- „Wir haben die Logik der Stasi nicht durchbrochen “
Er hat einen Historienstreit in der Stasi-Unterlagenbehörde heraufbeschworen: Ilko-Sascha Kowalczuk kritisiert die einseitige Überhöhung der Staatssicherheit und ihrer Inoffiziellen Mitarbeiter, wenn es um die Verbrechen der DDR geht. In seinem Buch „Stasi konkret“ fordert er eine Entdämonisierung von Erich Mielkes Geheimdienst
Herr Kowalczuk, Sie monieren, dass der intensive Blick auf die Stasi das Bild der DDR verzerrt habe. War alles also doch nicht so schlimm?
Im Gegenteil. Die Perspektiven sind insofern verzerrt, als es sich bei der DDR um eine SED- und nicht um eine Stasi-Diktatur handelt. Die Staatssicherheit war ein zentrales Instrument, aber der Befehlsgeber war die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands. Das ist in der Öffentlichkeit und teilweise auch in der Wissenschaft aus dem Blick geraten. Insbesondere die Debatte um die Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) war eine Stellvertreterdebatte. Das führte zu dem absurden Umstand, dass sich die entlastet fühlen konnten, die nicht dieses Label „IM“ hatten. So gerieten die eigentlichen Auftraggeber aus dem Blick. Jeder SED-Kreissekretär war mächtiger als ein Kreisdienstellenleiter der Staatssicherheit, jeder SED-Bezirkssekretär weitaus einflussreicher als der Chef einer Stasi-Bezirksverwaltung.
Die Stasi war also kein Staat im Staate, sondern „Schild und Schwert der Partei“.
Ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und sage, die Stasi war nicht nur Schild und Schwert, sondern ein fester Bestandteil, ein Strukturelement der Partei.
In diesem Zusammenhang sprechen Sie davon, dass die Stasi bis 1989 mythisiert, ab 1990 dämonisiert wurde. Das könnte auch als Verharmlosung missverstanden werden.
Ich verharmlose nicht. Bei Lichte betrachtet, verschärfe ich das Problem. Mythisiert deshalb, weil es das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) geschafft hat, dass sich die Mehrheit in der DDR so verhielt, als sei die Stasi omnipräsent. Praktisch hatte die Stasi gar nicht die Möglichkeiten dazu. Aber sie hat ein Klima von Angst und Einschüchterung erzeugt.
Die Dämonisierung setzte nach der Revolution ein, als wir alle, mich eingeschlossen, diese Allmachtsbilder reproduzierten. Wir haben die Logik der Stasi nicht durchbrochen. Eine spektakuläre Enthüllung jagte die nächste. Das führte Anfang der 90er zu der Vorstellung, die DDR sei ein reiner Stasi-Staat gewesen – und das wirkt bis heute fort. Ich möchte aber, dass wir genauer hinschauen.
Sie kritisieren die Fokussierung auf den Inoffiziellen Mitarbeiter. Gerade jene würden das Regime verharmlosen, die die SED-Diktatur zu stark auf das MfS und auf die IMs beschränken.
Unser IM-Bild ist geprägt von spektakulären Enthüllungen prominenter Einzelfälle. Dabei waren diese Fälle nicht typisch für ihre Arbeit. Die meisten waren nicht lebenslang IM, andere wiederum waren noch viel mehr als „nur“ IM, manche hatte eine IM-Registrierung, berichteten aber gar nicht. Ganz viele Leute, die zufälligerweise nicht dieses Label hatten, haben sich zum Teil schlimmer als die tatsächlichen Inoffiziellen Mitarbeiter verhalten. Mir geht es darum, die Komplexität dieser Gesellschaft in den Blick zu nehmen und die Stasi als ein wichtiges Herrschaftsinstrument zu begreifen. Aber nicht als das einzige.
Gregor Gysi ist einer dieser prominenten Fälle. Halten Sie die IM-Frage auch hier für nebensächlich?
