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US-Politologe - Wie ich das Grundgesetz lieben lernte

Deutsche galten lange Zeit als staatshörig und konsensliebend. Keine guten Eigenschaften für eine freiheitsliebende Zivilgesellschaft, fand unser US-amerikanischer Autor. Doch dann lernte er, das Grundgesetz zu verstehen

Autoreninfo

Der US-Politikwissenschaftler Scott Stock Gissendanner war von 2003 bis 2010 Professor für das Deutsche Regierungsssystem an der Georg-August-Universität Göttingen und arbeitet jetzt im Gesundheitswesen für die Lielje Gruppe

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Für Amerikaner wird die Güte einer Verfassungsordnung am Grad der gelebten Freiheit gemessen. Daher waren meine Erwartungen an Deutschland, als ich zum ersten mal hier ankam, sehr niedrig. Dem Grundgesetz wohnt eine durch und durch demokratische Ordnung inne, aber die Verfassungsrealität eines Landes wird durch den Tanz zwischen Verfassung und Volk bestimmt. Bei den freiheitsliebenden Amerikanern würde das klappen, versteht sich.

Aber bei den Deutschen? Die Weimarer Verfassung war nicht schlecht, bloß hatte das falsche Volk sie erhalten. Dasselbe Volk hat in Westdeutschland jahrelang in einer Demokratie gelebt, aber vielleicht tolerieren die Deutschen die Demokratie nur unter den Bedingungen einer guten Wirtschaftslage? Meinungsumfragen hatten den Deutschen in den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkrieges schließlich eine antidemokratische Gesinnung bescheinigt, genau wie spätere Umfragen in regelmäßigen Abständen einen andauernden Rassismus.

Diese recht pessimistische Diskussion war stark beeinflusst von Ralf Dahrendorfs Gesellschaft und Demokratie in Deutschland (1967). Die Probleme der deutschen Demokratie, so Dahrendorf, seien Probleme der deutschen Gesellschaft. Erstens hätten die Deutschen eigentlich noch keine Gesellschaft, sie seien noch zu sehr ihrer geliebten Gemeinschaft verhaftet. Zweitens zögen die Deutschen den Expertenkonsens dem politischen Streit immer vor. Und schließlich hegten sie wenig Respekt vor den Tugenden der Zivilgesellschaft.

Meine ersten persönlichen Erfahrungen in der Bundesrepublik schienen Dahrendorfs Thesen durchaus zu bestätigen. Im Jahr 1993 kam ich zu einem Studienaufenthalt nach Ostberlin und ging zur Polizeiwache, um mich anzumelden. Als der Polizist mich fragte, ob ich schon einmal in Deutschland angemeldet war, verschwieg ich, dass ich 1989-90 in der DDR gelebt hatte. Er fand aber die alte DDR-Kartei und war sauer.

Politik heißt Lösungen finden
 

„Aber das war ein anderes Land, das nicht mehr existiert“, erklärte ich, worauf er verblüfft sagte: „Wat glooben Sie, wo Sie sind?“ Erst dann verstand ich: die DDR mag wohl verschwunden sein, aber die Kartei einer deutschen Behörde ist für die Ewigkeit. Das ist Gemeinschaft. Man will wissen, wo Du lebst und gelebt hast, und zwar lückenlos und unabhängig von der bislang relativ kurzlebigen Geschichte der deutschen Staaten. Das geht noch viel tiefer. In Deutschland gehört jeder von Geburt an permanent zu einer oder mehreren Gruppen, ob freiwillig oder nicht. In Deutschland sind selbst die „Autonomen“ eine Gruppierung.

Politik in Deutschland heißt, Lösungen zu finden – und nicht irgendeine Lösung, sondern die richtige Lösung. Als ich an der Göttinger Universität noch das deutsche Regierungssystem lehrte, fragte ich in jedem Semester die Studierenden, ob sie glauben, dass es für die allermeisten politischen Probleme eine Lösung gibt, die durch Experten gefunden werden kann. Immer hoben fast alle die Hände und setzten eine optimistische Miene auf. Der ideale deutsche Politiker ist ein Wissenschaftler mit Doktortitel. Und wegen des Gemeinschaftsdenkens ist die ideale politische Lösung eine, die durch Konsens unter allen wichtigen Gruppen zementiert wird. Ganz Deutschland ist eine permanente große Koalition.

Das Problem für die gelebte Demokratie liegt darin, dass man sich in der deutschen Gesellschaft nur hocharbeiten kann, wenn man zu irgendeiner Gruppe gehört, deren Meinung für den Großkonsens wichtig ist. Nicht nur Muslime haben da Pech. Als ich 1999 in Königs Wusterhausen bei Berlin versuchte, Mitglied der SPD zu werden, sagte der Mann im Parteibüro, das sei theoretisch möglich, aber es sei gerade Wahlkampf und sie hätten viel zu tun. Er bat mich ausladend, mich später zu melden.

