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Wirtschaftliche Macht und Menschenrechte - Saudi-Arabien ist ein falscher Freund

Der Westen setzt auf Saudi-Arabien. Immerhin ist das Land der weltgrößte Exporteur von Öl und wichtiger Käufer westlicher Waffen. Doch die Monarchie gängelt ihre eigene Bevölkerung, verhängt drakonische Strafen und exportiert fundamentalistischen Islam

Autoreninfo

David Gardner ist außenpolitischer Redakteur der Financial Times und Autor des Buches „Letzte Chance: Der Nahe und Mittlere Osten am Scheideweg“.

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Abdullah, der Ende Januar verstorbene saudische König, wird über seinen Tod hinaus für seine zaghaften Reformschritte geschätzt. Doch auch er regierte brutal, wie es im Königshaus Saud Tradition ist. Und er stellte das Volk mit Wohltaten ruhig. Vor vier Jahren etwa überschüttete er seine Untertanen mit königlicher Großzügigkeit: 36 Milliarden Dollar an Gehaltserhöhungen, zur Entschuldung und als Startkapital für Unternehmensgründungen, ließ er an die saudische Bevölkerung auszahlen.

Die arabischen Aufstände, die gerade Zine al Abidine Ben Ali in Tunesien und Husni Mubarak in Ägypten gestürzt hatten, hatten auch in Saudi-Arabien Hoffnung aufkeimen lassen, Abdullah würde Reformen vorantreiben. Vergeblich. Er ließ eine weitere königliche Finanzspritze folgen. Diesmal waren es fast 100 Milliarden Dollar. Der Großteil floss in den Wohnungsbau für Niedrigverdiener. Mit großen Summen wurden aber auch die Sicherheitskräfte bedacht, darunter die berüchtigte Religionspolizei, die Mutawa. Auf nicht weniger dunklen Kanälen flossen Hunderte Millionen Dollar in die religiösen Stiftungen des wahhabitischen Klerus.

Das saudische Königshaus tat, was es am besten kann: Es versuchte, sich freizukaufen – ungeachtet dessen, was im Land an Unzufriedenheit brodeln mochte unter den undurchdringlichen Schichten aus politischer, militärischer und religiöser Kontrolle. Doch diesmal steckte mehr hinter der Großzügigkeit.

Die Dynastie der Saud erneuerte ihren historischen Bund mit dem Haus Ibn Abdul Wahhab, jenem Prediger aus dem 18. Jahrhundert, mit dessen puritanischem Gedankengut sich die Herrscher in Saudi-Arabien religiös legitimierten. Auch wenn die Saudis Petrodollars und den Kampf für die religiöse Einheit zu ihrer Version von Brot und Spielen gemacht haben, ist und bleibt ihr wahrer Schutzwall ihr Wahhabismus. Also jene strenge Form des sunnitischen Islam, die alle anderen Spielarten des Islam strikt ablehnt, insbesondere den schiitischen Islam.

Mehr als 5000 bepfründete Prinzlinge
 

Der finanzielle Teil der Formel dient der Erneuerung des Gesellschaftsvertrags zwischen Herrschenden und Untertanen, der den Absolutismus in Saudi-Arabien und den Golfstaaten stützt. In seiner vollendeten Form besteht er aus einem Paternalismus, der von der Geburt bis zum Tod reicht. Das Königshaus sorgt für Bildung und Gesundheit sowie für Jobs und Wohnungen. Als Gegenleistung erhält es die Loyalität und den Gehorsam des Volkes.

Doch selbst im reichen Königshaus der Saud ist dieser Tauschhandel brüchig geworden – lange vor dem jüngsten Verfall des Ölpreises. Vom Öl beherrschte Ökonomien schaffen kaum Jobs. Schon gar nicht, wenn sie eine Königsfamilie alimentieren, die aus mehr als 5000 bepfründeten Prinzlingen besteht, die nicht verstehen, wo ihr Privatvermögen endet und der Staatshaushalt beginnt.

Die Jugendarbeitslosigkeit in Saudi-Arabien ist zudem hoch und liegt bei etwa 30 Prozent. Es gibt wenige Chancen und noch weniger gesellschaftliche und politische Freiheit – doch dank Satelliten-TV und Internet ein ausgeprägtes Bewusstsein für globalen und regionalen Wandel. Fast zwei Millionen Saudis sind im Ausland ausgebildet worden, und oft mit einem hohen akademischen Abschluss zurückgekehrt.

Hier kommt der saudische Wahhabismus ins Spiel. Diese Symbiose aus weltlicher und religiöser Macht, die seit der Staatsgründung 1932 beansprucht, Arabien von seinem Stammesfilz aus Götzenanbetung und Chaos, Ignoranz und Lasterhaftigkeit befreit zu haben, verteufelt alle anderen Glaubensrichtungen und hält jegliche Reformen für Zügellosigkeit.