Ja. Bei Gysi interessiert mich nicht so sehr die Frage, ob er nun IM war oder nicht. Wenn man genau hinschaut, wird man etwas anderes feststellen: Wer überhaupt konnte in der DDR Rechtswissenschaften studieren? Das war kein freies Studium. Nur die Stasi, das Innen- oder Justizministerium – allesamt zentrale Säulen des SED-Herrschaftsapparates – konnten jemand dorthin delegieren. Wer ist anschließend Anwalt geworden? Am Ende der DDR gab es 592 Anwälte, in der BRD zur gleichen Zeit etwa 55.000. Gysi wurde bereits mit 23 Jahren Anwalt. Wenn man noch sieht, dass er bereits 1976 den ersten großen politischen Strafprozess als Anwalt bestreiten durfte, stellt sich nicht so sehr die Frage, ob er IM war oder nicht, sondern dann muss man feststellen, dass er von vorne bis hinten ein Mann der SED war. Er war ein Vertrauensanwalt der SED und ihrer wichtigsten Institutionen. Er hat, wie jeder Anwalt in der DDR, der in solche Fälle involviert war, natürlich mit der Stasi reden müssen. Er war eine Stütze des Systems, ein Teil der SED. Bei ihm ist in der Tat die Frage, ob er IM war oder nicht, nur deswegen hochpolitisch, weil er sie leugnet. Es wäre viel einfacher gewesen, wenn er von Anfang an gesagt hätte, natürlich hat es diese Gespräche gegeben. Manfred Stolpe beispielsweise ist deutlich besser aus der Nummer herausgekommen.
Warum taucht der Name Gysi in Ihrem Buch in diesem Zusammenhang kein einziges Mal auf?
Erstens kenne ich das Presserecht und zweitens, viel wichtiger, geht es in meinem Buch gerade nicht um solche Einzelfälle. Mich interessiert das Gesamtsystem. Da muss ich in die Fläche und die Täler schauen und nicht nur auf Bergspitzen.
Wenn Sie von der Logik der Stasi sprechen, die immer noch nicht durchbrochen wurde, dann missfallen Ihnen sicherlich auch die IM-Kategorien, die im Grunde immer noch Stasi-Kategorien sind.
Richtig, wir verwenden nach wie vor Stasi-Kategorien. Zur Historisierung gehört aber, dass wir Verhaltenstypologien in der Diktatur entwickeln. Bezogen auf Denunziantentum, auf Verrat, auf das Mitmachen. Hier brauchen wir andere Kategorien als die Begrifflichkeiten der Stasi. Wir sollten nicht fragen, ob jemand nun eine Anbindung an die Stasi hatte oder nicht, sondern was der Einzelne konkret in der Diktatur machte. Dann kommen wir zu differenzierteren Bildern, die überhaupt nicht zur Entlastung der Stasi beitragen, die aber zeigen, dass das ganze Herrschaftsgefüge der DDR weitaus komplexer war.
Konkret, wie muss ich mir das Anwerben eines Inoffiziellen Mitarbeiters vorstellen?
Das lief in den 50er Jahren ganz anders ab als in den 80er Jahren. Im Kern kann man sagen, dass in den 50er Jahren sehr viele Menschen unter Druck angeworben worden. Viele sind erpresst worden, viele haben es auch freiwillig gemacht, versprachen sich Vorteile. In den 70er und 80er Jahren gehörte die Anwerbung über offenkundigen Druck eher zur Ausnahme. Andererseits muss man berücksichtigen, dass in einer Diktatur ohnehin auf alle ein großer Druck ausgeübt wird. Menschen reagieren darauf unterschiedlich, angeworben zu werden. Der eine erhoffte sich Vorteile im Beruf, der andere wollte seine Familie schützen, ein anderer aus voller ideologischer Überzeugung, der Nächste machte das, nicht nur aus purer Angst, sondern ohne groß darüber nachzudenken. Die Mehrheit – was ja auch zur Geschichte gehört – sagte nicht bewusst Nein.
