Das Brüder-Treffen in Hornberg
Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hat einen jüngeren und einen älteren Bruder.
Der Himmel über Hornberg ist blau, die Luft klar. Auf dem Berg über der Stadt in der Ortenau ragt das Schloss empor. Einst war es im Besitz des Grafen von Württemberg. Heute beherbergt es vorwiegend Wanderer in karierten Hemden und Kniebundhosen. Die Brüder sind zuerst da: Frieder der Ältere, Thomas der Jüngere. Sie überlegen, wo man sich für die erste Plauderrunde niederlässt, wo man später mit der gesamten Familie Kaffee trinken soll. An den Holztischen im Garten unter den Bäumen? Oder besser im Restaurant? Ihr Gedanke dabei ist, wo sich „der Wolf“ am wohlsten fühlen mag. Ist es der Umstand, dass Wolfgang Schäuble an den Rollstuhl gefesselt ist, oder wirkt seine natürliche Autorität auch auf die Verwandtschaft? Der mittlere Bruder, der in einer gepanzerten Limousine mit Sicherheitsbeamten vorfährt, entscheidet sich sofort für die Terrasse in der prallen Sonne. Da bleibt dem Jüngsten im Trio, der es offensichtlich lieber schattiger gehabt hätte, als Rettung nur ein Sonnenschirm.
Drei Brüder, drei promovierte Juristen, drei CDU-Männer. Drei, die ihre Heimatstadt verließen, weil ihnen das schmale Schwarzwald-Tal zu eng wurde. Sie finden an diesem Wochenende im Mai zusammen, weil der Vater am Sonntag hundert geworden wäre. Drei, die vieles gemeinsam haben und doch so unterschiedlich sind.
Frieder, 1937 geboren, ist der Fröhliche, der Ausgeglichene. Er lebt in Leipzig und vollzieht derzeit einen schrittweisen Wechsel aus seiner Anwaltskanzlei in den Ruhestand. Thomas, Jahrgang 1948, wirkt unruhiger, getriebener. Nach seiner Zeit als Abgeordneter und Minister in Baden-Württemberg wurde er Vorstand der landeseigenen Badischen Staatsbrauerei Rothaus. Wolfgang, 1942 geboren, strahlt das Selbstbewusstsein derer aus, die von der eigenen Leistung und dem eigenen Können überzeugt sind, die ihre Position verinnerlicht haben, und er schafft es dabei, zumindest nach außen hin den Eindruck zu erwecken, als sei ihm jeglicher Ehrgeiz fremd.
So erwidert Wolfgang Schäuble ein kurzes „Ich kann mich nicht erinnern“ auf die Frage, ob Ehrgeiz ihn früh angetrieben habe, ob etwa zum großen Bruder ein Konkurrenzverhältnis bestand. Frieder Schäuble schmunzelt. Er weiß noch zu gut, wie ihm der fünf Jahre Jüngere jahrelang das Leben schwer machte, weil der so schnell und so stark sein wollte wie der Große, weil der so lange aufbleiben wollte wie der Ältere und all dessen Rechte auch für sich beanspruchte. Es gab heftige Debatten und vor allem regelmäßiges Kräftemessen. Dabei war Wolfgang ein schmächtiges und in jungen Jahren häufig kränkelndes Kind mit einer damals schwer zu behandelnden Atemwegserkrankung. „Der Arzt hat wohl zu Mama gesagt, sie hätte ja noch einen Sohn und könne auch noch weitere Kinder bekommen. Offenbar hat man mit mir nicht viel Hoffnung gehabt“, erinnert er die Brüder. Für den Älteren wurde darum die Devise ausgegeben, den Kleineren nie aufzuregen, nie böse zu ihm zu sein. „Das ist hart für einen großen Bruder“, sagt Frieder Schäuble. „Man sieht, was draus geworden ist“, ergänzt Thomas, der Jüngste.
Draus geworden ist eine der brillantesten, aber in Teilen auch tragischsten Führungsfiguren der Bundesrepublik. Ein Pragmatiker der Macht, der beispiellose Herausforderungen wie das Aushandeln des Einigungsvertrags bravourös meisterte. Ein Vollblutpolitiker mit Kanzlerformat, der dann aber auf die Kronprinzenrolle reduziert wurde. Ein von sich Überzeugter, der an einem Detail der Spendenaffäre und dem System Kohl scheiterte. Ein Pflichtmensch, der zurück ins Glied trat und scheinbar gelassen seinen Aufgaben nachging, um nun – er mag es als Genugtuung empfinden – als Garant für die Innere Sicherheit den Konservativen und als Wegbereiter der Integration den Modernisierern in der Partei als Lichtblick zu gelten.