Die Tugenden der Zivilgesellschaft sind hier nicht sonderlich geschätzt, sagt man. Mit anderen Worten, die Deutschen seien rechthaberisch und Besserwisser und berufen sich auch noch in ihren persönlichen Beziehungen tendenziell auf Gesetz und absolute Wahrheiten. Was tun, wenn unser Nachbar eine störende Angewohnheit hat? Der zivile Mensch gibt klein bei und versucht, mit ihm auszukommen, weil harmonisches Zusammenleben ein Wert an sich ist.

In Deutschland gibt man auch klein bei, aber man fühlt sich dabei klein. Die Liebe zur geordneten eigenen „Innerlichkeit“, so Dahrendorf, sei dafür grundlegend. Ich lernte jeden Monat neu, was das bedeutet, da ich ständig gegen das unsichtbare Gewohnheitsrecht der Nachbarn oder die im Hausflur aufgehängte Hausordnung verstieß. Hier ist die Sonntagsruhe heiliger als das Sonntagsgebet. Aber diese Sehnsucht nach Ruhe fördert Demokratie nicht. Demokratie ist störend, da man immer mit Menschen auskommen muss, mit deren Vorstellungen man nicht zurecht kommt.

Irgendwann drehte sich meine Meinung über die deutsche Verfassungsrealität. Ich wurde nicht Deutscher, aber deutscher. Alle drei vermeintlichen Achillesfersen der deutschen Verfassungsrealität erwiesen sich in meinen Augen mit der Zeit als durchaus demokratiekompatibel. Der Hang zur Gemeinschaft? Den habe ich zu lieben gelernt. Am Elternabend suche ich stundenlang mit den anderen nach der Lösung, die wirklich alle gut finden. Neulich hat mich dann sogar eine große Volkspartei doch noch hereingelassen. Kompatibel mit Freiheit ist der Drang zur Gemeinschaft, solange die Gruppen der Dazugehörenden sich mit der Zeit ändern und öffnen. Auch in anderen Bereichen passen ich und die Deutschen einander an. Die optimistischen Gesichter meiner Studenten finde ich jetzt eher inspirierend als weltfremd. Wenn die Deutschen ein drahtloses Lkw-Maut-System bauen können – vielleicht gibt es doch einen technischen Weg zur allgemeinen Glückssteigerung.

Das Verschmelzen mit dem Staat
 

Viel wichtiger finde ich, dass die Deutschen einen Hang zur Freiheitsliebe zeigen, der meiner Meinung nach aus einer geglückten Zusammenfügung von Grundgesetz und Volk in langen Praxisjahren entstanden ist. Das Grundgesetz wurde am schönen Chiemsee geschäftsmäßig niedergeschrieben, von Personen, die in den wesentlichen Punkten einig waren. Es wurde ein Ehevertrag für eine gemeinschaftliche Lebenspartnerschaft und, ja, es zementiert das von Dahrendorf monierte Gemeinschaftsdenken an vielen Stellen. Die Kirche verschmilzt mit dem Staat, Arbeitnehmer und Arbeitgeber erhalten eine privilegierte Stellung und verschmelzen mit dem Staat, die Parteien erhalten besondere Rechte und Pflichten und verschmelzen mit dem Staat.

Sogar die Familie ist ausdrücklich erwähnt als schutzwürdig – zu schützen durch den Staat. Aber die deutschen hatten dasselbe Feuer wie die amerikanischen Verfassungsgeber im Bauch: die frische Erfahrung mit einem anmaßenden und maßlosen Staat. Das deutsche Grundgesetz sichert individuelle Grundrechte gegen die Ansprüche der Gemeinschaft. Die Justiz wurde explizit dem materiellen Inhalt der Grundrechte verpflichtet, nicht nur dem fachmännisch korrekten Prozess der Rechtsprechung. Und dann das Beste: das wunderbare Individualrecht auf Widerstand gegen alle, die im Namen des Staates versuchen, den Rechtsstaat zu beseitigen.

Ein Recht auf Widerstand in der amerikanischen Verfassung hätte Edward Snowden nicht geschützt, aber es hätte die Frage aufgeworfen, ob er zum Publikmachen seiner Erkenntnisse verpflichtet wäre. Vor dem Hintergrund des Umgangs der freiheitsliebenden Amerikaner mit der Rechtsstaatlichkeit scheint mir die vielkritisierte deutsche Rechthaberei und Liebe zur ungestörten Innerlichkeit dann doch mit Freiheitsliebe durchaus im Einklang zu sein. Im digitalen Zeitalter braucht die Welt einen neuen Freiheitshelden. Der verbeamtete deutsche Datenschutzbeauftragte taugt dafür. Wer hätte das gedacht?

Freiheit und Grundrechte sind immer gefährdet, auch hier. Aber das Grundgesetz hat viel besser als erwartet die vermeintlich niederen Instinkte der Deutschen – ihre Innerlichkeit, ihr Gemeinschaftsdenken, ihren Glauben an die apodiktische Lösung – in den Dienst der Freiheit stellen können. Das stimmt mich hoffnungsvoll für die deutsche Demokratie.

 

 

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