Als Gegenleistung für das religiöse Gewand, das er der Königsfamilie verschafft, übt der wahhabitische Klerus soziale Kontrolle aus. Nicht nur über die Religion und das Verhalten in der Öffentlichkeit, sondern auch über das Bildungs- und Justizwesen. Der Einfluss des Wahhabismus verhindert selbst schrittweise Reformen.

König Abdullahs Modernisierungspläne
 

König Abdullah hat versucht, den Einfluss des Klerus zurückzudrängen und die Justiz zu reformieren, Schulbücher von Fanatismus zu befreien, Lehrer zu überprüfen und ein pluralistischeres Islamkonzept zu fördern. 2003 rief er einen „nationalen Dialog“ ins Leben. Eine transparentere Regierungsführung, schärfere finanzielle Kontrolle des Königshauses, mehr Rechte für Frauen, sogar die schrittweise Einführung von Wahlen schienen zumindest möglich.

Muslimische Reformer und Liberale reagierten mit einer Art Blaupause für die konstitutionelle Monarchie, die sie „eine Vision für die Gegenwart und Zukunft der Heimat“ nannten. In diesem Dokument wurde erstmals der Wahhabismus als die kalte Hand bezeichnet, die verhindert, dass sich Saudi-Arabien zu einem erfolgreichen, modernen Staat entwickelt.

Die mächtigsten Brüder des Königs teilten dessen Auffassung von einer offeneren Gesellschaft nicht. Kaum hatte der „nationale Dialog“ begonnen, zitierte Prinz Nayef, der damalige Innenminister, die Reformer in sein Büro. Dort, erinnert sich einer der damals Anwesenden, habe der Prinz ihnen gesagt: „Was wir mit dem Schwert gewonnen haben, werden wir mit dem Schwert verteidigen.“

Das war keine Metapher. Abdullahs und Nayefs Vater, König Abdul Aziz al Saud, hat ein regional und religiös zersplittertes Arabien mit Waffengewalt geeint. In 30 Jahren schlug er 52 Schlachten, bis 1952 das Königreich ausgerufen wurde. Die saudisch-wahhabitischen Truppen waren in den heiligen Krieg gezogen, um die arabische Halbinsel des Propheten Mohammed, die Wiege des Islam, für die wahren Gläubigen zurückzuerobern.

Ihre sunnitische Orthodoxie basiert auf einer fundamentalistischen Interpretation des Monotheismus und der „Einheit“ Gottes (Tawhid). Sie lehnt alle anderen religiösen Traditionen ab, behandelt Christen als Ungläubige und Schiiten als abtrünnige Götzendiener. Im Laufe der Zeit war Tawhid nicht nur Synonym für die „Einheit“ Gottes geworden, sondern umfasste auch die Einheit Arabiens unter der hegemonialen Herrschaft des Hauses Saud, das keine Rivalen duldete.

Saudi-Arabien exportiert religiösen Dogmatismus
 

Außerhalb des Königreichs haben saudische Petrodollars muslimische Weltregionen mit wahhabitischen Moscheen, Stiftungen und Schulen regelrecht gepflastert, um auch dort die Saat der Intoleranz zu verbreiten. Als im vergangenen Sommer der „Islamische Staat im Irak und in der Levante“ sein Kalifat ausrief, übersetzte er das Ramadan-Gebet seines Anführers Abu Bakr al Baghdadi ins Englische, Französische, Deutsche, Türkische, Russische und – Albanische.

Warum? Weil seit dem Ende des Kalten Krieges und nach dem Krieg um Jugoslawien auf dem westliche Balkan – vor allem in Albanien, Bosnien, Mazedonien, dem Kosovo und sogar in Teilen Bulgariens – eine Menge saudisch finanzierte, wahhabitische Moscheen und Koranschulen errichtet wurden. Das führt die dort vorherrschende muslimische Kultur weg von der Tradition des mystischen Sufismus hin zum radikalen, wahhabitischen Absolutismus, den Gruppen wie der „Islamische Staat“ zur logischen Vollendung gebracht haben. Saudi-Arabien exportiert nicht nur Öl, sondern auch religiösen Dogmatismus und produziert Dschihadisten, während es gleichzeitig versucht, sich vor den Auswirkungen seines eigenen Handelns zu schützen.

Der Wahhabismus ist ein im engeren Wortsinn totalitäres Glaubensbekenntnis. Nicht nur hält er alle anderen Glaubensrichtungen für illegitim, sondern er definiert auch buchstäblich alle, die nicht dazugehören, als „das Andere“. So ist die umfassendste Definition von „Ungläubigen“ entstanden, die es je gegeben hat – ein potenziell grenzenloser Freifahrtschein für den Dschihad.