Immer schon wollte er der Beste sein, zumindest bei den Besten mitmischen. Da gibt es die Geschichte aus Kindertagen: Wolfgang klemmte gern den Ball unter den Arm und lief davon, wenn beim Fußball eine unabwendbare Niederlage drohte. „Quatsch“, sagt der Minister. „Der Fußball gehörte mir. Es war ein echter Lederball. Und die Großen wollten mich nicht mitspielen lassen.“ Sein Bruder ergänzt, er und seine Freunde hätten „Wolf“ gern auf die Außenposition gestellt. Da sollte er möglichst nicht stören. „Das habe ich gemerkt und hab den Ball mitgenommen.“ Selber schuld, wer ihn nicht wollte.
Wolfgang Schäuble kämpfte jahrelang im örtlichen Fußballverein – bis seine Eltern ihn nach einem heftigen Zusammenprall und einer starken Gehirnerschütterung endgültig vom Platz holten. Er spielte Tennis – wie der kleine Bruder. Doch der war besser. „Wir haben es meistens vermieden, gegeneinander zu spielen“, sagt Thomas Schäuble.
Je weiter die drei gedanklich in ihre Kindheit zurückwandern, desto gelöster erzählen sie Anekdoten von damals. Etwa die vom legendären WM-Finale Deutschland gegen Ungarn 1954. Man saß zu Hause vor dem Radio. „Wolf hat gesagt, wir gewinnen“, erzählt Thomas Schäuble. „Er war immer ein hoffnungsloser Optimist. Mein Vater aber war das Gegenteil. Er war vorsichtig.“ Und er mochte es nicht, so erinnern sich die drei Brüder, wenn Dinge vor der Zeit beschrien wurden. Beim 0:2 jedenfalls fing sich Wolfgang eine kräftige Ohrfeige ein. „‚Da hast Du’s‘, hat er gesagt. So, als wäre ich schuld“, lacht der Minister. „Ich bin dann unter Tränen dabei geblieben: Und wir gewinnen doch.“
Vater Karl Schäuble war ein fordernder Mann. „Vom Durchschnitt haben wir genug“, prägte er den Söhnen ein. Er war zunächst Prokurist in der Hornberger Buntweberei, später machte er sich als Steuerberater selbstständig. Er sicherte der Familie ein gut situiertes bürgerliches Leben, das geprägt war von Disziplin, Tradition und Geborgenheit. Zu den Ritualen im Hause Schäuble gehörte, die Märklin H-Null aufzubauen. „In dem Haus, in dem wir wohnten, waren nach dem Krieg französische Soldaten einquartiert. Die durften nicht mitkriegen, dass wir zu Weihnachten die Eisenbahn aufbauten und dafür ein ganzes Zimmer frei räumten“, erzählt Wolfgang Schäuble. Möglicherweise wären sonst noch weitere Personen dort untergebracht worden. Und an „Papas Hamsterkittel“ erinnert er sich gut, an die Jacke, die der Vater immer anzog, wenn er tat, was nach dem Krieg alle taten. Und daran, dass er als Junge vom „Hamsterkittel“ sprach, als Fremde dabei waren, was die Eltern nicht als glücklich empfanden.
