahl derjenigen ablesen kann, die sich vorstellen können sie zu wählen. Als einzige der kleineren Parteien verfügen sie über einen Wählerkreis, der fast an den der beiden Volksparteien heranreicht.
Und für den Radius dieses Kreises dürfte die „bürgerliche“ Ausstrahlung einer Katrin Göring-Eckardt und anderer „bürgerlicher“ Grüner nicht unbedeutend gewesen sein. Doch mussten die Grünen in den letzten Jahren erfahren, dass zwischen dem weitesten Wählerkreis und der tatsächlichen Wählerschaft kein zwingender Zusammenhang besteht. Auf Letztere kommt es aber im kommenden September an.
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