- Warum die Revolution ausgeblieben ist
In der Ukraine ist am vergangenen Samstag ein Präsident gestürzt worden. Eine Revolution hat nicht stattgefunden. Es wird nun darauf ankommen, dass dem Machtwechsel auch ein Politikwechsel folgt
Ein Synonym für „revolutionär“ ist, so der Duden, „staatsumwälzend“. Eine Umwälzung des Staates war dann auch das Ziel eines großen Teils der Demonstranten, die den weltweit als „Maidan“ bekannten Unabhängigkeitsplatz im Zentrum der Hauptstadt Kiew seit Ende November besetzt hielten. Es ging nicht in erster Linie um eine europäische oder eine eurasische Perspektive des Landes. Es ging (und geht) um einen grundlegenden Politikwechsel: Mehr Redlichkeit, weniger Einfluss für die Wirtschaftsoligarchie, Kampf gegen die grassierende Korruption, Schutz des Eigentums vor staatlichen und privaten Übergriffen, und schließlich soziale Gerechtigkeit – diese Themen stehen auf der Agenda des Maidan. Die Agenda eint rechte wie linke, demokratische und stramm nationalistische Demonstranten, Rentner und Studenten, Mittelschichtler und Prekariat. Über die Wege zum Ziel gibt es Differenzen, auch weitgehende Ratlosigkeit.
Revolution oder Ringtausch der Eliten?
Nach drei Monaten Dauerprotest, eskalierender Gewalt und über 80 Toten ist Präsident Viktor Janukowitsch am Samstag untergetaucht. Seitdem übernimmt die bisherige politische Opposition systematisch die Macht, Abgeordnete der zuvor dominierenden Partei der Regionen wechseln mit erstaunlicher, aber für die Ukraine charakteristischer Geschwindigkeit die Seiten. Der Maidan aber will mehr: Die Demonstranten haben nicht so lange in der Kälte ausgeharrt, um am Ende nur einmal am Elitenkarussell zu drehen. Von Revolution im heutigen Wortsinn ist hier noch wenig zu spüren. Man will deswegen mindestens bis zu den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai auf dem Platz ausharren.
Bei Kopernikus, so lehrt Wikipedia, „bezeichnet revolutio eine gleichbleibende, gesetzmäßig und kreisförmig verlaufende Bewegung der Himmelskörper“. Planeten drehen sich, aber kehren dabei immer wieder an ihren Ausgangspunkt zurück. Ist die Ukraine nun also auch wieder an einem Ausgangspunkt angelangt, der „Revolution in Orange“ von 2004/05? Auch damals wurde aus einem vermeintlichen demokratischen Aufbruch ein Ringtausch der Eliten, ohne substantielle Verbesserung in politischen und ökonomische Resultaten.
Seither ist die Desillusionierung über Politik und ihre Protagonisten weiter gestiegen. Auch die einstige Hoffnungsträgerin, Ex-Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, die am Samstag nach zweieinhalb Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, ist auf dem Maidan zurückhaltend empfangen worden. Die Frau ist eine politische Inszenierung, deren leuchtender Haarkranz ihre persönliche Vergangenheit in der skandalträchtigen Gaswirtschaft und ihre Erfolglosigkeit als Ministerpräsidentin nur noch teilweise überstrahlt. Eine neue Lichtgestalt ist nicht in Sicht. Selbst wenn es eine gäbe, würde sie vermutlich schnell im harten Politikbetrieb des Landes unter die Räder kommen.
Die Herausforderungen der neuen Machthaber
Eine tiefe Enttäuschung revolutionärer Erwartungen scheint also programmiert. Dies gilt umso mehr angesichts der großen Herausforderungen, mit denen die zukünftige Regierung konfrontiert sein wird: Das Land steht kurz vor dem Staatsbankrott. 2009 brach das Bruttoinlandsprodukt im Zuge der weltweiten Krise um fast 15 Prozent ein, das Vorkrisenniveau ist seitdem nicht wieder erreicht. Während das Handelsbilanzdefizit stieg, gingen die ausländischen Investitionen zurück. Die Währung gilt als stark überbewertet. Wichtige Reformen wurden verschleppt. So ist trotz der hohen und viel diskutierten Energieabhängigkeit der Ukraine von Russland nur wenig getan worden, um den Energieverbrauch insbesondere in der Industrie zu senken. Kurzfristdenken dominierte, die Regierung lebte von der Hand in den Mund.
