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Armenspeisung - Schluss mit den Tafeln!

Die Tafeln versorgen regelmäßig 1,5 Millionen Deutsche. Schluss damit, fordert Stefan Selke. Zwanzig Jahre nach der Gründung der Tafeln müsse man das Konzept der Armenversorgung neu überdenken

Antje Hildebrandt

Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Ein Aktionsbündnis lädt vom 26. bis 28. April zu Protesten gegen die Tafeln nach Berlin ein. Das Motto: „Armgespeist. 20 Jahre Tafel sind genug.“ Angeführt wird es von Stefan Selke, 45, Autor des Buches „Schamland“ und Soziologie-Professor an der Hochschule Furtwangen.

 

[[{"fid":"52947","view_mode":"teaser","type":"media","attributes":{"height":220,"width":139,"style":"width: 120px; height: 190px; margin: 5px 10px; float: left;","class":"media-element file-teaser"}}]]Herr Selke, wann haben Sie zuletzt gehungert?
Ich glaube, dass bei uns niemand richtig hungern muss. Aber dieses Gefühl, dass einem zwischendurch mal der Magen knurrt, das hatte ich erst gestern. Sehr unangenehm. Ich bin vor lauter Arbeit nicht zum Mittagessen gekommen. 

1,5 Millionen Deutsche könnten sich nicht satt essen, wenn es keine ehrenamtlichen Helfer gäbe, die Lebensmittel an Bedürftige verteilen. Was sollten die ohne die Tafel machen?
Ich habe bei den Recherchen für mein neues Buch tatsächlich Menschen getroffen, die gesagt haben: „Ich habe drei Tage lang gehungert, aber dann habe ich mich überwunden und bin zur Tafel gegangen.“ Solche Fälle gibt es.
Aber die Frage, die Sie damit verknüpfen, halte ich für problematisch: Wie sollten die Leute ohne die Tafel überleben? Die Frage müsste doch lauten: Was wäre, wenn wir eine Politik hätten, die Armut vorbeugt oder bekämpft? Armut und Hunger sind das Problem einer verpassten Politik. 

Was ist denn falsch daran, dass sich in Deutschland 50.000 Ehrenamtliche in der Tafelbewegung dafür engagieren, die schlimmsten Folgen der Armut zu lindern?
Falsch ist daran gar nichts. Schlimm ist, dass sich die Tafelbewegung zu einem eigenmächtigen System entwickelt hat, das nicht die Interessen der Bedürftigen vertritt, sondern die der Anbieter.   Die Bewegung hat sich zu einem Sozialstaat im Sozialstaat entwickelt, und der wird von der  Wirtschaft unterstützt und von der Politik  instrumentalisiert.

Moment, wir reden von 1,5 Millionen Menschen, die die Tafel regelmäßig nutzen. Kann man da vom Sozialstaat im Sozialstaat reden?
Das ist eine Metapher, die ich aus Interviews mit Betroffenen entnommen habe. Die fühlen sich weitergereicht, vom Jobcenter zur Tafel. Dort müssen sie die Hosen wieder herunterlassen. Die Idee, das Überflüssige zu verteilen, hat sich verwandelt in das Paradigma, das Fehlende zu ersetzen. Das ist uferlos. Es führt dazu, dass immer mehr Dinge angeboten werden.

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Sie spielen darauf an, dass es inzwischen eigene Tafeln für Besitzer von Haustieren gibt.
Nein, die schließen ja eine echte Lücke. Es gibt aber Tafeln, die kaufen inzwischen Lebensmittel zu oder produzieren sie sogar selber. Die Singener Tafel zum Beispiel hat eine eigene Nudelproduktion aufgezogen. Da werden Ein-Euro-Jobber mit staatlichen Subventionen beschäftigt, die Nudeln für Arme produzieren. An dieser Stelle führt sich das System ad absurdum.

Vom 26.  bis 28. April treffen Sie sich mit Mitgliedern eines Aktionsbündnisses in Berlin, die die 906 Tafeln in Deutschland abschaffen wollen. Ist das ein PR-Gag für Ihr gerade erschienenes Buch „Schamland“ – oder ein sozialromantisches Happening?
Weder noch. Wir wollen die Tafeln auch gar nicht abschaffen, sondern transformieren. 20 Jahre Übergangslösung sind genug. Mit Sozialromantik hat das auch nichts zu tun. Das Aktionsbündnis will Kritiker zusammenbringen, um eine Gegenöffentlichkeit für Menschen zu schaffen, die sich nicht nur von den zu erwartenden PR-Feierlichkeiten zum 20. Geburtstag der Tafelbewegung blenden lassen wollen.

Welche Forderungen stellen Sie denn an die Politik?
Die Kernforderung ist eine Diskussion über die Höhe der Regelsätze für Hartz IV-Empfänger. 382 Euro im Monat reichen nicht zum Leben. Da entsteht eine Bedarfslücke.

Seite 2: „Die materielle Daseinsfürsorge ist die Aufgabe des Sozialstaates“

Wie hoch müsste der Satz denn sein?
Die Frage kann ich nicht beantworten. Das Problem ist, dass die Regelsätze momentan von Juristen berechnet werden. Wir fordern, dass diese Sätze bedarfsgerecht sein müssen. Das bedeutet, Betroffene müssen mitreden. Es verstößt gegen die Menschenwürde, wenn Menschen fremdbestimmt  versorgt werden.

