Das Frauenhaus
Sie wollten rein, nun sind sie drin: Seit über 100 Tagen regiert Angela Merkel im Bundeskanzleramt zusammen mit einem Stab weiblicher Unterstützerinnen. Was hat sich geändert, seit die Frauen regieren? Ein Besuch.
Immer wieder ist es diese Stille, die an einem normalen Arbeitstag im Kanzleramt beeindruckt. Diese Ruhe, die sich nicht klar definieren lässt: Ist sie sakral ehrfurchtsvoll oder schlicht seelenlos? Der Mensch fühlt sich klein am Fuße des 36 Meter emporragenden Betonwürfels, von dem aus das Land regiert wird. Nur wenn die Kanzlerin mit ihrem Tross durch die hohen Flure läuft, kommt kurzzeitig das Gefühl von Bewegung auf. Ein Einzelner dagegen ist in der Weite des von Architekt Axel Schultes geplanten Raumes nichts weiter als ein sich langsam bewegender Punkt. Kanzleramtsminister Thomas de Maizière, der auf sein Büro zustrebt, ebenso wie der Fahrer, der gerade einige Akten aus dem Auto in die Leitungsebene trägt.
Man könne hier vereinsamen, sagen viele, die vor rund hundert Tagen in die Regierungszentrale eingezogen sind. Das Reichstagsgebäude mit seiner zum Teil wuseligen Hektik ist nur einige Meter weit weg und liegt doch meilenweit entfernt. „Man könnte sich frühmorgens in sein Büro setzen, Akten studieren und den ganzen Tag niemanden hören und sehen“, sagt Staatsministerin Hildegard Müller von ihrem neuen Arbeitsplatz. Zum ersten Mal hat sie dieses Amt betreten, nachdem sie ihre Ernennungsurkunde erhalten hatte. Auf eine Besichtigungstour zu Schröders Zeiten, etwa mit einer Besuchergruppe aus dem heimischen Düsseldorf, hat die 38-Jährige verzichtet. Ebenso hielten es Beate Baumann und Maria Böhmer, die beiden anderen Frauen, die sich als enge Vertraute der Kanzlerin im Kanzleramt wieder fanden. Das Gebäude, das in der Ära Kohl geplant wurde, wollten sie erst betreten, wenn ein Kanzler der Union das Büro im siebten Stockwerk bezogen hatte.
Nun zählt für alle drei, wie für die Regierungschefin, dass sie endlich gestalten können, dass die Jahre der Opposition mit dem Gefühl weitgehender Ohnmacht ein Ende haben.
Für Beate Baumann ist der Wechsel in die Exekutive vielleicht noch mit den wenigsten Umstellungen verbunden. Schon als Angela Merkel Ministerin unter Helmut Kohl war, leitete die bald 43-jährige Osnabrückerin ihr Büro. Nun sind die Dimensionen von Arbeitsaufkommen und Verantwortung größer und gewichtiger. Der Terminkalender, der bei der Arbeit in der Bundestagsfraktion zumindest in Nicht-Sitzungswochen des Parlaments ein paar Lücken aufwies, ist auf Monate gefüllt. Doch die Erfahrungen aus den neunziger Jahren helfen der studierten Anglistin heute, Verwaltungsabläufe zu verstehen und sie für sich zu nutzen.
Anders als Gerhard Schröders Büroleiterin Sigrid Krampitz muss Baumann keine Treppen steigen, wenn sie ins Herz der Regierungszentrale gelangen will. Ihr Büro liegt auf derselben Etage wie das der Kanzlerin. Sie geht nur wenige Schritte über den Flur, vorbei an den Porträts von Adenauer, Erhard, Kiesinger, Brandt, Schmidt, Kohl und Schröder, zu dem 140 Quadratmeter großen Amtszimmer mit Blick auf den Reichstag. Weil Professor Joachim Sauer, Merkels Ehemann, nicht auf die Idee kam, im Kanzleramt Präsenz zeigen zu wollen, ist Baumann dort eingezogen, wo früher Doris Schröder-Köpf einen Schreibtisch belegte.