Wenn die Schäuble-Söhne von Vater und Mutter sprechen, werden die Worte geradezu weihevoll. „Anstand, Weisheit und Klugheit waren prägend“, sagt Thomas. „Unsere Eltern waren redliche Leute. Jemanden anzulügen oder zum eigenen Vorteil Schaden zuzufügen war unvorstellbar“, ergänzt der Älteste. „Unsere Mutter hatte einmal keine 20 Pfennig für die Parkuhr“, erzählt Wolfgang Schäuble. „Da ist sie am nächsten Tag hingefahren und hat das Geld eingeworfen. Wir haben natürlich darüber gelacht. Aber wir hatten Respekt davor.“
Der Vater zeichnet den dreien den Weg in die Union vor. Ihm, dem die Zentrumspartei vor dem Krieg zu katholisch geprägt war, gefiel die Grundidee der CDU, eine überkonfessionelle Partei zu sein. Politik war zu Hause immer ein Thema. Das hat sich allen drei Brüdern eingeprägt. Auch die Tatsache, dass der Vater – vor seiner Zeit im badischen Landtag – beinahe Bürgermeister im Nachbarort Hasslach geworden wäre. Beinahe. „Das Erzbischöfliche Ordinariat hat damals interveniert“, erzählt Wolfgang Schäuble. Der Grund: Der Katholik Karl Schäuble hatte eine Protestantin geheiratet und die Söhne evangelisch taufen lassen. Zu Hause bei Tisch wurde viel diskutiert. Jeder, so erinnern sich die drei Männer, habe seine Meinung äußern, auch konträre Positionen zum Vater vertreten dürfen – vorausgesetzt, er konnte sie gut begründen. „Er hat keinen Druck ausgeübt. Genau deshalb war er so überzeugend“, sagt Wolfgang.
Der Älteste, der in Vaters CDU Plakate klebte und während des Studiums Landesvorsitzender des RCDS war, stieg später aus der aktiven Politik aus. Die parteiinternen Querelen störten ihn. Einen Namen machte er sich als Anwalt für Gesellschafts- und Unternehmensrecht zuerst in Stuttgart und später in Leipzig.
Der Jüngste war jahrelang politisch aktiv – als Oberbürgermeister von Gaggenau, Abgeordneter und Minister in Baden-Württemberg.
Der Mittlere zog 1972 in den Bundestag ein und sein Weg nach ganz oben war vorgezeichnet – bis zu dem Tag in seinem Leben, an dem durch die Tat eines geistig Verwirrten nicht nur die Karriere jäh gestoppt schien. Thomas Schäuble erinnert sich, dass er am Abend des 12.Oktober 1990 wegen einer beginnenden Erkältung früh im Bett lag. Polizisten aus dem Ort klingelten das Stadtoberhaupt wach. Sie berichteten ihm von einem Anschlag auf den Bruder. Ein Mann hatte drei Schüsse aus einem Revolver auf Wolfgang abgefeuert, als der ein Gasthaus in Oppenau nach einer Wahlkampfrede verlassen wollte. Eine Kugel hatte den damaligen Innenminister am Kopf getroffen, eine am Rücken, die dritte hatte ein Sicherheitsbeamter mit seinem Körper abgefangen.
Ein gespenstischer Abend sei das gewesen, erzählt Thomas: Draußen vor der Klinik in Freiburg tauchten die Scheinwerfer der Fernsehteams die Szenerie in gleißendes Licht. Drinnen war es nahezu vollkommen dunkel, als der Chef der Neurochirurgie ihm und seiner mittlerweile ebenfalls eingetroffenen Schwägerin Ingeborg Schäuble erklärte, dass die Einschusswunde am Kiefer nicht mehr lebensbedrohlich sei, die Verletzung der Wirbelsäule aber bald, wenn auch nicht zwingend sofort, operiert werden müsse.
Thomas Schäuble wollte damals den besten Arzt für seinen Bruder finden. Spezialisten sollten in den Schwarzwald kommen. Das Kanzleramt müsste doch den Besten der Besten herbeiholen können, notfalls einfliegen lassen. „In den Nachrichten hieß es ständig, der Bundeskanzler halte sich auf dem Laufenden. Wir aber saßen allein da. Keiner rief an. Wenn Helmut Kohl sich hätte informieren wollen, wäre es das Normalste gewesen, wenn er mit den Ärzten oder mit Wolfgangs Frau Kontakt aufgenommen hätte. Das hat er aber nicht.“
Der, um den es geht, versucht, den jüngeren Bruder zu bremsen. „Da hat einmal der Pressesprecher gesagt, was man in solchen Momenten so sagt. Das läuft dann immer wieder. Was soll er auch machen?“ Doch Thomas Schäuble will sich nicht beruhigen: „Das ist zu milde. Das Kanzleramt hätte die Möglichkeit gehabt, sehr schnell festzustellen, ob der Arzt in Freiburg wirklich gut ist, oder ob es anderswo in Deutschland, in Paris oder sonst wo eine Kapazität gab, die man gebeten hätte, sofort zu kommen.“ Und dann erzählt er noch, wie er versuchte, Helmut Kohl früh am nächsten Morgen zu sprechen, doch wieder nicht zu ihm durchkam.