Sollten Sie ihre Kritik am Sozialstaat nicht fein säuberlich von der Kritik an den Tafeln trennen?
Nein, ich sehe hier eine enge Verknüpfung. Das Engagement der Tafeln findet in einem hoheitlichen Bereich statt. Die materielle Daseinsfürsorge ist die Aufgabe des Sozialstaates. Zu den Grundrechten der Bürger gehört auch die Teilnahme am kulturellen Leben. Und die bloße Existenz der Tafeln zeigt, dass diese Teilhabe nicht gewährleistet ist. Sogar der UN-Sozialausschuss hat angemahnt, dass die Menschenrechte in Deutschland nicht vollständig umgesetzt werden.

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Was deckt denn der Regelsatz nicht ab, was den Bürgern gesetzlich zusteht?
Bildung und Kultur – mal ganz abgesehen von den Kosten  für Gesundheitsvorsorge. Da entstehen Schattenkosten, die wir gar nicht abschätzen können. Menschen können nicht mehr ins Kino gehen oder sich kein Buch leisten.
Man kann darüber streiten, ob das lebensnotwendig ist. Auf lange Sicht bedeutet es aber, dass Menschen aussortiert werden. Sie können ihren Kindern nicht mal das Minimum davon bieten, was in den peer groups erwartet wird. Dabei haben die Menschen, denen ich begegnet bin, sehr bescheidene Wünsche.

Mal ein Beispiel?
Sich mal in den Zug setzen und in eine andere Stadt fahren. Oder sich ins Café zu setzen und einen Capuccino für 2,50 Euro bestellen. Für den Preis bekommt man fast ein Pfund Kaffee im Billigsupermarkt.  Kulturell betrachtet, ist es aber einfach wichtig, mal im Café zu sitzen. Sonst passiert es, dass sich Leute selber ausschließen.

Wie meinen Sie das?
Ich habe bei den Recherchen für mein neues Buch „Schamland“ erschütternde Beispiele von Selbstzuweisungen gesammelt. Leute, die gesagt haben, sie fühlten sich als Mensch dritter Klasse, als eine Null.

In „Schamland“ schreiben Sie, die Nutzer der Tafel zahlten in Wirklichkeit einen hohen Preis – ihre Würde. Kann man die überhaupt in Cent und Euro berechnen?
Nein, überhaupt nicht. Es gibt auch Menschen mit viel Geld, die nicht zufrieden sind. Die subjektive Definition macht es aus. Wer zur Tafel geht, bekommt aber einen Spiegel vorgehalten. Er muss sich der Frage stellen: Wo bin ich gelandet? Was habe ich falsch gemacht? Das ist das Problematische. Zu wissen, dass einem der Besuch der Tafel als persönliches Versagen angelastet wird. Dabei leben wir alle auf dünnem Eis. Das kann jedem passieren. Durch Krankheit, den Tod eines Partners…

Seite 3: „Armut eignet sich unbedingt als Wahlkampfthema“

Das klingt, als trauerten Sie dem alten Sozialstaat hinterher.
Nein, der Sozialstaat muss nicht alles zur Verfügung stellen. Ich möchte hier keinen Etatismus predigen. Der Staat trägt aber die existenzielle Daseinsfürsorge. Er muss die Teilnahme am kulturellen Leben ermöglichen.

Aber mit Geld alleine ist es nicht getan. Der Verein „Die Arche“ bietet inzwischen zum Beispiel Kochkurse für Mütter an, die ihre Kinder bislang zum kostenlosen Mittagessen geschickt haben.
Hartz IV-Empfänger sind längst nicht so faul und lethargisch, wie ihnen oft unterstellt wird. Das hat gerade eine Studie der Bundesagentur für Arbeit ans Licht gebracht. Es mag natürlich einzelne Fälle von Sozialschmarotzertum geben.

Sie haben für Ihr Buch mit vielen Betroffenen gesprochen. Erschwert diese Nähe eine nüchterne Analyse?
Nein, als Soziologe lernt man, mit Nähe und Distanz umzugehen. Außerdem läuft parallel noch ein Forschungsprojekt, in dem wir die Tafeln analytisch untersuchen. Da haben wir die Vogelperspektive und gleichen das ab. Es gibt auch einen hohen Deckungsgrad mit den Untersuchungen anderer Soziologen.

Ein Konzept, das die Tafeln überflüssig machen würde, hat das Aktionsbündnis nicht.
Ich bin schon mal froh, dass aus dem heterogenen Haufen eine Struktur entstanden ist. Unser Ziel ist es ja, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Aus der heraus kann dann eine politische Diskussion entstehen. 

Eignet sich Armut als Thema für den Bundestagswahlkampf?
Im Kontext der sozialen Frage: unbedingt. Es kommt aber auf die Perspektive an. Werden wieder nur die Kosten in den Mittelpunkt gestellt? Oder erinnern wir uns daran, dass soziale Sicherheit einen Gewinn für alle bedeutet?

In Berlin dürften Sie sich mit dem Motto „20 Jahre Tafel sind genug“ aber nicht in den Dunstkreis der Ausgabestellen für Lebensmittel trauen. Ich habe mit Betroffenen gesprochen. Soll ich Ihnen sagen, wie sie auf Ihren Vorstoß reagiert haben?
Ich kann es mir denken. Dabei ist es keine zynische Drohung, die Tafeln von heute auf morgen abzuschaffen. Er hinterfragt eine Gesellschaft, in der solche Angebote als selbstverständlich angesehen werden.

Das Interview führte Antje Hildebrandt

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