Der drohende Staatsbankrott
Die neuen Machthaber bezifferten den Finanzierungsbedarf für die kommenden zwei Jahre auf 25 Milliarden Euro. Dabei fehlen in sämtlichen Parteiprogrammen substanzielle Aussagen zu der Frage, wie die Krise überwunden werden kann. Bleibt allein die Hoffnung auf Europa: Ein neuer Marshallplan müsse her, so die Forderungen aus Kiew. Nur ist in Brüssel die Zahlungsbereitschaft bisher sehr begrenzt gewesen: Auch jetzt noch verweist man auf den IWF, der bislang jeden Kredit von für jede Regierung selbstmörderischen Austeritätsforderungen abhängig gemacht hat. Darin liegt natürlich eine gewisse Konsequenz: Auch dem EU-Mitglied Griechenland wurde nur unter harten Bedingungen „geholfen“. Schon jetzt wird spekuliert, dass der voraussichtliche neue Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk nur ein Mann des Übergangs sein wird, der dann dem Volkszorn über gestiegene Gaspreise, Währungsverfall und rückläufige Realeinkommen geopfert werden kann. Auch dies kann erklären, warum Frau Timoschenko angekündigt hat, sich zunächst der Therapie ihres Bandscheibenvorfalls in der Berliner Charité zu widmen.
Kompromiss statt Alles-oder-Nichts
Die zweite große Herausforderung für die ukrainische Politik wird es sein, die im Land wirkenden Fliehkräfte unter Kontrolle zu bringen. Die Ukraine ist ein vielfältiges Land. Die oft wiedergekäute Einteilung in einen „pro-europäischen Westen“ und einen „pro-russischen Osten“ wird ihrer Komplexität nicht gerecht. Ob jemand Russisch oder Ukrainisch spricht, determiniert noch nicht die politische Haltung. Zwar gibt es unterschiedliche historische Narrative, unterschiedliche ethnische Zusammensetzungen, unterschiedliche Wirtschaftsstrukturen und unterschiedliche Machtkonfigurationen. Diese ermöglichen jedoch immer noch ein übergreifendes Nationalbewusstsein. Die politische Elite muss aber, will sie nicht den Zusammenhalt der Ukraine aufs Spiel setzen, eine politische Kultur des Kompromisses entwickeln. Die Tendenz der vergangenen Jahre ging leider in eine andere Richtung: Eine Rhetorik des Kampfes und eine Mentalität des Alles-oder-Nichts dominierte die politische Auseinandersetzung.
Geschriebene Spielregeln wurden in den letzten Jahren von keinem politischen Lager akzeptiert. Die ukrainische Verfassung ist bislang immer Gegenstand von Konflikten gewesen, nicht Grundlage für ihre friedliche Austragung. Auch muss der Geist, den Janukowitsch aus der Flasche ließ, als er seine Rivalin Timoschenko 2011 ins Gefängnis werfen ließ, schleunigst wieder dorthin zurück. Eine Ursache, warum sich die Ereignisse so dramatisch zuspitzten, liegt sicherlich hier: Der Präsident hatte keine Exit-Option. An Rücktritt ist nicht zu denken, wenn man befürchten muss, den Rest seiner Tage in Haft zu verbringen.
Gemeinsames Versagen von Brüssel und Moskau
Die Mentalität des Alles-oder-Nichts wurde aber in den vergangenen Monaten auch von außen befeuert. Hier liegt das gemeinsame Versagen der Europäischen Union und Russlands. Willentlich oder unwillentlich haben Moskau und Brüssel Kiew 2013 vor die Alternative gestellt: Entweder Assoziierung mit der EU, inklusive eines Freihandelsabkommens, oder die Anbindung an die im Entstehen befindliche, von Moskau dominierte Eurasische Union mit Kasachstan und Belarus. Bei einem Land, dessen Ost-West-Ausdehnung von Uschgorod an der slowakischen bis nach Lugansk an der russischen Grenze über 1.500 Kilometer beträgt, ist das eine merkwürdige Politik. Auch der Güterexport nach Russland ist genauso hoch wie der in die EU. Eine Politik des Entweder-Oder kennt nur Verlierer. Denn wenn die zu erwartenden Transformationskosten, von denen jetzt noch gar nicht die Rede ist, auch von außen getragen werden sollen oder müssen, können das weder die EU noch Russland alleine schultern. Auch EU-Vertreter haben hier in der Vergangenheit oft mehr Hoffnungen geweckt, als sie realistisch erfüllen konnten. Eine Aufgabe verantwortungsvoller europäischer und russischer Politik wird es sein, der Ukraine ein Sowohl-als-Auch zu ermöglichen.
Die EU muss sich darauf einstellen, dass dem revolutionären Rausch bald ein heftiger Kater folgt. Große Enttäuschung und tiefe Frustration sind zu erwarten. Apathie oder aber Radikalisierung könnten die Folge sein. Bis jetzt hat nur ein Machtwechsel stattgefunden. Ob diesem noch ein grundlegender Politikwechsel folgt, ist ungewiss.
Felix Hett, Ukraine-Referent bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin. Der Artikel gibt allein die persönliche Meinung des Verfassers wider.
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