- Demokratie braucht Umverteilung!
Es ist das Primat der Politik: Um die Zahlungsunfähigkeit abzuwenden, braucht es Haushaltsdisziplin. Die Frage ist nur, woher das Geld kommen soll. Für Michael Lühmann ist das eigentlich klar: von den privilegierten Generationen, die in Zeiten des Überflusses abgesahnt haben. Ein Kommentar
Schuldenkrise, Börsenchaos, Ausschreitungen in England, Jugendproteste in Spanien und Griechenland – Europa ist in Aufruhr. Natürlich erheben sich die Jugendlichen in London, Madrid und Athen nicht, weil DAX und Dow auf Talfahrt sind – und doch hängt alles miteinander zusammen. Die Aktienkurse sind eingebrochen, weil fragwürdige Agenturen über eine Zahlungsunfähigkeit betroffener Länder orakeln. Als vermeintlich bestes Rezept, um diese abzuwehren, gilt in Europa seit längerem die Haushaltsdisziplin. Ihr innerer Kompass zwingt die europäischen Regierungen, zwingt die Länder zum eisernen Sparen.
Opfer dieser Politik sind zumeist die Bildung, die öffentlichen Investitionen – und seit Jahren schon der öffentliche Dienst. Leidtragende dieser Entwicklung sind dann jene Bildungseliten in den südeuropäischen Ländern, die nun als Generation ohne Chance auf die Straßen gehen und doch nur das fordern, was ihre Eltern noch ganz selbstverständlich bekommen haben: vernünftige Löhne, entfristete Verträge und eine Lebensperspektive. Aber die Prekarisierung der Arbeitswelt – bis weit in die akademischen Kreise hinein – hat diese Erwartungen weitgehend enttäuscht. Nur wenige können diesem Druck entgehen, aber auch nur wenige kommen an die noch letzten exklusiven Bildungszertifikate heran, die Schutz gewähren. Da ist es dann kein großer Schritt mehr, weit mehr zu fordern, weit mehr in Frage zu stellen als die beruflichen Perspektiven.
Anders gelagert ist die Situation in Großbritannien, aber auch hier gilt: Seit den – immer wieder als vorbildlich geltenden – Spardiktaten und zeitgleichen Steuerentlastungen für hohe Einkommen unter der Regierung Thatcher ist das Land immer weiter gespalten worden. Die sozialen Klüfte und die Nöte der Abgehängten lassen sich sozial kaum noch befrieden. Das Spardiktat hat die gesellschaftliche Spaltung so weit vorangetrieben, dass sich diese explosive Mischung nun in Gewaltexzessen entlädt. Selbst die scheinbar so heile skandinavische Welt bleibt davon nicht unberührt. In Finnland etwa lässt sich studieren, was passiert, wenn der (teure) soziale Konsens aufkündigt wird und sich politisch Richtung Markt liberalisiert. Die Partei der Wahren Finnen ist nur der Anfang einer solchen Entwicklung. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann diese Radikalisierung auch in Deutschland folgen wird.
Die Problemlagen sind auch in Deutschland so anders nicht. Auch hier bekommen junge Menschen im öffentlichen Dienst nur noch Halbjahresverträge – selbstredend mit reduziertem Weihnachtsgeld und ohne Urlaubsgeld. Auch hier muss sich die Bildungselite – die Generation Praktikum, die von Jahr zu Jahr mehr Jahrgänge erfasst – von schlecht bis gar nicht bezahlten Praktika hangeln um dann kurzfristige Verträge abzuschließen. Dass man dabei auch noch mobil sein muss und keine dauerhafte Existenz aufbauen kann, ist zudem eine der Ursachen für den demographischen Wandel.
Was aber, und das ist entscheidend, gerade in Frage gestellt wird, ist das Modell der Demokratie ganz allgemein. Denn mit dem unbedingten Primat des Sparens können weder soziale Klüfte geschlossen werden, noch wird man die nachwachsenden Eliten im Prekariat von den Vorzügen des demokratischen Modells überzeugen können. Welche Folgen es haben kann, wenn sich die Eliten von der Demokratie abwenden, wissen wird aus der Demokratietheorie ebenso wie aus der Geschichte.
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Was ist also zu tun? Weiter Schulden machen – wohl kaum, denn das führt unweigerlich zum Staatsbankrott. Indes, wenn an der Ausgabenseite weiter nach unten korrigiert wird, werden sich die Aufstände und Proteste weiter verschärfen. Also bleibt nur die Erhöhung der Staatseinnahmen. Und hier gibt es in allen westlichen Volkswirtschaften erhebliche Spielräume.