Nächste Seite: Die Stasi hatte ein Bildungsproblem
Stimmt es, dass auch Minderjährige angeworben wurden?
Ja. Ende der 80er Jahre wurden mehrere hundert junge Menschen unter 18 als IM angeworben. Das ist das natürlich ein Sonderfall. Gleichzeitig aber ist es auch ein besonders schweres Verbrechen, Heranwachsende in ein solches System einzubinden. Viele leiden noch heute unter den psychischen Spätfolgen.
Die Stasi hat ihr Betätigungsfeld immer weiter ausgeweitet. Das trieb absurde Blüten. Sie beschreiben einen Fall, bei dem Stasi-Mitarbeiter Bilder, die zu Propagandazwecken in Auftrag gegeben wurden, mit den Worten beurteilten: „Gesichtszüge ändern. Mehr Optimismus hineinlegen.“
Ja, kaum ein Bereich wurde ausgelassen. Im Laufe der Zeit hat sich das Aufgabenfeld der Stasi mehrfach verändert und vor allem erweitert. Erstens hatte die Stasi das Problem, dass die Masse der Mitarbeiter relativ jung war – im Gegensatz zur Führungsspitze, die von älteren Herren besetzt war. Da kam es zu Aufstiegskonflikten. Zweitens hatte die Stasi ein Bildungsproblem. Die Leute waren unterdurchschnittlich schlecht qualifiziert und ausgebildet. Es gab nur wenige Abiturienten – zuletzt etwa 20 Prozent – und kaum Hochschulabsolventen.
Die Stasi hatte auch ein geschlechtsspezifisches Problem. Sie bestand größtenteils aus Männern.
Ja. Diese drei Dinge, das schlechte Bildungsprofil, die verstopften Aufstiegskanäle und die Männerdominanz haben dazu geführt, dass der Apparat eine ganze Reihe von Absurditäten vor sich hertrug. Und: Kaum eine Gruppe hat sich so stark gegenseitig ausgespitzelt wie Stasi-Offiziere. Das führte zu vielen neurotischen Störungen. Die Stasi selbst stufte den psychologischen Zustand ihrer eigenen Mitarbeiter als außerordentlich bedenklich ein.
Das System fraß also zuallererst sich selbst: Stasimitarbeiter, gefangen im eigenen System.
Besonders hart traf es auch die Kinder von Stasimitarbeitern. Sie sind quasi alle mit dem Auftrag erzogen worden, du musst täglich lügen. Niemand durfte genau sagen, was Papa und Mama eigentlich den ganzen Tag machten und die durften zu Hause nicht darüber sprechen. Das müssen teilweise gespenstische Zustände gewesen sein.
Sie schreiben in Ihrem Buch, die Wissenschaft der Spionagegeschichte sei eine mitunter kuriose Disziplin: Irre und Verrückte gebe es zuhauf. Wer das nicht glaube, solle doch mal einen Fachkongress besuchen. Dass müssen Sie uns erklären.
Das Problem an der Geheimdienstforschung ist, dass ganz viel im spekulativen Bereich bleibt. Im Fall der Staatssicherheit haben wir das Glück, dass wir zumindest einen ganz kleinen Teil der Akten haben. In anderen Bereichen gibt es gar keine Akten. Wenn man sich auf solchen Kongressen umschaut, dann sind da extrem viele Verschwörungstheoretiker unterwegs.
Auch in Bezug auf die Stasi, insbesondere auf den Auslandsnachrichtendienst, der Hauptverwaltung A (HV A), gibt es viel Spekulation. Ich erinnere an die These von der Unterwanderung der Bundesrepublik durch die Stasi. Die hat es ernsthaft nie geben. Es gab natürlich die Stasi in der Bundesrepublik. Aber auch hier: Bitte bei dem bleiben, was man belegen kann und nicht permanent übertreiben! Wir wissen letztlich über die HV A weitaus weniger, als viele, die durchs Land rennen, uns weiß machen wollen.
