- Im Glauben gibt es kein Expertentum
Feridun Zaimoglu hat sich aufgemacht, die Schriften der beiden Urväter des Judentums und des Christentums zu ergründen. Die relativierende „heutige Sicht" der Kulturschaffenden auf religiöse Figuren lehnt der Schriftsteller ab und nähert sich Moses und Paulus auf vorbehaltlose Weise
Im Jahre 2012 nahm ich zwei Auftragsarbeiten an: ein Hörspiel für den Hessischen Rundfunk über Paulus und ein Theaterstück über Moses. Es wird Anfang Juli beim Passionstheater Oberammergau in der Regie Christian Stückls uraufgeführt werden. Der Apostel stritt für das Himmelreich mit der Wortgewalt eines Philosophen. Der Prophet galt als zungenlahmer Israelit. Es ist überliefert, dass beide Gottesmänner die Götzen ihrer Zeit zermalmten. Sie wollten Schande und Schandtat nicht länger dulden.
Moses wurde von Bithiah, der Schwester des Pharao, höfisch erzogen. Paulus war ein gebildeter schriftkundiger Jude, er sprach die Sprache des damaligen Imperiums. Pharaos Ziehsohn schlug einen ägyptischen Aufseher tot und floh. Der Apostel hingegen zog sich den Unmut der Urgemeinde zu, weil er den Menschensohn Joschua vergöttlichte. Er verließ die Getreuen des Heilands. In der Bibel hatte ich oft geblättert, ich schrieb das über Jahrzehnte angelagerte Wissen auf. Wie konnte es mir gelingen, diese Krieger im Dienste des Herrn zu zeichnen? Reichte das bloße Quellenstudium aus? Sah ich in ihnen Figuren der Heiligen Fabel, mit der man die Völker narkotisiert? Waren sie derart anfechtbar, dass ich den Stoff zu Ungunsten des Jüngers und des Gesandten aktualisieren musste?
Die Lieblingsfloskel des kulturschaffenden Bürgers heißt „die heutige Sicht“. Ein Gott wird bestenfalls vermutet. Der Bürger stellt ihn sich vor als einen konservierten Leichnam, der jenseits des Alls in der Schwärze treibt. Ein Stückeschreiber unserer Zeit findet es vergnüglich, Gott zu lästern. Allein sein Zugriff und sein Verständnis zählen und also psychologisiert er: Er fühlt sich ein. In Gott, in das fleischgewordene Wort, in das Insekt und das erlegte Wild, in den Urschlamm und in die Pflanze. Einen von Gottes Licht beglänzten Mann kann er nur verlächerlichen. Schließlich arbeitet er mit den Mitteln der Verstörung. Man hat sich daran zu halten, dass er die heiligen Männer durchschaut; es sind allesamt gemütserregte Kerle.
Was also tut der heutige Schreiber, da er die schönen Legenden bearbeitet? Er verschleiert die Grandiosität und unterdrückt das Ungestüm. Aus Moses wird ein schwätzender Krüppel, eine Monologmaschine, ein Verkündigungsgerät. Ein fluchsprotzender Greis, der den Infusionsschlauch benagt. Paulus dichtet er eine manifeste Geistesverwirrung an: Der Apostel, seiner Heiligkeit beraubt, nackt bis auf das Lendentuch, übergießt sich mit dem Blut des Gekreuzigten. Er liest seitenlange Briefe vor, die er nie abgeschickt hat. Den Holzsplitter vom Kreuz des Heilands zeigt er dem Publikum vor und stochert damit zwischen den Zähnen. Diese Entwürfe, der Phantasie des Provokateurs entsprungen, begeistern bestimmt den einen oder anderen Großkritiker. Die Wahnverstrickung großer Frauen und Männer gilt als wesenhaft.
Übertreibe ich? Zeigt man nicht tatsächlich die abgehackten Köpfe von Heilsbringern auf der Bühne? Zeichnet man nicht Frösche und Säue, die ans Kreuz genagelt sind? Beschimpft man nicht einen Gottesgesandten als Kinderschänder und Sodomisten? Gott selbst aber will der Aufklärer am Erschöpfungsinfarkt gestorben wissen. Er habe die Welt erschaffen und sich dabei übernommen.
