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Das haben Politiker nicht verdient!

Die gängigen Vorurteile über Politiker in Deutschland sind meistens falsch und unfair. Entgegen deutscher Stammtischmeinung sind unsere Politiker viel besser als ihr Ruf. Eine ungewöhnliche Ehrenrettung.

Lesen Sie auch: Cicero-Dossier: Die Demokratie-Debatte Wer unsere politische Ordnung studiert hat, will sie verändern“, befand jüngst der Herr Bundespräsident in seiner „Berliner Rede“. Das kann man sich gesprayt (zum 1.Mai) gut auch auf Berlin-Kreuzberger Hauswänden vorstellen. Horst Köhler, in Wahrheit also ein Sponti? Nicht Horst… Wer? Sondern: Horst… APO? So ist es. Der Präsident mit den phänomenalen Umfragewerten geht auf Distanz zum politischen Betrieb, der ihn ins Amt gebracht hat und im kommenden Mai selbstredend bestätigen soll. Aber Köhler stiehlt sich nicht nur davon, Köhler teilt auch aus. Gefällt sich (und dem Publikum) in wohlfeiler Systemschelte über „die da“: Politik in Deutschland kranke an ihren Mechanismen, ihren Regeln – und an ihrem Personal. Der „Anti-Parteien-Präsident“ (Bild) ist nicht allein. Politiker- und Parteienverachtung haben sich laut einer Gallup-Umfrage nirgendwo sonst in Europa so tief eingefressen wie in Deutschland. Sie gehört wie selbstverständlich zum Rüstzeug des elder statesman und zum eisernen Vorurteilsvorrat der Wähler: Gut drei Viertel der Deutschen halten ihre Politiker für unehrlich, und auf der Allensbach-Liste der am meisten geachteten Berufe im Land stehen Politiker regelmäßig entweder auf dem vorletzten Platz oder auf dem letzten. Das Erschütternde daran: Alle gängigen Vorurteile über Politiker in Deutschland sind weitestgehend falsch, unfair oder irreal – und entsprechend leicht zu widerlegen. Politiker sind gar keine Schweine. Politiker sind besser als ihr Ruf. Die meisten der gut zwei Dutzend gängigen Vorurteile gegen deutsche Politiker fügen sich zu drei größeren Komplexen. Erstens: Politiker haben einen miesen Charakter, sind eitel, arrogant und streitsüchtig. Zweitens: Politiker sind faul und denken (wenn überhaupt) nur an ihr eigenes oder an das Wohl ihrer Partei, aber niemals an das Gemeinwohl. Drittens: Politiker reden nie Klartext. Sie lügen, wenn sie den Mund aufmachen. Erstens: Politiker haben vermutlich den öffentlichsten aller Berufe auf der Welt. Sie führen ein Leben wie unter dem Mikroskop, und jeder, der will, darf durchschauen. Mitleid ist gleichwohl fehl am Platz, denn Politiker wissen, worauf sie sich einlassen. Da aber Öffentlichkeit die Bedingung von Demokratie und Politik ist, gehört ein ordentliches Maß an Eitelkeit und Arroganz nicht zu den Schwächen, sondern zu den Tugenden eines Politikers: Wer wählt schon einen verstockt schweigenden, TV-scheuen Geheimniskrämer, der seine Ziele nicht griffig formuliert und bildmächtige Symbole als „Show“ verachtet? Entsprechend abwegig ist die Neigung des vorurteilsvernarrten Publikums, die Selbstdarstellung eines Politikers mit Selbstverliebtheit gleichzusetzen und hernach empört zu verurteilen. Dabei ist Selbstdarstellung im politischen Geschäft nichts anderes als das Werben um Vertrauen. Jenes Gut also, das im Wettbewerb der Ideen und Personen immer wichtiger wird, weil die Sachfragen immer schwerer zu durchschauen und die lieben Wähler zugleich immer weniger bereit sind, Zeit und Mühe für ihre politische Informiertheit aufzuwenden. Wenn Vertrauen in Personen also die letzte harte Währung im politischen Geschäft ist, kann sich niemand darüber beschweren, dass Politiker auf ihre Außenwirkung mehr achtgeben als früher – dass sie eine Art operative Eitelkeit an den Tag legen, um über Vertrauen in ihre Person die Politik zu ermöglichen, für die sie einstehen. Wenig überraschend ist auch eine ebenso operative Arroganz der Politiker. „Man hält es sonst ja nicht aus“, sagte SPD-Lichtgestalt Franz Müntefering einmal dem SZ-Magazin dazu. Müntefering meinte das Trommelfeuer der Kritik, dem sich Politiker – wie gesagt: aus freien Stücken – aussetzen, in dem sie ohne einen Panzer ums eigene Ich nicht geradeaus gehen könnten. Arroganz, die gelegentliche Nichtbeachtung oder Geringschätzung der anderen, liegt zudem den meisten jener Entscheidungen zugrunde, auf die das Land heute mit Recht stolz ist. Was, wenn nicht so verstandene „Arroganz“ gegenüber allen Bedenkenträgern, machte Helmut Kohl Anfang der Neunziger so sicher, D-Mark gegen Euro zu tauschen? Was, wenn nicht bastamäßige Arroganz gegenüber seiner Partei, demonstrierte Gerhard Schröder, als er die Agenda 2010 durchpaukte? Und schließlich: Die harmonieverliebten Deutschen möchten die besten Lösungen für die schwierigsten Probleme nebst klarer politischer Alternativen, über die sie an der Urne befinden können. Wie soll das gehen, ohne Streit? Demokratie ist die Auseinandersetzung zwischen legitimen, aber einander widersprechenden Interessen; man nennt es auch Pluralismus. Und selbst die persönliche Attacke ist ein akzeptables Mittel, so sie nicht mit glatten Lügen operiert oder unter der Gürtellinie ansetzt. Als Gerhard Schröder im Bundestagswahlkampf 2005 „diesen Professor aus Heidelberg“ nach allen Regeln der Kunst zu zerlegen suchte, war auch das sinnvoller Streit. Der designierte Unions-Finanzminister stand für die zentralen Punkte des Wahlkampfes: die (vermeintlich?) rücksichtslose Reformwut Angela Merkels, die Sorge vieler vor einem „Durchregieren“ schwarz-gelber Technokraten. Mehr noch: In der Person Kirchhofs ließ sich die eigentliche, viel weiter reichende Frage fokussieren. Was soll in Zeiten der Globalisierung die Gesellschaft zusammenhalten und ihren Wohlstand sichern – Freiheit oder Gleichheit? Darüber muss gestritten werden, ja, auch in diesen TV-Talkshows, die zigfach verspottet, aber eben millionenfach gesehen werden. Denn Politik ohne Streit bedeutet Stille. Und Stille Stillstand. Zweitens: Alle Politiker sind faul und überbezahlt – noch so ein Leib-und-Magen-Vorurteil der Deutschen. Wenn aber die Tage tatsächlich müßig und die Diäten üppig wären, müsste im Umkehrschluss die große Mehrheit der Deutschen liebend gern mit den amtierenden Politikern tauschen wollen. Will sie aber nicht, wie alle Umfragen zeigen. Und das hat Gründe: Politiker arbeiten hart, und an der Bezahlung ist bestenfalls die Altersversorgung (zu) üppig. Politiker, deren oftmals totale Verfügbarkeit als selbstverständlich gilt, stecken im Schnitt 80 Stunden pro Woche in ihre Aufgaben. Die bestehen nicht allein aus Plenarsitzungen des Bundestages, sondern ebenso aus Parteiarbeit (wo kämen sonst die Mehrheiten und Programme her?), aus Ausschuss- und Bürostunden (darum ist der Plenarsaal bei Debatten selten voll), aus Veranstaltungen im Wahlkreis (wegen gewünschter „Bürgernähe“) und zahllosen anderen Auftritten. 