Wenn ich an den DDR-Agenten im Kanzleramt Günter Guillaume denke, die Romeo-Methoden, bei denen DDR-Spitzel auf Sekretärinnen angesetzt wurden, oder Karl-Heinz Kurras, von dem wir heute wissen, dass er auch mit der Stasi zu tun hatte, dann zweifle ich an Ihrer These.
Ich werte die Einzelfälle keineswegs ab. Aber wenn man sich anschaut, wie viele Agenten es tatsächlich waren, entsteht ein anderes Bild. Ende der 80er Jahre hatte die Stasi etwa 500 Quellen in zentralen Institutionen der BRD – darunter Agenten, aber vor allem Personen, die nichtwissentlich von der Stasi abgeschöpft wurden. Zum Fall Guillaume: Wir wissen, dass der Wert seiner Informationen selbst innerhalb der Stasi als außerordentlich gering eingestuft wurde. Zum Fall Kurras: Er war SED-Mitglied, Stasispitzel und hat Geld kassiert. Aber jetzt zu sagen, man muss die Geschichte umschreiben, weil er im Auftrag der SED geschossen haben könnte? Nein. Er hat es schlichtweg nicht. Dafür gibt es keinen Beleg und es gibt auch keine schlüssige Erklärung, warum ihm die Stasi diesen Auftrag hätte geben sollen. Außerdem war Ohnesorg jemand, der völlig unbekannt war. Kurras war einfach ein durchgeknallter Polizist, der diese Typen hasste.
Wir wissen auch, dass sich die Bewegung nach dieser Tat radikalisierte. Es brauchte gar kein bestimmtes, sondern allein ein zufälliges Opfer, um dieses Pulverfass zu entzünden.
Richtig. Sie unterstellen aber, dass die Stasi Interesse daran hatte, dass sich in West-Berlin eine radikale Studentenbewegung beziehungsweise Terrorismus herausbildete.
Durchaus.
Erstens war diese Entwicklung nicht vorhersehbar. Zweitens gab es von Seiten der SED kein Interesse an einem solchen Szenario. Die SED hatte Angst vor Terroristen. Zwar hat sie später immer wieder Terroristen aktiv unterstützt, im Nahen Osten beispielsweise, aber eher aus der Überlegung heraus, dann selbst von diesem Terror verschont zu bleiben.
Diese Argumentation kann ich auch auf die radikale Linke in der BRD anwenden. Immerhin hat die DDR die RAF unterstützt und Hilfe geleistet.
Sagen Sie. Dass die Stasi aktiv auf bundesdeutschem Gebiet mit der RAF kooperiert hätte, ist nicht belegbar. Dafür gibt es keine Hinweise.
Aber es gibt Hinweise darauf, dass die RAF von Seiten der SED finanzielle Unterstützung erfuhr. Auch wurde doch den RAF-Terroristen Unterschlupf in der DDR geboten.
Hier trafen sich SED und RAF in ihrem Hass auf die Bundesrepublik und die „antiimperialistischen“ Feinde. Der Unterschlupf für RAF-Verbrecher in der DDR diente den eigenen Sicherheitsinteressen der DDR – so glaubte es jedenfalls die SED-Führung um Honecker und Mielke. Das kann man als aktive Unterstützung der RAF interpretieren. Muss man aber nicht.
Damit heiße ich das nicht gut, ich habe dafür auch kein Verständnis. Aber ich versuche als Historiker die Logik der SED-Herrschaft und das, was dahinter steht, zu verstehen und nicht permanent mit einer moralischen Erregung durchs Land zu rennen. Das haben wir 20 Jahre lang gemacht.
Herr Kowalczuk, vielen Dank für das Gespräch
Das Interview führte Timo Stein.
Ilko-Sascha Kowalczuk: „Stasi konkret: Überwachung und Repression in der DDR“, Verlag: Beck.
Dr. phil. Ilko-Sascha Kowalczuk, geboren 1967, Historiker, war sachverständiges Mitglied der Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit“ und arbeitet seit mehreren Jahren als Projektleiter in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.