Ich scherte mich wenig um die Leugner und ihre Deutung. Die in Zerrbildern zum Fratzen-Ich verzeichnete Seele: Sie taugt höchstens als Porträt eines Irren. In eherner Zeit fielen auf die Häupter der Gläubigen und der Heiden herab die Trümmer des alten Himmels. Die Herren in den Palästen, sie ahnten den Zerfall der Reiche; und doch hoffte ein jeder Tyrann, er werde das Weltende überleben. Kein Reich gedieh ohne verknechtete Männer und Frauen, Ägypten war ein Sklavenstaat von vielen. Ausgerechnet Moses, den Sohn einer Sklavin, ernannte der Pharao zu seinem Nachfolger.
Der Thronanwärter niederer Herkunft wurde also nicht seinem Volk zugeschlagen. Die Hebräer brannten Lehmziegel für die Häuser der Ägypter. Der Glaube ihrer Vorväter hielt sie am Leben. Was sahen sie in des Königs Günstling Moses, wenn er sich zu ihrem Zeltlager stahl? Einen Verräter, einen mit allen Salben geschmierten Lumpen? Wer Stamm und Sippe verließ, konnte nur irregehen – musste man nicht den Abtrünnigen nach Ahnengesetz steinigen?
In der jüdischen Legendensammlung suchte ich vergebens nach Auskünften über Moses als jungen Höfling. Die fünf Bücher Mose geben einen Abriss über Taten und Wunder des Propheten. Sie wurden Aberhunderte Jahre nach seinem Tod von Priestern niedergeschrieben. Die Geschichten über den Gesandten wurden zu einer heiligen Schrift verkittet. Allein den Bibeltreuen geht es um die Originaltreue; ich
aber wollte vom vorgefundenen Stoff ausgehen: Moses hängt dem Einen Heiligsten an. Thron, Sippe, Stamm – vor dem Auge des Herrn werden sie nicht bestehen. Über ein Reich hätte er herrschen können, jeder Untertan wäre vor ihm, dem fleischgewordenen Götzen, zu Boden gegangen.
Er aber entschied: Huld gebührt nur dem einen Gott. Was nützen Standbilder in den Tempeln, vor denen man Räucherwerk verbrennt? Er entschied: Ich will nicht beflecken meine Seele, da ich heiligte Stein und bröckeligen Lehm. Um des Ruhmes der Macht, die uns überragt, floh er die Selbstüberhöhung. Sein Ziehvater im Palast, seine Mutter eine Leibeigene – die Hagiographen bemühten eine seelenentzweite Figur, um den Mann Moses dem Dunkel zu entreißen. Er war ein Prophet, der Brot aß, und der Herr ließ ihn nicht sinken. Der Aufseher, den er mordete, hatte die Frau eines Knechtes geschändet, und also musste er sterben. Der Pharao erkannte darin kein Aufbegehren wider seine Herrschaft, er hätte es bei einer harten Mahnung belassen. Moses waren Ruhm und Rüge einerlei, und noch hatte Gott den Seinen nicht gerufen. Er verließ aber das Land, bot einem anderen König seine Dienste an, nahm eine schwarze Kuschitin zur Frau. Erst Jahrzehnte später kehrte er zurück, er war zum Kriegerpropheten gereift.
Ich verstand: Aller Glaube ist wüstenländisch, und die Wüste ist Ursprung. Hartgesichtig sind die Gläubigen. Der Gott ihrer Anbetung hasst die Erschlaffung, das milde Wort, die Abart, den fremden Einfluss und die Vermischung. Ich erschrak: Die Israeliten, die sich mit Frauen fremder Stämme vermählen und verpaaren, werden ausgemerzt. Moses’ Schwester Miriam zankt den Gesandten deshalb aus; der Herr straft die Todsünder und belohnt aber Moses, der mit einer Kuschitin das Zelt teilte. Miriam erbleicht augenblicklich, ihr Gesicht wird schneeweiß, sie muss als Aussätzige außerhalb des Lagers leben. Ist das gerecht? Hat sich das wirklich zugetragen, oder haben die späteren Verfasser absichtsvoll gedichtet?
In der Stunde des großen Kampfes muss der Zweifler gebrochen werden. Gott versetzt ein Volk von mehreren Tausend Männern und Frauen. Diese Schar der Knechte soll das verheißene Land erobern; und also wird der gemeine Sklave durch Zucht und Drill, durch Tod und Verdammung diszipliniert. Am Ende werden die Israeliten in geordneten Schlachtreihen gegen die feindlichen Krieger ziehen. In der kinderfreundlichen Fassung begegnen wir einem rauschebärtigen Moses, der mit den Gesetzestafeln den Berg Sinai herabsteigt. Was aber steht tatsächlich geschrieben?