80 Stunden sind gut das Doppelte der durchschnittsdeutschen Arbeitszeit. Dafür gibt es eine gehaltsähnliche Abgeordnetendiät von rund 90000 Euro im Jahr, was ungefähr der mittleren Führungsebene in der Privatwirtschaft entspricht. Nicht zu viel für Bundestagsabgeordnete, die im Schnitt fast 50 sind und zu vier Fünfteln Hochschulabschluss haben. Für den Steuerzahler belaufen sich die Kosten auf gut 65 Cent. Im Jahr. Die diversen Nebenleistungen (unter anderem Mitarbeiterpauschale) werden von Parteienkritikern ebenfalls als Einkommen gerechnet, sind aber zweck- oder nachweisgebunden. Trotzdem pauschal Betrug zu unterstellen, ist Stasi-Logik. Die ging so: Wer theoretisch an ein Vergehen denken könnte, hat auch daran gedacht. Und wer daran gedacht hat, hat die Straftat damit vorbereitet. Und die Vorbereitung wiegt so schwer, wie die Straftat tatsächlich begangen zu haben. Und fertig – schuldig? Lächerlich! Ähnlich volksverdummend hantieren Kritiker mit dem Vorwurf, Politiker hätten nie das Gemeinwohl im Sinn, sondern immer nur das eigene oder das ihrer Partei. Am weitesten versteigt sich dabei Hans Herbert von Arnim (zuletzt in Cicero), der Deutschland in diesem Zusammenhang abspricht, eine Demokratie zu sein. Es gibt aber keinen „Urmeter“ des Gemeinwohls. Stattdessen steht es exakt im Zentrum der politischen Auseinandersetzung: Die Parteien, stellvertretend für ihre Wähler, streiten zu Recht darüber, was das Beste fürs Land ist. Die CDU sieht das naturgemäß anders als die SPD. Beide wollen gewählt werden. Na und? Drittens: Schließlich: Sind Politiker notorische Lügner? Wer sich die Mühe macht, einige wohlfeile Verwechslungen zu vermeiden, erkennt: Nein, sind sie nicht. Zum Beispiel ist eine Konjunkturprognose, die nicht eintritt, keine Lüge des Wirtschaftsministers, sondern ein Irrtum. Dafür soll man ihn kritisieren, aber nicht moralisch niedermachen. Auch ist eine diplomatisch vage, gar bis zur Unverständlichkeit verklausulierte Politikeräußerung keine Lüge, sondern eben auch Folge eines enormen Kontrollbedürfnisses, das den Politikern anerzogen wird, weil ihre Worte immerfort öffentlich bewertet werden und nicht nur Leitartikel häufig in Sätze münden wie: „Das hätte er bei seinen Worten aber bedenken müssen.“ Ebenfalls keine Lügen sind die vielen Wahlkampf- oder Regierungsversprechen, die nach der Wahl am künftigen Koalitionspartner scheitern, der es partout anders will, oder an äußeren Umständen, die objektiv kaum zu beeinflussen sind. Und ist es eine Lüge von der Sorte, die wir unseren Kindern am Mittagstisch verbieten würden, wenn der Außenminister abstreitet, dass Deutschland Lösegeld für Geiseln zahlt? Nein, das Interesse, potenziellen Geiselnehmern das Geschäft zu verleiden, rechtfertigt diese Ausflucht aus Abwägung, auch wenn sie mutmaßlich nicht der Wahrheit entspricht. Man sieht: Die Zahl der Verschwörungstheorien übersteigt die Zahl der Verschwörungen bei weitem. Dennoch gibt es natürlich Politiker, die gelogen haben, aus Eigennutz, aus Angst, aus Dummheit. Es sind ja Menschen. Aber wer es übertreibt, ist in den allermeisten Fällen aussortiert worden, nicht mehr im Amt. Kurzum: Die Selbstreinigung des Systems funktioniert. Die Medien sind wach, viele Bürger auch. Als Fazit sei daran erinnert, dass Vertreter von Bevölkerungsgruppen, die so viel Misstrauen und Vorurteile auf sich ziehen wie deutsche Politiker, vor einigen Jahrhunderten geteert und gefedert, aufs Rad geflochten oder mit Gewichten um den Hals in den Dorfweiher geworfen wurden. So gesehen, haben es Politiker in Deutschland heute gut. Aber nur so gesehen.
Nikolaus Blome ist Theodor-Wolff-Preisträger. Er leitet das Hauptstadt-Korrespondentenbüro der Bild-Zeitung. Sein Buch „Faul, korrupt und machtbesessen? Warum Politiker besser sind als ihr Ruf“ erscheint Ende September im wjs Verlag und wird am 23.September in Berlin von Franz Müntefering offiziell vorgestellt Foto: Picture Alliance

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