Zwar wendet sich das Haus Saud politisch gegen das Kalifat des „Islamischen Staates“. Tatsächlich unterscheiden sich Dschihadisten und Wahhabiten aber kaum in ihrer Glaubenslehre. Die Schwarzhemden des „Islamischen Staates“ sind Wahhabiten auf Steroiden. Beide betrachten sich als Erben von Ibn Taymiyyah – einem Theologen des 13. Jahrhunderts, dessen Fanatismus ihm den gleichen Ruf kompromissloser Engstirnigkeit eingebracht hat wie Torquemada, dem Großinquisitor des 5. Jahrhunderts, die Bezeichnung „Hammer der Häretiker“ – und Ibn Abdel Wahhab, dem Urheber der sektiererischen saudischen Ausprägung des Islam. Als der „Islamische Staat“ im Februar den libanesischen Piloten Muaz al Kasaesbeh verbrannte, war es daher kein Zufall, dass in dem Video, das seine Ermordung zeigt, ein rechtfertigendes Zitat von Ibn Taymiyyah eingeblendet wurde.

Zum Schluss seiner Ramadan-Rede im vergangenen Jahr warnte König Abdullah vor dem „teuflischen“ Extremismus dieser „abweichenden Kräfte“. Der dschihadistische Extremismus sei eine Bedrohung für das Königreich. Betrachtet man die Glaubensüberzeugung des „Islamischen Staates“, ist schwer zu erkennen, worin er „abweicht“ von der wahhabitischen Orthodoxie mit ihrer buchstabengetreuen Auslegung des sunnitischen Islam. Unzufrieden sind die modernen Dschihadisten höchstens damit, dass das Haus Saud von der reinen Lehre abweicht: Das verdorbene Handeln des Königshauses passe nicht zu seinen wahhabitischen Worten.

Tatsächlich haben die Saudis in der Praxis stets versucht, beides zusammenzubringen. Der verstorbene König Fahd etwa, Abdullahs Vorgänger, hatte in seiner Jugend einen Ruf als Playboy und Spieler. Während seiner Herrschaft aber hat er nach offiziellen Angaben 1359 Moscheen im Ausland gebaut, außerdem 202 Colleges, 210 islamische Zentren und mehr als 2000 Schulen. Unter Abdullah, der asketischer und der Ökumene zugeneigt war, wurde die Verbreitung des Wahhabismus fortgesetzt. Der Bau von Moscheen wird vorangetrieben, wo immer sich Gläubige finden. Vor allem in Süd-, Zentral- und Südostasien, die Heimat von etwa einer Milliarde der weltweit 1,6 Milliarden Muslime.

Der IS - Gesinnungsgenosse und doch Gefahr
 

Alles deutet darauf hin, dass auch Abdullahs Nachfolger, König Salman, diese Tradition fortführen wird. In der Vergangenheit hat er bereits Stiftungen geleitet, die den Wahhabismus im Ausland verbreitet haben. Er hat offiziell seinen Segen dafür gegeben, Freiwillige sowohl in den von den USA unterstützten Dschihad gegen die Sowjets in Afghanistan einzuschleusen als auch muslimische Kräfte während des Krieges in Bosnien. Er hat Prinz Mohammed bin Nayef, den Sohn des früheren Innenministers – der ähnlich radikal ist wie sein Vater –, als Thronfolger erwählt. Und natürlich hat Salman seine Regentschaft mit einem 32-Milliarden-Dollar-Geschenk an das Volk eingeleitet.

Die Saudis mögen den „Islamischen Staat“ als Abweichler verurteilen, der das Haus Saud nicht nur stürzen, sondern ihm auch seine Rolle als Hüter der Pilgerstätten Mekka und Medina streitig machen will. Doch unter den Erstunterzeichnern eines offenen Briefes im vergangenen Herbst von führenden muslimischen Geistlichen aus aller Welt, die die Ideen des „Islamischen Staates“ auseinanderpflückten, waren keine wahhabitischen Gelehrten.

Überraschend ist das nicht, wenn man bedenkt, woher die Ideen des „Islamischen Staates“ kommen. Wie die Wahhabiten verachten auch sie die als „Ablehner“ (Rafidah) bezeichneten Schiiten; sie teilen eine Vorliebe für die Zerstörung heiliger Bilder und Stätten; ganz zu schweigen von der Praxis der Enthauptungen auf öffentlichen Plätzen an Freitagen.

