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Flüchtlinge - Die Qual der Moral

Für jeden Wissenschaftler bleibt ein Kind zurück. Die Auswahl der Flüchtlinge, die Deutschland aus Syrien aufnimmt, erfolgt nach strikten Kriterien. Ist das moralisch? In Kooperation mit dem Tagesspiegel

Autoreninfo

Anna Sauerbrey ist Meinungsredakteurin beim Tagesspiegel.

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Stellen Sie sich vor, Sie sind Fischer. Sie tuckern mit Ihrem Kutter über das Meer und entdecken plötzlich ein Rettungsboot mit drei Schiffbrüchigen. Ihr Boot ist so klein, dass Sie nur einen der drei mitnehmen können. Die erste Person ist ein Kind. Das Kind schweigt, denn es hat schon lange nichts mehr getrunken. Der Zweite ruft herüber, er sei Fischer, wie Sie. Er verspricht, Ihnen und Ihren Nachbarn im Fischerdorf zum Dank beim Fischen zu helfen. Der dritte Passagier stellt sich als Wissenschaftler vor. Er sagt, seine Arbeit an einem bedeutenden Medikament, das die Menschen in seiner Heimat brauchen, sei kurz vor dem Durchbruch.

Wen holen Sie in Ihr Boot? Retten Sie das Kind, das Ihre Hilfe unmittelbar am nötigsten braucht? Retten Sie den Fischer und helfen damit Ihrer Dorfgemeinschaft? Oder helfen Sie dem Wissenschaftler – und damit vielen weiteren Menschen in seiner Heimat? Was wäre aus moralischer Sicht das Beste?

In der vergangenen Woche haben sich die Innenminister von Bund und Ländern auf die Aufnahme von weiteren 10 000 syrischen Flüchtlingen geeinigt. Bereits im vergangenen Jahr wurde zwei Mal die Aufnahme von je 5000 Kriegsflüchtlingen beschlossen. Über diese Sonderprogramme sind nach Angaben des Innenministeriums inzwischen 6000 Syrer nach Deutschland eingereist, zusätzlich zu 32 000 syrischen Asylbewerbern.

Die Entscheidung ist grausam

Einige Zehntausend Gerettete mögen wenig erscheinen – allein in den libanesischen Camps, aus denen die Flüchtlinge kommen, leben laut UN-Flüchtlingswerk 1,1 Millionen Syrer. Es sind viele im Vergleich zu den Kontingenten, die andere europäische Länder aufnehmen. In jedem Fall aber muss eine Auswahl unter den Hilfebedürftigen getroffen werden.

Das Boot ist zu klein für alle. Und die Entscheidung grausam. Eine Vorauswahl erstellen Caritas Libanon und das UN-Flüchtlingswerk in den Camps. Anhand dieser Listen entscheidet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Dafür wurden drei Kriterien entwickelt. Bevorzugt werden erstens Personen, die „humanitären Kriterien“ entsprechen, etwa Frauen in Notsituationen und Kinder. Chancen haben auch Flüchtlinge, die „Bezüge zu Deutschland“ haben, die etwa hier Familienangehörige haben. Drittens werden Personen ausgewählt, die „einen besonderen Beitrag zum Wiederaufbau nach Konfliktende“ leisten könnten. In das Boot Deutschland dürfen also einige Kinder, einige Fischer und einige Wissenschaftler.

Das heißt aber auch: Für jeden Wissenschaftler bleibt ein Kind zurück. Ist das vertretbar? Bei der Entscheidung über Hilfe in akuter Not eigene Interessen oder ein mehr oder weniger vages Gemeinwohl zu berücksichtigen, widerstrebt der moralischen Intuition der meisten Menschen. Zu kostbar scheint das einzelne Leben, der konkrete Mensch. In der Situation des Fischers würden sich die meisten wohl für das Kind entscheiden.

Erst angesichts großer Zahlen und abstrakter Institutionen verliert sich die Eindeutigkeit der moralischen Intuition. Muss die Bundesrepublik den gleichen Kriterien genügen wie der Fischer? Ist es nicht legitim oder sogar geboten, „politisch“ auszuwählen und den Nutzen des Gemeinwesens zu berücksichtigen? Politische Praxis ist es jedenfalls schon lange.

Im Aufenthaltsgesetz, aus dem sich die Aufnahmeregeln für syrische Flüchtlinge ableiten, sind humanitäre Gründe und politische Interessen eng verschränkt. Auch hier wird die Aufnahme von Ausländern aus „dringenden humanitären Gründen“ unter den Vorbehalt der „Wahrung politischer Interessen“ gestellt.

Doch je akuter die Notsituation, in der die Hilfsbedürftigen sind, desto problematischer scheint es auch auf der institutionellen Ebene, Eigeninteressen zu berücksichtigen. Auch staatliche Akteure handeln nicht moralisch abstrakt. Besonders hilfebedürftige syrische Flüchtlinge zurückzulassen, weil sie nicht „nützlich“ oder schwer integrierbar sind, ist in der Konsequenz nicht weniger grausam, als hätte der Fischer diese Entscheidung getroffen.

Besonders unangenehm berührt die Verschränkung von Hilfsbereitschaft und politischem Interesse dann, wenn daraus politischer Profit geschlagen wird. „Deutschland steht zu seiner humanitären Verantwortung“, sagte Innenminister Thomas de Maizière nach der Einigung von Bund und Ländern mit breiter Brust. Er weiß: Die Wähler retten gern im Libanon mit. Der Fischer fährt mit dem Wissenschaftler an Bord davon – und verschweigt zu Hause das Kind.

 

 

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