Nach dem ersten Abstieg zerbrach er voller Zorn die Steintafeln – die Knechte hatten, verdrossen ob Jahwes Regelwerk, ein Abbild in Gold gegossen. Der Gesandte ordnete den massenhaften Mord an, die Getreuen metzelten die Frevler nieder. Moses stieg ein zweites Mal auf den Berg, und als er nach 40 Tagen zurückkehrte, wichen die Israeliten vor ihm zurück. Moses’ Gesicht war entstellt. Gott hatte ihn berührt
und verbrannt. Für den Rest seines Lebens musste er sein Antlitz verhüllen. Manchmal legte er den Gesichtsschleier ab, wenn er mit seinem Bruder Aaron sprach.
Aaron wurde vom Herrn zum Hohepriester erhöht: Er widersprach Gott nicht, als Er zwei seiner Söhne im Feuer umkommen ließ. Sie hatten Jahwe zur ungelegenen Zeit Räucherwerk geopfert. Aaron schwieg, da Gott Miriam des Lagers verwies. Das Volk liebte ihn, den guten Redner und Rechtsprecher. Moses stammelte; er war der härteste Krieger des Herrn. Man büßte mit dem Leben, wenn man seinen Ratschluss anzweifelte. Moses sprach Gottes Gesetz. Laut der Schrift und den Legenden sind dies die wahren Geschichten. Ich verstand: Die alte Zeit ist nicht vergangen.
Ich schrieb in mächtigen Worten, ohne Zagen und Glaubensschwäche. Ich verbot mir Gewäsch und Gerede, das postprophetische Übelschwätzen. Kein Klamauk, keine heutige Prosa, keine Blasphemie. Die Frömmelei ist eine Erfindung der niederträchtigen Kreatur: Sie zimmert im Geiste jedem, der nicht ihres Sinnes ist, ein Galgengerüst. Also verbot sich mir auch die Verkitschung und Verknirpsung eines großen Mannes.
In unserer Zeit glaubt jeder Bürger, er könne mitreden, weil er Streitgespräche im Fernsehen verfolgt hat. Welch ein Irrtum, welch eine Verblendung. Im Glauben gibt es kein Expertentum. Die Pharisäer und Philister, die Höker und Theologen: Sie deuten, sie zerren den unfassbaren Gott in die Nähe. Für mich, der ich für die Bühne schrieb, war Deutung nicht statthaft. Moses, der Anführer eines verknechteten Volkes. Moses, von Gott geliebt und geschützt. Dieser Moses blieb zurück: Der Herr verwehrte ihm den Einzug ins Gelobte Land.
Joschua Meschiach, Sohn des Zimmermanns, Gottes Liebling, der gesalbte Heiland: Wer ihn sah, mit unvertrübten Augen, wurde verwandelt. Wer seinen Worten vom nahenden Himmelreich glaubte, wurde berührt. Ihn schickte der Herr, dass er erfülle das Gesetz und erneuere den Bund. Es scharten sich um ihn die einfachen Männer und Frauen. Die Gebildeten und Gelehrten beschauten ihn aus der Ferne wie ein wildes Tier. Der Mann brach mit der Überlieferung, er heiligte nicht den Feiertag, er bespuckte die Geldwechsler im Tempelhof. Es gab im Lande viele glühende Männer, die das Weltende weissagten: Stein wird bersten, Holz wird splittern, und die Erde spuckt alles Gebein heraus.
Menschensohn Joschua: Über ihn hielt der Vater im Himmel seine Hand. Saulus begriff: Weisheit zähmt den Geist; die Offenbarung peitscht die Seele. Joschua brachte das Schwert, mit dem Eisen schied er die Schläfer von den Erwachten. Saulus lernte ihn zu hassen. Die Männer, die dem jungen Prediger nachliefen, nannte er Gesindel. Die Frauen, die Joschuas Füße salbten und mit ihrem Haar trockneten, hieß er hurenhaft. Bei Tage durfte man kein Licht aufstecken – dieser wirre Jüngling aber war beglänzt. Saulus stand in Diensten des Hohen Rates zu Jerusalem, er wurde als Ketzerrichter bestallt.
Es steht geschrieben: Auf dem Weg nach Damaskus hörte er die Stimme des Meisters. Traumbild, Erleuchtung, Bekehrung. Er änderte seinen Namen nicht. Im Griechischen sprach man Saulus als Paulus
aus.