Im vergangenen Jahr etwa forderte ein Staatsanwalt, Sheikh Nimr al Nimr, einen Prediger aus der vorwiegend schiitischen Ostprovinz des Landes, zum Tode durch Kreuzigung und Köpfung zu verurteilen – die blutige Charakteristik des „Islamischen Staates“. Das saudische Gericht entschied, der Mann solle durch das Schwert sterben. Bis heute wurde das Urteil allerdings nicht vollstreckt. Riad sah auch keinen Widerspruch darin, einen Botschafter zur Demonstration gegen die Attentate auf Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt nach Paris zu entsenden, während der liberale Blogger Raif Badawi öffentlich ausgepeitscht wurde. Er war zu 1000 Hieben und zehn Jahren Haft verurteilt worden, weil er das wahhabitische Establishment hinterfragt hatte.

Als der britische Thronfolger Prinz Charles im Februar zum Staatsbesuch bei König Salman in Riad eintraf, wurde am selben Tag ein Syrer hingerichtet, weil er Amphetamine geschmuggelt hatte. Laut Human Rights Watch war es die 28. Hinrichtung in diesem Jahr. Die Exekution ist Teil einer makabren Köpfungsorgie, die ihren Anfang im vergangenen Sommer nahm, als der „Islamische Staat“ begann, sich durch die Levante zu morden. Nichtsdestotrotz lobte sich Generalmajor Mansour al Turki, Sprecher des saudischen Innenministeriums, in einem NBC-Interview: „Wir haben gute Arbeit geleistet. Wir haben das öffentliche Bewusstsein für Al Qaida und den „Islamischen Staat“ geschärft und dafür, wie weit sie sich von der Religion des Islam entfernt haben.“

Extremismus mit Extremismus bekämpfen?
 

Der weltweite wahhabitische Moscheenbau war einst eine Antwort auf den Iran, der nach 1979 versuchte, seinen revolutionären schiitischen Radikalismus zu exportieren. Der Einmarsch in den Irak 2003, der Sturz von Saddam Husseins sunnitischem Minderheitenregime – der eine schiitische Mehrheit an die Macht brachte und ein religiöses Gemetzel entfesselte – und das Versagen des Westens, als es darum ging, den Aufstand der sunnitischen Mehrheit in Syrien zu unterstützen, haben die Wut der Sunniten genährt. Die vom Iran geführte schiitische Achse – von den schiitisch dominierten Provinzen des Irak bis zur Hisbollah im Libanon – hat diese Wut noch befeuert.

Es ist nicht klar, ob der saudische Staat Gruppen wie den „Islamischen Staat“ finanziert hat. Saudische Bürger tun es, angestachelt von einem Diskurs der Herrschenden, der die Überlegenheit der Sunniten beschwört und voller Angst ist, von religiösen Radikalen überholt zu werden. Bei einem Treffen mit US-Außenminister John Kerry im vergangenen Sommer soll einem anwesenden arabischen Sicherheitsbeamten zufolge Prinz Saud al Faisal, Saudi-Arabiens altgedienter Außenminister, gesagt haben: „Daesh (der arabische Begriff für den „Islamischen Staat“) ist unsere (sunnitische) Antwort auf Ihre Unterstützung für Da’wa (die schiitische Regierungspartei des Irak).“

Wirtschaftliche Macht hat Kritiker bisher verstummen lassen
 

Saudi-Arabiens Bedeutung als weltgrößter Exporteur von Öl, als wichtigster Käufer westlicher Waffen und als Gegengewicht zum Iran in der Golfregion hat das Land vor Kritik geschützt. Im heutigen Durcheinander im Nahen Osten – dem Fehlen von Staatlichkeit und Institutionen, dem Verlust eines gemeinsamen nationalen Narrativs in heterogenen Ländern wie Syrien und Irak und angesichts der Schwäche der vormals einflussreichen Großmächte – fehlt es an gemäßigter sunnitischer Führung.

Der mit Petrodollars befeuerte wahhabitische Absolutismus Saudi-Arabiens, der mit dem Petrodollar-Gottesstaat Iran konkurriert, hat den sunnitischen Raum regelrecht erstickt. Bis auf das Vakuum, in dem jetzt der „Islamische Staat“ sein – ebenfalls ölreiches – grenzübergreifendes Kalifat errichtet.

Frühere Generationen sunnitischer Araber haben sich zu panarabischen Nationalisten wie Gamal Abdel Nasser bekannt; sie waren angeschlagene Hüter einer Ideologie, die längst am Ende war. Die Katastrophe, vor der die Araber nun stehen, erfordert eine neue Generation sunnitischer Führer, die dem Extremismus im eigenen Lager etwas entgegensetzen kann. Die Saudis, deren Wahhabismus in der DNA von Gruppen wie dem „Islamischen Staat“ steckt, können das aber nicht überzeugend leisten.

Übersetzung: Luisa Seeling

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