- Der neue Sound des Vollkorn-Bürgertums
In schnellem Tempo erfinden sich die Grünen neu, sie werben um bürgerliche Wähler und wollen (offiziell) von Schwarz-Grün nichts wissen, sie rücken sozialpolitisch nach links und emanzipieren sich von Rot-Grün. Das kann man widersprüchlich nennen oder auch neue grüne Dialektik. Ein Kommentar
Nur eine Woche haben die Grünen gebraucht, um sich politisch neu zu erfinden. Erst wählte die Basis der Partei überraschend Karin Göring-Eckardt an der Seite von Jürgen Trittin zur Spitzenkandidatin. Selbstbewusst empfahlen die Mitglieder ihre Partei als politische Alternative für das von CDU, CSU und FDP enttäuschte Bürgertum und nährten Schwarz-Grün-Spekulationen. Gleichzeitig vollzog die Partei an ihrer Spitze zumindest teilweise einen Generationenwechsel und degradierte zwei altgediente Mitstreiterinnen an der Spitze der Partei und der Fraktion zu Pausenclowns: Claudia Roth und Renate Künast.
In den Tagen danach schien es allerdings so, als hätten die Grünen Angst vor der eigenen Courage. Eilig bekannte sich Katrin Göring-Eckardt zum Bündnis mit der SPD und distanzierte sich von möglichen Bündnissen mit der Union. Doch auf dem Parteitag in Hannover setzte sich an diesem Wochenende die Transformation der Öko-Partei fort. Der neue Sound der Grünen klingt nach Ökologie, nach Nachhaltigkeit und nach Verantwortung. Nach Bürgerschreck und radikalem Politikwechsel klingt er nicht mehr. Er klingt nach Vollkorn-Bürgertum und nicht nach linkem Korrektiv.
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Vergeblich versuchte die Parteilinke nach der Niederlage bei der Urwahl das politische Rad in der Programmdebatte wieder zurückzudrehen. Ein bisschen mehr Steuern, ein bisschen Umverteilung und höhere Hartz-IV-Sätze dürfen es nach dem Willen der Delegierten zwar schon sein, insofern verabschieden die Delegierten ein linkes sozialpolitisches Programm. Aber mehrheitlich bekannte sich der Parteitag zugleich zum Beispiel zur Rente mit 67 und lehnte die Einführung einer sanktionsfreien Grundsicherung statt Hartz-IV ab.
Nicht nur in der Sozialpolitik ist es alles andere als einfach, die mehrstimmige Botschaft der neuen Grünen an das Öko-Bürgertum zu dechiffrieren.
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Die Grünen wollen die Schwarz-Grün-Spekulationen beenden und reden doch ständig davon. Die Grünen wollen mit der SPD regieren und versuchen doch, sich von Rot-Grün zu emanzipieren. Sie blinken links und schielen nach rechts. In der Partei gibt es viele Streitthemen, aber auf dem Parteitag inszenieren die Grünen die große Harmonie. Und sie feiern ihre linke Vorsitzende Claudia Roth mit stehenden Ovationen erst, nachdem sie diese bei der Urwahl in den politischen Vorruhestand verabschiedet haben.
All dies kann man widersprüchlich nennen oder verlogen, aber auch dialektisch.
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Denn natürlich wollen die Grünen nach der Bundestagswahl weiterhin mit der SPD regieren, sie wollen mit Rot-Grün die schwarz-gelbe Bundesregierung ablösen und werden mit einer klaren Koalitionsaussage in den Wahlkampf ziehen. Alles andere würde angesichts der schwarz-gelben Realität einem politischen Selbstmord gleichen.
Aber vor allem wollen die Grünen in den kommenden Jahren regieren. Sie wissen, dass der Tag nach der Wahl kommt. Und wenn es am 22. September 2013 für Rot-Grün nicht reichen sollte – und so sieht es derzeit aus –, dann wollen die Grünen sich nicht wie 2005 in den linksökologischen Schmollwinkel zurückziehen, sondern in Gesprächen mit der Union die Möglichkeiten und Grenzen eines schwarz-grünen Bündnisses ausloten.
Diesen machtstrategischen Spielraum haben sich die Grünen in den letzten Tagen und Wochen mit der Urwahl und dem anschließenden Parteitag erarbeitet. Es wäre keine politische Überraschung mehr, wenn sie diesen nach der Bundestagswahl nutzten.
Die Grünen singen das Lied von der Abwahl der Regierung Merkel, im Sopran trällern sie Rot-Grün, aber im Bass sind gelegentlich auch andere Töne zu hören sein. Das ist der neue grüne Sound.
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