„Ach, Quatsch.“ Auf die Frage, ob er glaubt, seine medizinische Versorgung hätte besser sein können, wenn das Kanzleramt im Sinne des Bruders aktiv geworden wäre, ist Wolfgang Schäuble wieder der absolute Kopfmensch. „Wenn das Rückenmark verletzt ist, dann ist das so. Ich hatte nie die Hoffnung, dass die Lähmung wieder verschwindet.“ Die Geschichten von Menschen, die nach einiger Zeit wieder laufen könnten, beträfen doch nicht Fälle wie seinen, in denen das Rückenmark schwer geschädigt wurde. „Das ist nicht heilbar. Da ich das relativ schnell begriffen hatte, habe ich mich darüber auch nicht weiter aufgeregt. Das ist auch klüger so. Denn wenn man falschen Hoffnungen nachhängt, arrangiert man sich nicht.“
Das Attentat habe seinen Bruder verändert, sagt Frieder Schäuble. Wolfgang sei seither gelassener, längst nicht mehr so ungeduldig mit sich und anderen, wie es zuvor häufig der Fall gewesen war. Abgeordnete schreckten früher schon einmal zurück, wenn sich die Aufzugtüre öffnete und Wolfgang Schäuble sie ansah. Politische Mitstreiter mussten sich zwar auch später hin und wieder noch Maßregelungen anhören. Legendär ist das „Jetzt bischt ruhig, Rudi“, mit dem Schäuble, damals Unions-Fraktionschef im Bundestag, den damaligen Innenminister Rudolf Seiters während der Verhandlungen zum Asyl-Kompromiss ausbremste. Doch der ironische Grundzug, der ihm vielfach als Zynismus ausgelegt wird, zeige sich heute milder.
Mehr als durch die Querschnittslähmung allerdings sieht der Ältere seinen jüngeren Bruder durch den Bruch der Karriere, die CDU-Parteispendenaffäre, verletzt. Ausgiebig haben die beiden über diesen Vorgang gesprochen, der Wolfgang Schäuble im Jahr 2000 das Amt des CDU-Vorsitzenden kostete – und ihm den denkbaren Einzug ins Kanzleramt verbaute. Es sei dem jüngeren Bruder ein „heftiges Bedürfnis“ gewesen, dem Älteren zu erklären, wie es sich verhalten hatte mit der 100000Mark-Spende vom Rüstungslobbyisten Schreiber, die zu der – in der Rückschau erst recht sinnlos scheinenden – Kontroverse mit der ehemaligen CDU-Schatzmeisterin Brigitte Baumeister führte. Die Tatsache, dass Schäuble vor dem Bundestag seine Aussage über Begegnungen mit Schreiber korrigieren musste, ist für den Bruder aus heutiger Sicht eine „Ungeschicklichkeit“. Für Frieder Schäuble steht fest, dass „Wolf“ damals im Recht war. „Dafür würde ich die Hand ins Feuer legen.“ Doch habe dieser lange nicht akzeptieren können, dass man ihn als langjährigen Vertrauten von Kohl für dessen System in Mithaftung nahm.
Nach und nach treffen die Ehefrauen, Kinder und Enkel auf Schloss Hornberg ein. Die Familie sei durch die Schläge der vergangenen Jahre zusammengerückt, sagen die Brüder. Nicht, dass man eng aufeinanderhocke. Dafür sind alle drei zu beschäftigt. Aber man sucht das regelmäßige Gespräch und hat nach dem Tod der Eltern einen „Jour fixe“ eingeführt, damit man sich einmal im Jahr auf jeden Fall sieht. Haben sie weiter Angst um den Bruder, der durch seine herausgehobene Position eine gefährdete Person ist? „Wir haben eher Angst vor ihm“, verdrängen sie die durchaus existierende Sorge. Und wo wird sein Weg enden? Vielleicht doch irgendwann im Bundespräsidialamt? „Bundespräsident, das könnte er wohl“, sagt Frieder Schäuble. Doch da knurrt „Wolf“ nur: „Wir haben einen Bundespräsidenten.“
Martina Fietz ist Parlamentarische Korrespondentin bei Cicero
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