Der Name des Predigers bedeutet: Gott ist Rettung. Also sah Saulus den vom Herrn geschickten Erlöser. Einen Mann aus Fleisch und Blut. Den an den Schandpfahl genagelten Menschensohn – hat Saulus ihn auch sehen können? Von seiner Gottesnatur konnte der im strengen Eingottglauben aufgewachsene Joschua nicht gesprochen haben. Ich entdeckte: Saulus’ Trauer über den Tod des Rabbi war unermesslich. Er vergöttlichte ihn. Ich las die Evangelien, überflog die Briefe an die Gemeinden. Die Bücher von Bibelexegeten und Theologen hatte ich in den letzten 30 Jahren verschlungen, und also musste ich nicht nachschlagen.
Ich betrachtete Schwarz-Weiß-Fotografien von jungen Philippinos in San Fernando. Am Karfreitag lassen sie sich ans Kreuz nageln. Über die Schmerzensnachahmung kommen sie dem Liebling Gottes
nah und näher. Die Menschen des einfachen Volkes, sie kümmert nicht die orthodoxe Lehre. Auch damals, zu Saulus’ Lebzeiten, gab es viele Männer und Frauen, denen man die Geistesgaben der Prophetie und Zungenrede zuschrieb. Der gebildete Apostel floh ihre Gesellschaft, verließ das Heilige Land. Nur die Ekstase auf dem Papier empfand er als reizvoll.
Der tote Gesandte, das ausbleibende Weltende, die Anfeindungen der Altgläubigen, die Macht des Imperiums: Saulus ersann einen Gegenschlag, er schrieb die Geschichte um. Gottes und Volkes Liebling
Jesus wurde zum Weltenlenker, zu Christus mit dem Strahlenkranz. Er baute an einer neuen Kirche, um der alten Kirche zu trotzen. Es durfte der Feind nicht gesiegt haben, Feindes Triumphgesang würde
verklingen. Die Frauen und Männer der ersten Stunde gingen den Apostel hart an. Das Heidentum sickerte in den Glauben, ihr Heiland wurde verklärt – sie stemmten sich dagegen und unterlagen.
Ich bin auf der Seite der Propheten. Priester und Theologen lehne ich ab. Der Handel mit Gottes Gnade widert mich an. Kein Stellvertreter des Herrn ist unfehlbar. Die unerbittlichsten Feinde der gottgeliebten Gesandten waren immer die Priester des alten Glaubens. Die Abtrünnigen und Spalter: Sie erfanden neue Dogmen, und sie erfanden neue Ketzer. Ihr törichtes Geschwätz, ihre Richtersprüche, ihre Arrangements mit den Herrschern der Zeit; ihre Massenmorde, ihre Preisungen und Anrufungen, ihre Vergötzung der Heilsbringer – sie beriefen sich dabei immer auf Gott.
Doch sollen die Aufklärer bei diesen Worten nicht frohlocken. Ihre Heilsgestalten waren und sind Fortschrittsmaschinen. Ihre rassenreinen und klassenlosen Gesellschaften glichen Höllenreichen. Es braucht eines Satans nicht, um das abscheulich Böse zu wirken. Ich erkannte: Moses und Joschua, geheiligte Männer, vom Herrn in diese Welt gesetzt, auf dass sie den Götzendienst mit aller Macht bekämpfen. Und Paulus? Der geläuterte Inquisitor warnte und mahnte die Getreuen des Heilands; die alten Gesetze waren erloschen, das neue Gesetz hieß Christus.
Saulus hat um des Überlebens willen Joschua Meschiach geopfert. Wie kann ich mich dem Apostel anverwandeln, auf dem Papier, das dieser Mann so liebte? Viele Tage denke ich nach, verwerfe viele
Ideen. Der Offenbarungskünstler sprach in Gleichnissen. Saulus legte in Worten das Glaubensbekenntnis fest. Ich verstand: Er hat überlebt, und also wird er ein harmonisches Bild zeichnen. Ich verstand: Er ist umstellt, und also wird er nicht mit sich verhandeln lassen. Er weiß, dass seine Tage gezählt sind. Er schreibt an die Jünger und Führer der Gemeinden … und sie schreiben zurück: Das ist der rettende Einfall. Was kann ich sagen, nach Tagen und Wochen der harten Arbeit? Moses und Paulus – ich bezeuge: Sie haben gelebt.
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