Die Reichen in der Gesellschaft haben sich in den letzten Jahren konsequent und deutlich vom allgemeinen Abwärtstrend der Einkommen und Vermögen in den Mittelschichten entkoppelt. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich immer weiter – obwohl mit der der Studie von Kate Pickett und Richard Wilkinson offensichtlich geworden ist, dass von einem Mehr an Gerechtigkeit und Gleichheit alle in einer Gesellschaft profitieren.
Hinzu kommt, was sich am Beispiel der Bundesrepublik sehr gut illustrieren lässt: Die Grundlagen vieler großer privater Vermögen in diesem Land sind nicht selten zu Zeiten des Wirtschaftswunders infolge der Zerstörungen des 2. Weltkrieges generiert oder infolge der Deutschen Einheit gemehrt worden. Es ist deshalb alles andere als unredlich, in Zeiten knapper öffentlicher Haushalte und des demographischen Wandels von den privilegierten Generationen über Vermögens oder höhere Erbschaftssteuern zurückzufordern, was in Zeiten des Überflusses gegeben wurde.
Diese bevorteilten Generationen jedoch haben den Generationenvertrag in Richtung der heutigen, stark belasteten und oft perspektivlosen Berufseinsteiger durch Steuerverweigerung aufgekündigt. Eher noch verabschieden sich die Vermögenseliten aus den sie schützenden und privilegierenden Gesellschaften, sobald ihre Verantwortung gefragt ist. Um diese Entwicklung aufzuhalten, sind die meisten europäischen Staaten und auch die USA immer stärker in die Abhängigkeit jener überhitzten Märkte geraten, in denen Spekulanten selbst von Kursstürzen profitieren. Und, was noch schlimmer scheint, sie haben sich in die Abhängigkeit von Diktaturen begeben.
Die USA lassen sich inzwischen von China erklären, wie sie ihr Haushaltsdefizit in den Griff bekommen. Die Tea-Party-Bewegung verkauft die Demokratie an die chinesischen Usurpatoren, um die Vermögenden des eigenen Landes zu schützen. Statt die Steuern zu erhöhen, werden noch mehr Anleihen an China verkauft – die immer stärkere Abhängigkeit gegenüber dem kommunistischen-kapitalistischen Regime in Kauf nehmend. Dazu besitzen sie die Chuzpe, dies als Rettung der westlichen Welt vor der Bedrohung der eigenen Freiheit zu feiern. Die deutsche Debatte ist dagegen noch relativ unideologisch und dennoch: Auch hier verweigert sich die Regierung mit dem Verweis auf die Flüchtigkeit von Kapital jeglichen Vorschlägen zu Steuererhöhungen. Wo aber, möchte man von den Bedenkenträgern wissen, will das Kapital denn hin? In die Schweiz und dort die Inflationsgefahr erhöhen, oder in unsichere Märkte außerhalb Europas?
Die Demokratie allerdings lässt sich nicht durch den Ankauf von Anleihen durch die EZB und durch von der EU oder internationalen Organisationen diktierte Sparplänen retten. Die Demokratie muss durch die Gesellschaften verteidigt werden, indem sie das Primat der Märkte, das inzwischen auf die Urteile einiger Ratingagenturen reduziert wurde, zurückdrängen und das Primat der Politik wieder eingesetzt werden. Schließlich ist es die demokratisch verfasste Politik, die den Märkten Sicherheit und Freiheit gewährt und vor willkürlichem Zugriff schützt – erinnert sei an Michail Chodorkowski. Zugleich wird erwartet und dies zu Recht, dass die Regierung rettend eingreift, wenn die Banken zu kollabieren drohen. Deshalb kann es nicht sein, dass demokratische Staaten und deren Währungen zu Spielbällen der Finanzwelt werden. Hier sind harte Einschnitte und neue Steuern gefragt. Die Verantwortung der Märkte für das demokratische Gemeinwesen muss so zum Ausdruck kommen. Die Einnahmen der öffentlichen Haushalte ließen sich zugleich spürbar verbessern.
Die Betroffenen werden diese notwendige Umverteilung von oben nach unten einmal mehr als Sozialismus geißeln. Dennoch ist dies der bessere Weg als die Konsolidierung der Haushalte über Spardiktate, die die nachkommenden Generationen systematisch benachteiligen. Und hier schließt sich der Kreis: Es geht, und das steckt hinter den Aufständen überall in Europa, inzwischen um mehr als Arbeitsplätze und Lohnhöhen. Das wird, und das sollte, überall noch viel offensiver formuliert werden. Schließlich ist der – friedliche – öffentliche Protest nachgerade ein Ausdruck einer funktionierenden Demokratie und die Gewalttaten in Großbritannien ein Warnsignal dafür, was passiert, wenn man die anstehenden Probleme nicht lösen will.
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