Auch Böhmer verfügt über Erfahrung im Umgang mit Verwaltungen. Die 55-Jährige war acht Jahre lang Landes-Frauenbeauftragte in Rheinland-Pfalz. Doch nicht nur, dass sie jetzt lange warten musste, bis ein Internet-Anschluss in ihr Büro im fünften Stock gelegt wurde, das zu rot-grünen Zeiten lediglich als Konferenzraum diente: Sie muss ihr Amt regelrecht neu erfinden. „Ich war für das Haus eine Überraschung und eine Herausforderung“, sagt sie zu ihrer Ernennung als Integrationsbeauftragte im Rang einer Staatsministerin. Vor ihr gab es vier Ausländerbeauftragte der Bundesregierungen, aber sie ist die erste, die im Kanzleramt angesiedelt ist. Es gibt Stimmen, die behaupten, so wurde ein Regierungsposten für Böhmer gefunden, nachdem diese Merkel jahrelang unterstützt hatte. Klar ist aber, dass die Kanzlerin der Integrationspolitik hohen Stellenwert beimisst. Ebenso wie Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble. Das eröffnet der Pädagogik-Professorin große Gestaltungsmöglichkeiten. Schließlich wird sie mit Schäuble produktiver zusammenarbeiten können als ihre Vorgängerin Marie-Luise Beck mit dem damaligen Innenminister Otto Schily. Zu stark war dessen Absolutheitsanspruch. Geschickt scheint diese Personalie ohnehin, denn sie verknüpft die Ausländerpolitik mit der Frauenpolitik. Böhmer ist Vorsitzende der Frauen Union und hat bereits im Wahlkampf ihre Truppen für die Integration sensibilisiert, Kontakte zu türkischstämmigen Autorinnen wie Necla Kelek geknüpft und die Eingliederung von Zuwanderern in die Gesellschaft auf deutscher wie auf nicht-deutscher Seite als wesentliche Aufgabe gerade von Frauen begriffen: Sie vermitteln den kommenden Generationen die Sprache und erziehen zu Toleranz.
Dass sie alle in ihren neuen Ämtern arbeiten, weil sie Frauen sind, würden die drei weit von sich weisen. Natürlich gibt es auf dieser Top-Etage keine Quotierung, auch keine unbewusste. Und natürlich hat Merkel auch viele Männer in ihr unmittelbares Umfeld befördert, wie de Maizière oder Regierungssprecher Ulrich Wilhelm. Doch da ist eben die langjährige Verbundenheit. Man schätzt aneinander die absolute Loyalität, die Tatsache, dass Konflikte im direkten Gespräch ausgetragen werden und nach außen geschwiegen wird. Die Attacken aus der von Männern dominierten Union, die Merkel jahrelang das Leben schwer machten, schweißten zusammen.
Der Trumpf von Diplom-Kauffrau Hildegard Müller sind vier Jahre als Vorsitzende der Jungen Union und endlose Diskussionen im Präsidium der CDU, dem sie seit 2000 angehört. Das stählt. Müller kennt sie, die Minister und Ministerpräsidenten, die Kollegen in den Staatskanzleien und Landesparlamenten. Dies erweist sich als Vorteil für ihre neue Aufgabe als Koordinatorin der Bund-Länder-Arbeit. Bevor Regierungsvorhaben auf den Weg gebracht werden, sondiert sie das Terrain, damit unterschiedliche Positionen möglichst früh angeglichen werden können. Kein leichtes Unterfangen und für jemanden ohne breite Kontakte kaum zu schaffen, meint Müller. „Es gibt eben nicht den kleinen Leitfaden für angehende Staatsminister“, sagt sie. „Krisenintervention funktioniert nicht nach Schema F.“ Gefordert sind unzählige Gespräche, langwierige Sitzungen und ein feines Gespür für drohende Sprengsätze.
Der Arbeitstag im Kanzleramt beginnt zeitig. Um 7:45 Uhr, spätestens um 8:30 Uhr treffen sich die engsten Vertrauten der Kanzlerin zur so genannten Morgenlage in einem Besprechungsraum im siebten Stock. Dabei sind der Chef des Kanzleramtes, Thomas de Maizière, Regierungssprecher Ulrich Wilhelm oder sein Stellvertreter Thomas Steg, je nach Themenlage Generalsekretär Ronald Pofalla, Fraktionschef Volker Kauder sowie Norbert Röttgen, der Erste Parlamentarische Geschäftsführer, und eben Baumann und Müller. Um auf der Höhe der Zeit zu sein, haben alle Beteiligten vorher schon die Nachrichtenlage studiert, sich über aktuelle Entwicklungen informiert und die Themen des Tages vorbereitet. Die einen tun das im Büro, wie Müller, die am liebsten ab sieben Uhr am Schreibtisch sitzt, um sich in Ruhe vorzubereiten. Die anderen, wie Wilhelm, lesen die neuesten Meldungen auch schon einmal im Auto.
