
- In Bayern wird ausgesiebt, in Berlin abgeschult
Diese Woche erschien der Chancenspiegel, ein gemeinsames Projekt der Bertelsmann Stiftung und des Instituts für Schulentwicklung (IFS). Cicero Online sprach mit Ulrich Kober, der an der Studie mitwirkte, über Defizite und Chancen der deutschen Bildungspolitik
Herr Kober, ich erinnere mich an eine Zeit, da hieß es
noch: „Kniet nieder, wir haben Abitur in Bayern gemacht!“ Zählt das
bayrische Abitur zwölf Jahre nach dem ersten PISA-Schock immer noch
mehr als beispielsweise eines aus Brandenburg?
Hier
hat sich einiges getan. Nach der Veröffentlichung der ersten
PISA-Studie im Jahr 2000 führten die meisten Bundesländer das
Zentralabitur ein, was in Bayern und Baden-Württemberg bereits seit
zehn Jahren gängig war. Nun wird darüber diskutiert, das
Zentralabitur auf Bundesebene auszuweiten, doch stellt sich die
Frage, ob das realisierbar ist. Immerhin müssten dafür alle
Kultusminister zustimmen… Ich denke nicht, dass das bayrische
Abitur mehr zählt als andere. Doch was wir in unserem Chancenspiegel festgestellt haben, ist, dass
die Chance junger Erwachsener in Deutschland eine Hochschulreife zu
erlangen, sehr unterschiedlich ausfällt.
Woran
liegt das?
In Bayern werden die Zugänge sehr eng
gehalten. Die relative Chance eines Akademikerkindes ein Gymnasium
zu besuchen, liegen im Vergleich zu einem Arbeiterkind bei 6,5
Prozent, in Baden-Württemberg sind es sogar 6,6 Prozent. Dagegen
ist in Berlin der Zugang zum Gymnasium mit 1,7 Prozent relativ
offen. Dass manche Kinder in manchen Bundesländern leistungsmäßig
eher voranschreiten als andere, ist immer noch zu großen Teilen auf
den jeweiligen Bildungshintergrund zurückzuführen. Vor allem im
Westen Deutschlands dominiert das Halbtagsschulsystem. Hier gehen
die Kinder bis mittags zur Schule, die Hausaufgaben werden
nachmittags erledigt, wobei sei meist die Unterstützung von den
Eltern bekommen. Reicht das nicht mehr aus, werden soziale
Ressourcen ausgeschöpft, Nachhilfe wird organisiert und hier stoßen
bildungsferne oder sozial schwache Familien an ihre Grenzen. Es
gilt die Abhängigkeit des Bildungserfolges von der Herkunft
proaktiv zu bekämpfen.
Das heißt, die Schule müsste sich intensiver der
individuellen Förderung der Kinder annehmen?
Ja. Mein
Sohn besucht die vierte Klasse und kam mit einer Mathehausaufgabe
nach Hause, die ich trotz Abitur und Hochschulabschluss nicht lösen
konnte. Das erleben viele Eltern. Unser westliches System schreibt
dem familiären Einfluss im Bildungsprozess eine entscheidende Rolle
zu. Die Ganztagsschule würde hier einen Rahmen bieten, in dem
besser individuell gefördert werden kann. Länder, in denen die
Chance der Arbeiterkinder ein Gymnasium zu besuchen, höher ist,
haben fast immer ein ausgebautes Ganztagsschulsystem.
Brauchen wir die bundesweite Einführung der
Ganztagsschule?
Absolut. Deutschland ist in zwei
Feldern Entwicklungsland: Beim Thema Inklusion und beim Thema
Ganztagsschulwesen. Hier existieren sehr disparate Modelle von
Ganztagsschulen, den offenen Ganztag, Hortmodelle, teilgebundener
Ganztag. Das bedeutet natürlich auch, dass der Erfolg auf
Leistungsebene ein sehr unterschiedlicher ist. Hier muss also noch
einiges passieren.
Der Indikator der Inklusion ist im Ländervergleich des
Chancenspiegels ein sehr wichtiger. Welche Rolle spielt er im
deutschen Bildungssystem?
Ein integratives System ist
eines, das möglichst viele Kinder in Regelschulen integriert und
nicht separat in Förderschulen unterrichtet. Die Exklusionsquote
liegt deutschlandweit bei einem Wert von durschnittlich 5,0
Prozent, mit einem Spitzenreiter wie Schleswig-Holstein im
2-Prozent-Bereich und Mecklenburg-Vorpommern im 8-Prozent-Bereich.
Das ist eine gravierende Schwankung. Inklusion bedeutet eine Chance
für Kinder mit Förderbedarf. Wenn das gut gemacht wird, genügend
Lehrer vorhanden sind und die Ressourcen stimmen, profitieren alle
Kinder davon.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, ob Deutschland ein einheitliches Bildungssystem braucht.
