- Über dem Abgrund ukrainischer Empfindlichkeiten
Wie der Chef der Berliner Charité mit seinem Ärzteteam gegen alle Widerstände um die medizinische Versorgung von Julia Timoschenko kämpft und dabei Achtungserfolge gegen das ukrainische Regime erringen kann
Der Mann, auf den Julia Timoschenko ihre Hoffnungen im Kampf um ihre Gesundheit und gegen die „Siegerjustiz“ ihres Erzfeinds Viktor Janukowitsch setzt, ist nicht nur ein international renommierter Neurologe, als Mediziner global vernetzt und in Deutschland als ehemaliger Vorsitzender des Wissenschaftsrats über sein Fach hinaus profiliert. Er ist auch ein freundlicher Mann mit gewinnendem Lächeln und guten Manieren. Einer, der interessiert zuhören und unterhaltsam erzählen kann. Freunde wissen, dass er auch hervorragend kocht.
Auf seine Patienten wirkt er beruhigend. Wohl denen, um die er sich selbst kümmert: Professor Dr. Karl Max Einhäupl, 65, Chef der Berliner Charité, Europas größter Gesundheitsfabrik, der gute Mensch aus München, einer, der keiner Fliege was zuleide tut. Einige Ukrainer – vom Chefarzt im Frauengefängnis in Charkow bis zum Generalstaatsanwalt und zur Gesundheitsministerin in Kiew – wissen, dass dies nicht der ganze Einhäupl ist.
Der Mann, der in seiner Münchener Studentenzeit als „roter Karli“ bekannt war und das konservative Uni-Establishment als Stratege einiger spektakulärer Protestaktionen das Fürchten gelehrt hatte, kann auch anders: unbeugsam sein, hartnäckig, ausdauernd. Schon als Schüler, da hatte der Sohn aus einem politisch eher rechten Milieu („mein Vater war über den Wahlsieg Kennedys in Amerika erschüttert“) noch mit der CSU sympathisiert, war er als Aktivist aufgefallen: 1966 organisierte er mit ein paar Freunden eine Kundgebung gegen die Neo- und Altnazipartei NPD, mit Carl Amery als Redner, mehr als 10.000 Menschen kamen, und die französische Illustrierte Paris Match präsentierte das Großereignis auf einer Fotodoppelseite: in der Mitte, neben Amery, der brave, gutbürgerliche Einhäupl.
Der besorgte Junge, der nicht lockerlässt. Wie der junge Alte heute. Den Rat, sich an die Charité zu wenden, hatte Timoschenkos international vernetzte Tochter Jewgenia in Berlin von Lothar de Maizière, dem letzten Regierungschef der DDR, erhalten. Ein guter Rat, wie sich inzwischen gezeigt hat. Seit Anfang Mai scheint der Fall Timoschenko sich zu entspannen. Die Kranke wird von einem der führenden Neurologen der Charité, Lutz Harms, in Charkow behandelt, eine Weiterbehandlung in Berlin ist nicht mehr ausgeschlossen.
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Bis hierhin war es ein steiniger Weg. Inzwischen kann Karl Einhäupl vergleichsweise locker darüber reden, über die Hilflosigkeit, die sich in auftrumpfender Härte und in kleinen Schikanen der Ukraine geäußert hatte. Vor allem die erste Visite der internationalen Ärztekommission bei der prominenten Strafgefangenen in der Ostukraine Mitte Februar war kein normaler Krankenbesuch.
Zähe Verhandlungen über Details, die den ukrainischen Behördenvertretern ungemein wichtig waren, Fingerhakeln etwa darüber, wer mit zu Timoschenko in die Zelle dürfe, ob Einhäupl und Norbert Haas,Cheforthopäde der Charité, sowie die drei kanadischen Delegationsmitglieder allein, oder ob auch ukrainische Ärzte mitkämen. Ob der Untersuchungsbericht sofort, an Ort und Stelle, verfertigt werden müsse. Und wem der Arztbericht übergeben werden solle. Prestigeduelle.
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Einhäupl hat sie gewonnen. Dahinter stand stets, meist unausgesprochen, aber unübersehbar, die missmutige Generalfrage: Was wollen Sie überhaupt hier? Zwischen dem ersten Besuch im Februar und dem Beginn der Behandlung Timoschenkos durch den Neurologen Lutz Harms am 8. Mai war Einhäupls Mission daher ein Seiltanz über dem Abgrund ukrainischer Empfindlichkeiten.
Der Charité-Chef wusste natürlich von Anfang an, dass Julia Timoschenko als Ministerpräsidentin sich selbst nicht gerade als ukrainische Mutter Teresa in Nächstenliebe und Selbstlosigkeit hervorgetan hatte. Keine Heldin für Transparency International, die Antikorruptionsorganisation. Aber hatte ihn das zu interessieren? Der einstige Revoluzzer steht auf dem strengen Standpunkt, eine Sauerei bleibt eine Sauerei, und absichtliche Unterlassung von medizinischer Hilfeleistung ist eine solche, basta. Das hat er durchgezogen. Lächelnd, beinhart.
Fotos: picture alliance
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