Sehr strukturiert und konzentriert läuft das Gespräch ab. Merkel erteilt das Wort. Die Runde erläutert, was am Tag in Kabinett, Fraktion, Bundestag, Bundesrat oder auch in Brüssel zu erwarten ist. Man informiert sich gegenseitig über die Vorgänge der vergangenen 24 Stunden – über das, was geregelt wurde oder eben nicht geklärt werden konnte. „Einen wichtigen Informationsaustausch“ nennt es Wilhelm, der „komplett auf die Kanzlerin zugeschnitten“ sei. Denn ist Merkel auf Reisen, findet die Morgenlage nicht statt.
Normale Arbeitstage des politischen Spitzenpersonals werden bestimmt von regelmäßig wiederkehrenden Besprechungsrunden, von zahlreichen Telefonaten, von Auftritten im Bundestag und Terminen in der gesamten Republik. Die Teller mit den Ananas- und Melonen-Stückchen, die der Koch des Amtes auf die Schreibtische tragen lässt, vermitteln zumindest die Illusion, in der von Tempo und Disziplin dominierten Welt ein wenig für die Gesundheit zu tun. Regelmäßige Mahlzeiten haben die Spitzenfrauen ebenso abgehakt wie planbare Freizeit. „Ich versuche, am Wochenende ohne schlechtes Gewissen zumindest einen Tag für mein Privatleben freizuhalten“, sagt Müller. „Man darf von denen, die einem am liebsten sind, nicht zu viel verlangen.“ Und auch Böhmer sucht möglichst am Samstag die Nähe zum normalen Leben und genießt es, ihre Einkäufe selbst zu erledigen.
Die erste Bewährungsprobe ist bestanden. Die Bilanz der hundert Tage fällt gut aus. Allein schon wegen des professionellen Auftritts der Kanzlerin in der Außenpolitik. Aber auch, weil sich der Regierungswechsel lautlos, wie es die Atmosphäre im Amt empfiehlt, und doch mit klarem neuen Akzent vollzog. Der Ton klingt hier und da zwar schon einmal gereizt. „Kinder-Betreuungskosten“ und „Rente mit 67“ lauten die Stichworte für die ersten Hakeleien in der Koalition. Wirkliche innenpolitische Herausforderungen wie die Gesundheitsreform sind erst einmal auf die lange Bank geschoben – bis nach den Landtagswahlen Ende März allemal. Doch möglicherweise wird der auf Kooperation ausgerichtete Ton das gesamte Jahr überdauern. Man weiß nicht nur am Sitz der Kanzlerin, sondern auch bei ihrem Vize Franz Müntefering und seinen Truppen, dass die Bürger ein leichtfertiges Jonglieren mit dem Bündnis nicht honorieren würden. Im Jahr 2007 wird es schwieriger. Dann ist die Mehrwertsteuer erhöht, des Volkes Laune angesichts der unangenehmen Realitäten schon wieder strapaziert und der Zeitpunkt für die Eigenprofilierung der einzelnen Parteien näher gerückt.
Bis dahin werden die Frauen im Kanzleramt etliche Male durch die langen, leeren Flure zum Büro der Kanzlerin gelaufen sein. Sie werden sicher auf einige Erfolge ihrer Arbeit blicken können, aber wahrscheinlich auch hier und da auf Rückschläge. Möglicherweise werden sie ihren Vorsatz wahr gemacht haben, einmal in Ruhe einen Kaffee miteinander zu trinken, und vielleicht auch mit Angela Merkel spätabends ein Glas Rotwein geleert haben.
Diskret steckt Müllers Büroleiterin den Kopf zur Tür hinein und erinnert die Staatsministerin an die anstehende Besprechung mit den Bevollmächtigten der Länder, um die nächste Bundesratssitzung vorzubereiten. Vorsichtig mahnt die Mitarbeiterin Maria Böhmer, dass es höchste Zeit sei, zum Staatsakt für den verstorbenen Bundespräsidenten Johannes Rau zu fahren. Und die Sekretärin von Beate Baumann meldet bereits den nächsten Besucher bei der Mannschaft der Bundespolizei unten an der Pforte an.
Meist verschwinden die Staatsministerinnen in solchen Momenten noch einmal kurz hinter den Schrankwänden aus Rotbuche, die in gewöhnungsbedürftigem Kontrast zum grün-blauen Teppichboden stehen. Am Ende der Büros lassen diese Schrankwände eine Lücke zur Fensterfront und eröffnen einen Spalt, hinter dem sich Privatsphäre auftut – mit einem Bad und einem Bett, auf dem die Polit-Frauen ausruhen können – irgendwann einmal, nur sicher nicht gerade jetzt. Regieren fordert Wachsamkeit.
Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.