In Deutschland wird das föderale Schulsystem immer
wieder kritisiert.
Brauchen wir eine einheitlich Bildungspolitik?
Das
ist nicht unbedingt erforderlich. Blicken wir doch nach Kanada.
Kanada hat ein hoch föderales Bildungssystem und nicht einmal ein
nationales Bildungsministerium. Und trotzdem ist es sehr
erfolgreich bei PISA und was beispielsweise die Integration von
Migrantenkindern oder die Kompensation von Bildungsnachzahlen aus
sozialen Schichten angeht. Zentrale Strukturen sind nicht immer
eine Garant für eine erfolgreiche Bildungspolitik. Strukturfragen
sind wichtig, aber die müssen entsprechend mit Leben gefüllt sein.
Eine Gesamtschule ohne faktisch individuelle Förderung ist eine
Mogelpackung. Ein wichtiger Indikator ist dabei die Dimension der
Durchlässigkeit, die in Deutschland meist nur nach unten
funktioniert. Es ist frappierend zu sehen, dass beispielsweise in
der Sekundarstufe, sprich den Klassen 7 bis 9, einem
Aufwärtswechsel im Durchschnitt 4,3 Abwärtswechsel folgen, in
manchen Ländern sind es sogar zehn oder noch mehr. Das Bewusstsein
der Schulen, sich für den Bildungserfolg eines Kindes
verantwortlich zu fühlen, ist hierzulande nicht ausreichend
ausgeprägt.
Sprich, in Ländern wie Bayern wird vorher ausgesiebt, in
Berlin dagegen wird im Nachhinein abgeschult. Was wäre die
sinnvollere Variante?
Der Punkt ist ein anderer: Warum
müssen Kinder unterschiedlicher Leistungsstände und
unterschiedliche Intelligenzen überhaupt separat beschult werden?
Dafür bräuchte man nicht drei, vier oder fünf Schulformen, sondern
tausende. Das Schulsystem muss sich grundsätzlich besser darauf
einstellen, mit Vielfalt zu hantieren. Wir befinden uns nicht mehr
in den 1950er Jahren, in denen 10 Prozent des Jahrgangs aufs
Gymnasium wechselten. Heute sind es über 40 Prozent, in größeren
Städten, in manchen Stadtteilen von Hamburg beispielsweise, sind es
über 80 Prozent. Wir müssen in Deutschland von der Theorie der
Begabungsgerechtigkeit Abschied nehmen und von der Idee, Kinder
würden am besten in homogenen Gruppen lernen.
Sie meinen, eine heterogene Lerngruppe könnte eine
Chance für mehr Leistungsfähigkeit sein?
Empirische
Studien belegen das. Das Problem der Hauptschule ist ja nicht die
Hauptschule an sich, sonder dass sie ein lernschwaches Ambiente
bietet. Hier sitzen Kinder zusammen, denen die Versagenserfahrung
in den Knochen steckt, weil sie es nicht geschafft haben, auf eine
höhere Schule zu kommen. Das ist extrem demotivierend.
Ist es dann nicht Aufgabe des Lehrers, eine motivierende
Umgebung zu schaffen? Erst kürzlich hieß es von Seiten des
Kultusministeriums, dass es die Lehrerbildung diesbezüglich an
Hochschulen verbessern möchte.
Die Schule bildet ja
nur den Rahmen. Wir müssen unbedingt in die Kompetenzen der Lehrer
investieren, denn schließlich sind sie für die individuelle
Förderung der Kinder verantwortlich. Dabei müssen sie vor allem
darin unterstützt werden, sich auf ein vielfältiges Klassenzimmer
einzurichten. Sie müssen in der Lage sein, besser zu
individualisieren, zu differenzieren.
Für Ihren Chancenspiegel haben Sie unterschiedliche
Daten der einzelnen Bundesländer abgeglichen. Die Kultusminister
stellen sich doch gerade wenn es beispielsweise um die
PISA-Ergebnisse geht, teilweise quer und verwehren den Zugang dazu.
Wie wichtig ist Transparenz für die deutsche
Bildungspolitik?
Wenn ich Kultusminister wäre, wäre es
mir auch unangenehm, ständig irgendwelche Bildungsstudien von
wissenschaftlichen Instituten um die Ohren geschlagen zu bekommen,
die zeigen, wo überall noch Handlungsbedarf ist. Aber wir leben in
einer freien und offenen Gesellschaft, in der wir Anspruch
darauf haben, zu wissen, was an deutschen Schulen passiert.
Transparenz ist dabei sehr wichtig, gerade in der Bildungspolitik.
Genau das haben wir auch von PISA gelernt. Transparenz sollte daher
der Freund der Kultusminister sein und nicht der Feind.
Das Interview führte Sarah Maria Deckert.
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